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Von Köpfen in anderer Leute Denken.

Über Hannah Arendts angebliche Lektionen in Liebe und Ungehorsam

Von Wolfgang Bock

Falsche Vorkehrungen
Die britische Literaturwissenschaftlerin Lindsay Stonebridge beschäftigt sich auch mit politischer Theorie und Menschenrechten. Nach Büchern über die Psychoanalyse in England, die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und die Rolle der Flüchtlinge in der Welt legt sie nun ein hymnisches Buch über Hannah Arendt vor. Darin gibt sie ein intellektuelles Porträt Arendts, das deren Theorien über die Conditio humana, über Totalitarismus und Eichmann in einer persönlichen Weise wiedergibt. Diese Art zu schreiben, macht auch in der deutschen Übersetzung den Reiz des Buches aus: „In diesem Buch habe ich versucht, meine eigenen Gedanken an der Stelle von Hannah Arendt zu denken“, heißt es zu Beginn in der Vignette Ein Wort zu Einbildungskraft. Die Autorin schließt zwar vermeintlich einschränkend an: „Plausible Szenarien in ihrem Leben habe ich mir nur dann ausgemalt, wenn die verfügbaren Belege dies erlaubten.“ Das ist allerdings nur die rhetorische Form eines vorläufigen Innehaltens, bevor es dann mit noch größerem Elan weitergeht: „Trotz dieser Vorkehrungen könnte es im Folgenden aber auch Momente geben, in denen Hannah Arendt ihre Gedanken an meiner Stelle denkt.“ Mit anderen Worten: Es spricht.

Hannah everywhere
Diese Allegorie ist Stonebridges Credo und auf diese Weise liest sie auch die Texte von Arendt mit aktuellem Zeitbezug. So heißt es etwa:

»In den Monaten nach der Wahl von Donald Trump im Jahr 2016 schossen Hannah Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft auf den amerikanischen Amazon-Bestsellerlisten nach oben. Im ersten Jahr seiner Präsidentschaft steigerten sich die Verkaufszahlen des Buchs um insgesamt über 1000 Prozent. Im Internet kursierten immer mehr auf Tweet-Länge gebrachte Zitate aus ihren Schriften, und in der Presse erschienen auf einmal regelmäßig Kommentare, die sich um Arendt'sche Themen drehten. Eine Politik des Absurden und Grotesken, des Grausamen, Verlogenen und rundweg Irrsinnigen war zurückgekehrt, und sie hatte dazu offensichtlich etwas zu sagen.«

Das sagt vielleicht auch etwas über die Motive der Autorin.

Was tun wir eigentlich?
In zehn Kapiteln und einem Epilog schreibt Stonebridge in einer Weise identifiziert mit Arendt, die man mit der deutschen Literaturwissenschaftlerin Christa Bürger durchaus als weibliche Art des Schreibens bezeichnen könnte.[1] So macht Stonebridge Arendts Sache zu ihrer, zugleich gibt es bei ihr eine unverkennbare Tendenz zur Übertreibung des Verfahrens: Sie will ihre Texte als Stundenbücher lesen. Davon zeugt der Textgestus der einzelnen Kapitel, die wie existenzialistische Handlungsanweisungen geschrieben sind, in denen Denken, Leben und Handeln zusammenfallen sollen: „Nachdenken über das, was wir eigentlich tun“, „Wo fangen wir an?“ „Wie man denkt“, „Denken wie ein Flüchtling“, „Wie man liebt“, „Wie man über die Welt nachdenkt und wie nicht“, „Wie man nicht denkt“, „Was tun wir, wenn wir tätig sind?“, „Wie man die Welt verändert“, „Wer bin ich, dass ich richte?“ – und am Ende: „Was ist Freiheit?“

„Und das tat sie“ – Diskurse von Liebe und von Ungehorsam

Das sind nun allerdings Fragestellungen, die wir sehr gut auch in Pater Anselm Grüns Handreichungen oder Wilhelm Schmids Bücher über Glück, Liebe und Heimat finden können – auch Schmid hat einmal als kommentierender Biograph Michel Foucaults angefangen. Der Tonfall, der sich im ganzen Buch durchhält, ist ein ähnlicher. Stonebridge verknüpft dazu traditionelle mit rebellierenden Diskursen („Arendt lehrt, dass man dann, wenn man die Welt wirklich liebt [und das tat sie] auch den Mut aufbringen muss, sie zu schützen – d. h. ungehorsam sein muss.“)

Zwar ist Stonebridge kritisch, was Hannah Arendts umstrittenen Aufsatz über das Rassenproblem angeht, den sie sich im fünften Kapitel zur Brust nimmt.[2] Gegenüber den tragenden elitären Elementen, die ihr Vorbild von ihren Lehrern Karl Jaspers und Martin Heidegger übernimmt, aber bleibt sie milde. Dafür akzentuiert sie den hohen Ton weiter, wenn sie diese entsprechend zitiert: „Es steht uns frei, die Welt zu verändern und in ihr etwas Neues anzufangen.“

Die Heilige Hannah als verlorener Engel im Qualm der Hölle
Mit anderen Worten, Stonebridge schreibt eine moderne Hagiographie, also eine Heiligenlegende. Zu diesem Genre gehört das Preisen der Emanation ihrer äußeren Erscheinung. So heißt es über die Medienpräsenz ihrer Heldin:

»Die, die sie kannten, bestätigen, was das überlieferte Filmmaterial von ihren Interviews und Vorträgen so gut einfängt: Sie glänzte in der Öffentlichkeit und führte ihr Denken mit all der intensiven Virtuosität jener Shakespeare-Monologe vor, die sie so liebte. Elegante Hände mit langen Fingern umfassten sowohl ihr Kinn als auch ihre Zigarette, und der Rauch legte sich über ihr Gesicht wie eine Maske, durch die hindurch sie ihre Gedanken in einem tiefen, kehligen, akzentlastigen Englisch aussprach, jedes Wort dabei sorgfältig durchdacht. Eine Pause, ein Ausblasen des Rauchs, ein Blick nach oben, ein Lächeln, das mit dem Alter breiter wurde.«

Wer allerdings die Interviews mit Günter Gaus aus der Zeitzeugenreihe des Zweiten Deutschen Fernsehens kennt, erinnert sich auch an eine Frau, die Kette raucht, die Zähne beleckt und sagt: „Sehen Sie mich an, ich sehe anders aus, ich bin jüdisch!“ Ahrendts burschikose Art, die wahrscheinlich Resultat einer Überidentifikation mit dem männlichen Element des Denkens, dass auch in ihrer Eichmann-Analyse mit der Identifikation mit Martin Heidegger und dessen lebenslange Begeisterung für den Faschismus zu tun hat, kommt in Stonebridge Buch eher weniger vor. Dabei ahnt die Interpretin, dass in ihrer Kennzeichnung möglicherweise etwas fehlen könnte, allerdings auf Arendt übertragen:

»Während ich Arendt zusehe und zuhöre, beschleicht mich oft der Eindruck, dass es da etwas gibt, das sie nicht preisgibt — etwas Kostbares, Geheimnisvolles, vielleicht sogar ihr selbst nicht ganz Durchschaubares, das aber dennoch sehr präsent ist. «Ist aber nicht genau das der Punkt all dessen?», könnte sie nun fragen, ihr Kinn in die Hand gestützt, die zugleich ihre Zigarette hält, während sie da auf ihrem Platz in jener Bar in der Unterwelt hockt, wo sich in der Abenddämmerung die verlorenen Engel des vergangenen Jahrhunderts versammeln. Dass wir sogar für uns selbst unerkennbar sind, vielleicht gerade für uns selbst, und trotzdem zu kollektiven Wundern fähig? Ist es nicht das, wofür man heutzutage wieder kämpfen muss?«

Vom Selberdenken
Außenstehenden allerdings mag das Motiv nicht so rätselhaft bleiben. Denn: Wer Idole möchte, der sucht sich welche. So wird aus der deutschen Tiefenpsychologie Karen Horney, die das NS-Programm ihres Lehrers Harald Schultz-Hencke etwas milder in Amerika nachbetet und dabei wie dieser die Psychoanalyse um ihre Triebtheorie bringt, eine Aktivistin der LGBTQ-Bewegung.[3] Hannah Arendt transformiert sich unter dem projektiven Blick ihrer idealistischen Leserin, die sie zugleich neu schreiben will, zu einer heiligen Johanna der Flüchtlingsbewegung, die wie diese eigentlich nur zum Ziel hatte, sich ein neues Leben in Amerika aufzubauen. Dagegen kann Hannah sich posthum nicht mehr wehren. Nach Michel Foucault haben die Autoren, wenn ihre Texte einmal in die Welt gesetzt sind, nicht mehr mit deren Nachleben zu tun.[4] Vor einer christlichen Idiolatrie war Hannah Arendt selbst durch das jüdische Bildnisverbot geschützt, das offensichtlich nicht für unsere Autorin gilt. Sympathie und Engagement bilden durchaus einen berechtigten Pol des Denkens; wer aber in diesem Buch ebenso legitim nach Kritik und Trennschäfte an und bei Arendt sucht, sollte eher nicht dazu greifen. Allen anderen, die erfahren wollen, was die Lektüre Hannah Arendts zur heutigen Gefahr des Totalitarismus in den Worten von Lindsay Stonebridge beitragen kann, sei es durchaus ans Herz gelegt. Auch wenn Bertolt Brecht die Formel vom „Denken anderer Leute Köpfe“ erfunden hat, so gilt doch ohnehin prinzipiell in der Moderne, dass man immer selbst Denken muss, egal wessen Namen man dafür offiziell oder inoffiziell in Anspruch nehmen will.

[1] Vgl. Christa Bürger, Leben schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart: J.B. Metzler 1990.

[2] Vgl. Hannah Arendt, «Little Rock», in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. von Marie Luise Knott, Berlin 1986.

[4] Vgl. Michel Foucault, „Was ist ein Autor ?“ In: ders.: Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Fischer 1988. S. 7 – 31.

Artikel online seit 04.04.24
 

Lyndsey Stonebridge
Wir sind frei, die Welt zu verändern
Hannah Arendts Lektionen in Liebe und Ungehorsam.
Aus dem Englischen von Frank Lachmann.
C.H. Beck
351 S., mit 23 Abbildungen
26,00 €
978-3-406-81467-9

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