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Zeugenschaft & Ratlosigkeit
Navid Kermani ist nach Ostafrika gereist & denkt über sich
Von Wolfram Schütte |
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In dem jüngsten seiner Reisebücher begleiten wir Navid Kermani auf seinen Ostafrika-Reisen, die er zwischen 2022 & 2024 (einmal in Begleitung seiner 16jährigen Tochter) unternommen hat: nach Madagaskar, auf die Inselgruppe der Komoren, nach Mozambik, Tansania, Nairobi, Äthiopien & dem Südsudan. Der Titel des schön aufgemachten Buches mit detaillierten Landkarten zur geografischen Orientierung ist rätselhaft. Er lautet: »In die andere Richtung jetzt«. Der merkwürdige Satz steht am Ende der Evokation einer Straßenszene in der madegassischen Hauptstadt Antananarivo. Kermani beschreibt dort, wie er einer jungen Bettlerin mit Kind einen Geldschein gibt, sie »Merci« sagt & er »rasch weitergeht«. Nach einiger Zeit kommt er zurück, weil er in die falsche Richtung gegangen war. Als er an den beiden wieder vorbeikommt, sieht er, wie das Kleinkind den Geldschein einrollt, in eine Blechdose steckt, hervorholt, aufrollt & wieder einrollt & in die Dose zurücksteckt. »Vertieft in sein selbstvergessenes Spiel«, vertieft sich Kermani lächelnd in den Anblick des mit dem geschenkten Papiergeld spielenden Kindes – wie es auch die Mutter tut, »und schon treffen sich unsere Blicke. Wir lachen uns an, wirklich hörbar, wenn auch keine halbe Sekunde lang, wir lachen, weil wir das gleiche sehen, uns über das gleiche freuen, für eine viertel Sekunde entsteht eine Beziehung, obwohl wir auf zwei verschiedenen Planeten leben, und ihrer könnte unwirtlicher nicht sein. Vielleicht denken wir sogar das gleiche, nicht mal eine halbe Sekunde lang, denken bang, was für eine Zukunft dieses Kind wohl haben mag, wenn nicht zu betteln, zu schuften, früh zu sterben wie all die anderen Kinder auf den Straßen, und sind froh, dass es sich im Spiel vergißt. Rasch gehe ich weiter, in die andere Richtung jetzt.« Auch im Kontext gewinnt der Satz anscheinend nicht mehr Sinn – weil der Richtungswechsel des Europäers unabhängig ist von dem, was ihn für einen Moment zum Betrachten innehalten lässt. Was er sieht, ist unwillentlich von ihm ausgelöst, bzw. verursacht worden. Es ist der Geldschein, den er der bettelnden Mutter zugesteckt hatte - nachdem er zuvor bettelnden Straßenkindern nichts gegeben hatte, »weil sie… aber das ist ja auch Quatsch« fällt er sich selbst ins Wort. Mit »Quatsch« ist vermutlich die geläufige Selbstberuhigung gemeint: »Die Jungens sollten mal lieber zur Schule gehen, als mich anzubetteln« oder die naheliegende Unterstellung, die bettelnden Kinder seien von ihrem Zuhause oder einem Clan auf die Straße geschickt worden. Dabei weiß der erfahrene Reporter Kermani, dass dergleichen hier nicht der Fall ist. Was aber will uns der Autor mit dieser literarischen Momentaufnahme seines Erlebens in der Fremde (& seines Reflektierens darüber) vermitteln? Im Zentrum steht der Blickkontakt zwischen ihm & der Mutter. Für einen winzigen Augenblick stiftet das selbstvergessen spielende Kind zwischen den beiden einander Fremden ein harmonisches Glücksgefühl im Lachen, das (ist ihm wichtig zu erwähnen) »wirklich hörbar« ist, will sagen: intensiv & nicht nur ein lautloses Schmunzeln, das bloß ein jeweils individuelles Parallel-Verhalten wäre, während das jeweils laute Lachen die beiden akustisch gleichsam zum Paar vereint. Dadurch kann er die eigenen Folgerungen des gemeinsamen Glücksmoments auch als Gedanken der Mutter sich wünschen – obgleich ich eher darin das »wissende« Ohnmachtsdenken des Europäers sehe, der seiner Hilflosigkeit über die (kollektive) prekäre Zukunft des unschuldig spielenden Straßenkindes kurz bedenkt & dann rasch weiter geht, indem er die Richtung ändert, also seinen Orientierungs-Irrtum korrigiert, durch den er jedoch unverhofft zu einer epiphanischen menschlichen Erfahrung kam. Aber dass der Schriftsteller nicht nur weiter geht, sein Erlebnis nur ein kurzes Innehalten ist, wird noch dadurch unterstrichen, dass er in einer gleichlautenden Formulierung sich vom Ort des Geschehens entfernt; dass es »rasch« ist, könnte assoziativ sowohl »peinlich« als auch »fluchtartig« meinen. Soll hier nicht gar metaphorisch das prekäre Verhältnis von europäischem Reporter & exotischem Objekt anklingen? Es gibt neben vielen anderen erzählerischen Verdichtungen noch eine zweite Stelle im Buch, an der ein spielendes Kind im Autor gewissermaßen als Katalysator seiner Reflexion fungiert, die sein afrikanisches Erlebnis transzendiert & intensiviert. Bei den Nuba sah er ein zwei, drei Jahre altes »strohblondes« Mädchen »engelsgleichen Gesichts, (wie sich der Weiße eben Engel vorstellt) in einer Sandmulde mit tiefschwarzen Dorfkindern spielen, Kleidung und Gesicht staubig wie sie. Das war in seiner Normalität eine Überraschung, ja, fast ein Schock, also dass das geht, obwohl es natürlich gehen muß, wenn man Kindern nichts anderes beibringt«. Und er fährt in seiner überlegenden Betrachtung dieses Bildes fort: »Sicher, wenn das blonde Kind erkrankte, stünden ihm andere Behandlungsmöglichkeiten offen, seine Speisen werden nahrhafter sein, bestimmt hat es ein Bett, und seine Zukunft ist viel offener, allein dank des europäischen Passes, den es haben wird, Krankenkasse, Sozialversicherungen, so viele Möglichkeiten für den weiteren Lebensweg. Bestimmt wird das blonde Mädchen den Unterschied spüren, aber noch kennt es ihn nicht, soweit ich das beurteilen konnte, während ich ihm eine halbe oder dreiviertel Stunde aus den Augenwinkeln zusah, wie es mit den anderen, nur mich fremd anmutenden Kindern im Sand spielte«. (Alle Kursivierungen von mir.) Kermani schließt seine Betrachtung mit dem Zitat aus einem mosambikanischen Roman. In ihm erklärt die Großmutter ihrem Enkel: »Manche Leute behaupten, sie sähen keine Rasse. Das ist hübsch gesagt. Aber in der Welt von heute kann für Rassen blind sein auch bedeuten, dass man Rassismus nicht sieht.« Hier wird ein wiederkehrendes Grundthema von »In die andere Richtung jetzt« besonders pointiert: aus einer Beobachtung des Reisenden wird eine rückbezügliche Betrachtung, mit der der weiße Europäer & Schriftsteller sich als intellektuellen Touristen & seine Rolle als Nachfahre der Kolonisatoren überdenkt. Wo immer er auch hinkommt, Kolonialismus & Kapitalismus, aber auch der arabische Islamismus haben ihre verwüstenden Spuren hinterlassen. Ja strukturell wirkt der Kolonialismus fort: sei es, dass autochthone Eliten an die Stelle der ehemaligen europäischen Kolonialisten getreten sind & nun ihre Landsleute ausbeuten, bzw. durch Korruption einen Teil der UNO-Hilfsgüter für sich reklamieren, sei es dass das zur neuen Weltmacht aufgestiegene China »hilfreich« in Afrika Fuß fasst & damit neue ökonomisch-politische Abhängigkeiten kreiert, oder sei es, dass der aggressive wahhabitische Islam durch fundamentalistische Terrorgruppen oder schleichend durch die »fürsorgliche« Ausbildung junger Imame in Saudi Arabien den autochthonen Islam unterwandert. Kermanis Motiv, nach Ost-Afrika zu reisen, war ursprünglich die Nachricht, dass die UN die erste durch den Klimawandel erzeugte Hungersnot im Süden Madagaskars lokalisierte & niemand in Europa sich dafür interessierte – übrigens auch nicht später für die Serie von Artikeln, die der Afrika-Reisende in der »Zeit« über seine Ortsbesichtigungen, Gespräche, Diskussionen in ganz unterschiedlichen Regionen des Kontinents ausbreitete & die er nun hier versammelt hat. In Buchform dürfte ihnen nun wohl das gleiche Schicksal der Nichtbeachtung drohen. Und das, obwohl das Buch je nach der Region & dem Land & den persönlichen Interessen (Musik & Religion) des Autors seine Themen denkbar vielfältig darbietet & Kermanis sinnlich-emphatische Darstellungskraft eindrückliche Lebens-Bilder zu gestalten weiß, die einem Leser lange im Gedächtnis bleiben, so als ob man einen Dokumentarfilm gesehen habe. Kermani schreibt (wie) immer als Anteil nehmender Besucher, der seine afrikanischen Gesprächspartner wohl auch deshalb namentlich erwähnt, um seinen Dank & Respekt ihnen gegenüber zu annoncieren. Er hat sich zwar vor seinen Reisen durch zahlreiche Bücher informiert, ihm ist aber seine sinnliche Wahrnehmung im Gespräch mit Menschen vor Ort wichtiger. Als Augenzeuge & Fragender, der auch zugibt, wenn er die Verhältnisse nicht durchschaut, kann er mehr nicht dem miteisenden Leser bieten, will er wohl auch gar nicht (als Erzähler). Mir scheint, dass Navid Kermani die Sammlung seiner afrikanischen Reisen, die er in den letzten zwei Jahren – gewissermaßen im Schatten des Rushdie-Attentats & des Russland-Überfalls der Ukraine – zu einer ebenso globalen wie persönlichen Reflexion nutzt & derart sowohl sein journalistisch-literarisches Unternehmen als auch seine prekäre geistig-moralische Situierung in der gegenwärtigen Welt des afrikanischen Kontinents vielfältig zu beleuchten versucht.
Das Buch ist so
komponiert, dass der Autor die Reise- & Erfahrungsberichte von Madagaskar bis
zum Sudan (wobei manche deutschen Bezüglichkeiten angesprochen werden) umrahmt
mit stilisierten Tagebuch-Aufzeichnungen von der Hinreise & einem zweiten Besuch
mit der Tochter. Das intimisiert einerseits diese Reiseberichte, andererseits
kann er, besonders durch sein Protokoll der afrikanischen Fremdheitserfahrungen
seiner Tochter, eine weitere Perspektive auf die jüngste Gegenwart des Planeten
eröffnen: die einer jungen Europäerin der Friday-for-Future-Generation. |
Navid Kermani
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