Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik Impressum & Datenschutz |
|
Home Belletristik Literatur & Betrieb Krimi Biografien, Briefe & Tagebücher Politik Geschichte Philosophie |
|
|
|
|
China und wir
|
2001 war ich zum ersten Mal in Peking. Die Nachwirkungen des Massakers waren
noch zu spüren. Ein Mann, der am Tian’anmen Platz dabei war, schenkte mir nach
meinem Vortrag über was auch immer die Gesammelten Werke des Dichters Haizi. Der
hatte sich kurz vor dem um den Platz herum abspielenden Massaker auf die
Schienen gelegt. Er war 25 Jahre alt. Dann war ich 2006 noch einmal dort, bevor
ich 2008/2009 nach Shanghai zog, um an der ehrwürdigen
Tongji-Universität zu arbeiten. Nun kehrte ich nach 15 Jahren wieder zurück, um
Vorträge in Shanghai, Guangzhou und Peking zu halten.
Die Zivilgesellschaft ist schwer zu durchschauen. Viele sind in der Partei, doch das wissen nur die Parteimitglieder selbst. Andererseits gibt es auch Fassaden, die eine größere Offenheit suggerieren. Dass man Vorteile durch die Parteimitgliedschaft hat, wird bezweifelt. Im Gegenteil meint man, sich zu opfern. Die kapitalistische Realität wird durch den Eindruck der kommunistischen Vergangenheit konterkariert, durch den Eindruck, alle zögen an einem welt- und lebensanschaulich (die Partei spricht wörtlich davon) geknüpften Strang. Doch auch dem wird widersprochen. Zugleich wird das Gegenteil verneint, dass man sich im westlichen Krieg aller gegen alle befände. Es wird also deutlich, dass sich die Leute nicht gern in die Karten schauen lassen. Und doch scheint mir unbezweifelbar zu sein, dass die Akademiker, die ich kenne, vom ökonomischen Erfolg des Landes profitiert haben und profitieren. Sicherheit ist vor allem ökonomische Sicherheit. Und das erzeugt — wie überall — Loyalität. Aber — muss ich nicht wie bestimmte Politikerinnen am besten öffentlich auf die Menschenrechte pochen? Ist China keine Diktatur? Das aktuelle Regime wird selbst als schwierig empfunden; von den allermeisten jener überaus freundlichen Männer und Frauen, die ich traf. Doch wie gesagt, die Fassade ist wichtig — in jeder Hinsicht. Man kann davon ausgehen, dass eine gewisse Kritik an der Partei stillschweigend geduldet wird, weil ihre völlige Unterdrückung sich schlechter steuern ließe. Wenn sie, wie in einer Diskssion über einen Vortrag von mir über Arendts Soziologie, zu deutlich ausfällt, wird darauf geachtet, dass die Kritikerin nachher öffentlich feststellt, der Kommentar sei „ironisch“ gemeint gewesen; was er in der Tat auch war. Ein Kriterium ist besonders klar: Das durch evidente Regeln bestimmte Mitspielen bringt Vorteile — insbesondere ökonomische, ganz allgemein Sicherheitsvorteile. Je mehr man öffentlich übereinstimmt, desto sicherer darf mach sich fühlen. In der westlichen demokratischen Gesellschaft ist das nicht anders. Es gibt zwar kein Einparteiensystem. Aber die Gesellschaft produziert systemische Spielregeln, die zu befolgen sind — oder man fällt weg. Das macht jene Prekären, die nicht fest im Sattel sitzen, permanent unsicher. Werde ich meine Stelle behalten, wenn ich den Vorstellungen meiner Chefin nicht entspreche? Werden meine Texte noch verlegt, wenn sie dem Markt nicht entgegenkommen? Werde ich genug Ausstellungen haben, wenn meine Kunst dem Galeristinnengeschmack widerspricht? Habe ich etwa an den falschen Stellen falsch gelacht, als der Dekan mit mir geredet hat? Ach, ich sollte verheiratet sein … Und überall wird einem signalisiert: „Es ist so schön, erfolgreich zu sein. Siehe mein geschmackvolles Kleid, in dem ich fotogen den Chinesen sage, was Sache ist“… Das erzeugt einen ängstlichen Dauerstress, der nicht selten zu psychischen Deformationen führt. Und die Spielregeln erzeugen ebenso eine gigantische Hypokrisie. In einer Gesellschaft wie der westlichen, in der — anders als in China — die echte Subversion unmöglich geworden ist, scheinen sich die Philosophinnen einzubilden, streitbare, riskante Positionen einzunehmen. Das ist so komisch wie traurig. Nichts davon ist „streitbar“ oder „riskant“. Die in Ost und West selbstverständlich kybernetisch gesteuerte Gesellschaft (im Westen hat das die Pandemie genauso unverhohlen gezeigt wie im etwas groberen Osten) predigt: Das Schlimmste ist, etwas zu tun, das sich nicht rentiert, ein Buch zu schreiben, und es nicht zu verkaufen. Was nicht „funktioniert“, existiert eigentlich nicht. Sehr schlecht wäre daher, ein wirklich streitbares Buch über den Streit zu schreiben, denn es wäre wahrscheinlich dysfunktional. Das setzt ein prinzipielles Einverständnis voraus, wie es auch in China vorausgesetzt wird.
Vielleicht haben die ehemaligen Bewohner der DDR ähnliche Erfahrungen gemacht.
Man ist selbst die angepassteste Intellektuelle aus dem Westen und mokiert sich
über die „sozialistischen“ Spielregeln, wo man doch selbst nichts anderes tut,
als ganz in den eigenen aufzugehen, um von ihnen Gewinn abzuziehen. Die
westliche Gesellschaft ist so konform wie die chinesische. Jede Kritik, jeder
Streit ist letztlich die Fassade, um sich in einem funktionierenden, darum banal
gewordenen Leben durchzusetzen.
|
|
|
|