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Peter Trawny,
geb. 1964, studierte Philosophie in Bochum und promovierte an der Universität Wuppertal über Martin Heidegger. Nach der Habilitation lehrte er an Universitäten im In- und Ausland u.a. auch in China und gründete 2012 das Martin-Heidegger-Institut an der Bergischen Universität in Wuppertal, dessen Leitung er seitdem innehat. Er ist Mitherausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe und war insbesondere für die Edition der »Schwarzen Hefte« verantwortlich.




China und wir

Besuchsgedanken von Peter Trawny

2001 war ich zum ersten Mal in Peking. Die Nachwirkungen des Massakers waren noch zu spüren. Ein Mann, der am Tian’anmen Platz dabei war, schenkte mir nach meinem Vortrag über was auch immer die Gesammelten Werke des Dichters Haizi. Der hatte sich kurz vor dem um den Platz herum abspielenden Massaker auf die Schienen gelegt. Er war 25 Jahre alt. Dann war ich 2006 noch einmal dort, bevor ich 2008/2009 nach Shanghai zog, um an der ehrwürdigen Tongji-Universität zu arbeiten. Nun kehrte ich nach 15 Jahren wieder zurück, um Vorträge in Shanghai, Guangzhou und Peking zu halten.

Ich fand die wenigen Teile des Landes, die ich sah, stark entwickelt vor. Der erhebliche Straßenverkehr in Shanghai ist vollkommen elektrifiziert. Alles surrt ruhig in klarer Luft vor sich hin. In Pekinger Hotels und Restaurants habe ich zum ersten Mal überhaupt Bots mit freundlichen Smiley-Displays beim Co-worken beobachten dürfen. Die Infrastruktur insgesamt hat einen großen Sprung nach vorn gemacht. Freunde und Kollegen haben an Wohlstand zum Teil stark zugelegt. Die Qualität der Studenten ist wesentlich besser als damals. Sie sprechen Englisch und zuweilen auch Deutsch. Obwohl die Ökonomie an Dynamik verloren hat, ist sie noch stark. In Shanghai jedenfalls herrscht Aufbruch, mag sein, an anderen Orten nicht mehr.

Mit und nach der Pandemie hat die Partei die Öffentlichkeit mit verschiedenen Kontrolltechnologien überzogen. Myriaden von Kameras überall erwecken den Eindruck, dass sie im Grunde gar nicht alle funktionieren können. Man stelle sich diese Masse an Daten vor. Eine App wie WeChat, mit der man Alles machen kann — Bezahlen, Bestellen (auch in Restaurants), Fahrräder leihen, Dating (auch Popstars, wenn man reich genug ist) — ist genial wie bedenklich. (Im Grunde ist das Bargeld abgeschafft.) Überall hinterlässt man digitale Spuren. Nicht selten muss man beim Betreten von beliebigen Gebäuden und Einrichtungen seine Passnummer angeben. Der Besuch von Monumenten wie dem Mao-Mausoleum muss ohnehin Wochen vorher digital beantragt werden. Im Grunde kann die Partei immer wissen, wo Du bist. All das wird mit „Sicherheit“ begründet.

Die Zivilgesellschaft ist schwer zu durchschauen. Viele sind in der Partei, doch das wissen nur die Parteimitglieder selbst. Andererseits gibt es auch Fassaden, die eine größere Offenheit suggerieren. Dass man Vorteile durch die Parteimitgliedschaft hat, wird bezweifelt. Im Gegenteil meint man, sich zu opfern. Die kapitalistische Realität wird durch den Eindruck der kommunistischen Vergangenheit konterkariert, durch den Eindruck, alle zögen an einem welt- und lebensanschaulich (die Partei spricht wörtlich davon) geknüpften Strang. Doch auch dem wird widersprochen. Zugleich wird das Gegenteil verneint, dass man sich im westlichen Krieg aller gegen alle befände. Es wird also deutlich, dass sich die Leute nicht gern in die Karten schauen lassen. Und doch scheint mir unbezweifelbar zu sein, dass die Akademiker, die ich kenne, vom ökonomischen Erfolg des Landes profitiert haben und profitieren. Sicherheit ist vor allem ökonomische Sicherheit. Und das erzeugt — wie überall — Loyalität.

Aber — muss ich nicht wie bestimmte Politikerinnen am besten öffentlich auf die Menschenrechte pochen? Ist China keine Diktatur? Das aktuelle Regime wird selbst als schwierig empfunden; von den allermeisten jener überaus freundlichen Männer und Frauen, die ich traf. Doch wie gesagt, die Fassade ist wichtig — in jeder Hinsicht. Man kann davon ausgehen, dass eine gewisse Kritik an der Partei stillschweigend geduldet wird, weil ihre völlige Unterdrückung sich schlechter steuern ließe. Wenn sie, wie in einer Diskssion über einen Vortrag von mir über Arendts Soziologie, zu deutlich ausfällt, wird darauf geachtet, dass die Kritikerin nachher öffentlich feststellt, der Kommentar sei „ironisch“ gemeint gewesen; was er in der Tat auch war. Ein Kriterium ist besonders klar: Das durch evidente Regeln bestimmte Mitspielen bringt Vorteile — insbesondere ökonomische, ganz allgemein Sicherheitsvorteile. Je mehr man öffentlich übereinstimmt, desto sicherer darf mach sich fühlen.

In der westlichen demokratischen Gesellschaft ist das nicht anders. Es gibt zwar kein Einparteiensystem. Aber die Gesellschaft produziert systemische Spielregeln, die zu befolgen sind — oder man fällt weg. Das macht jene Prekären, die nicht fest im Sattel sitzen, permanent unsicher. Werde ich meine Stelle behalten, wenn ich den Vorstellungen meiner Chefin nicht entspreche? Werden meine Texte noch verlegt, wenn sie dem Markt nicht entgegenkommen? Werde ich genug Ausstellungen haben, wenn meine Kunst dem Galeristinnengeschmack widerspricht? Habe ich etwa an den falschen Stellen falsch gelacht, als der Dekan mit mir geredet hat? Ach, ich sollte verheiratet sein … Und überall wird einem signalisiert: „Es ist so schön, erfolgreich zu sein. Siehe mein geschmackvolles Kleid, in dem ich fotogen den Chinesen sage, was Sache ist“… Das erzeugt einen ängstlichen Dauerstress, der nicht selten zu psychischen Deformationen führt.

Und die Spielregeln erzeugen ebenso eine gigantische Hypokrisie. In einer Gesellschaft wie der westlichen, in der — anders als in China — die echte Subversion unmöglich geworden ist, scheinen sich die Philosophinnen einzubilden, streitbare, riskante Positionen einzunehmen. Das ist so komisch wie traurig. Nichts davon ist „streitbar“ oder „riskant“. Die in Ost und West selbstverständlich kybernetisch gesteuerte Gesellschaft (im Westen hat das die Pandemie genauso unverhohlen gezeigt wie im etwas groberen Osten) predigt: Das Schlimmste ist, etwas zu tun, das sich nicht rentiert, ein Buch zu schreiben, und es nicht zu verkaufen. Was nicht „funktioniert“, existiert eigentlich nicht. Sehr schlecht wäre daher, ein wirklich streitbares Buch über den Streit zu schreiben, denn es wäre wahrscheinlich dysfunktional. Das setzt ein prinzipielles Einverständnis voraus, wie es auch in China vorausgesetzt wird.

Vielleicht haben die ehemaligen Bewohner der DDR ähnliche Erfahrungen gemacht. Man ist selbst die angepassteste Intellektuelle aus dem Westen und mokiert sich über die „sozialistischen“ Spielregeln, wo man doch selbst nichts anderes tut, als ganz in den eigenen aufzugehen, um von ihnen Gewinn abzuziehen. Die westliche Gesellschaft ist so konform wie die chinesische. Jede Kritik, jeder Streit ist letztlich die Fassade, um sich in einem funktionierenden, darum banal gewordenen Leben durchzusetzen.  

Artikel online seit 02.10.24
 


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