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Kant für Kenner

Marcus Willascheks schwungvolle Immanuel Kant-Biographie
»Kant - Die Revolution des Denkens«

Von Peter Kern
 

Sein Geburtstag jährt sich im April zum dreihundertsten Mal, daher wird das interessierte Publikum gegenwärtig mit Zeitschriftenartikeln und Buchpublikationen überhäuft. Wer nach sachlichen, in Kants Philosophie liegenden Gründen sucht, die ein gesteigertes öffentliches Interesse rechtfertigen könnten, kommt in Verlegenheit. Der Philosoph des 18. Jahrhunderts und die öffentliche Debatte der Gegenwart haben keine gemeinsame Schnittmenge. Kant Die Revolution des Denkens heißt dieses Buch. Auf dem Schutzumschlag ist der Name ‚erhaben‘ gedruckt, ein terminus technicus für ein sonst nur bei der Verpackung teurer Parfums oder Spirituosen angewandtes Druckverfahren. Die Kantische Philosophie, ein hochwertiges Produkt, will uns der als Buchumschlag dienende Werbefolder sagen.

Das Wort von der Revolution spielt auf die sogenannte kopernikanische Wende der Philosophie an. Demnach richten sich die Gegenstände unserer Wahrnehmung nach der Beschaffenheit unserer Vernunft, und es verhält sich nicht umgekehrt, wie es dem gesunden Menschenverstand erscheint, der unser Wissen an den Dingen ausgerichtet glaubt. Wie diese an sich selbst beschaffen sind, bleibt uns ganz unbekannt. Wir begreifen die Gegenstände unserer Wahrnehmung, indem wir sie zeitlich und räumlich verorten. Raum und Zeit sind aber nur Formen unserer Vernunft, nicht den Objekten anhaftende Eigenschaften wie die Farbe Rot oder das Raue einer Oberfläche. Das Kausalgesetz, das uns veranlasst, jedes Naturding als verursacht zu denken, ist eine Manier unser begrifflichen Denkens, und wiederrum nicht der Objektwelt zuzurechnen. Soweit Kant.

Mit seiner Wende auf das Subjekt will er die von den englischen Empirikern geleugnete Allgemeingültigkeit der Naturgesetze retten. Im Subjekt untergebracht seien sie apriorisch, also immer geltend wie die Lehrsätze der euklidischen Geometrie. Leuchtet diese auf den Kopf gestellte, von der Erfahrung absehende Erkenntnistheorie ein, oder hat nicht der gesunde Menschenverstand recht? Sie leuchtet nicht ein, und spätestens Einsteins Relativitätstheorie zeigt, es ist vernunftwidrig, in Raum und Zeit bloß Formen zu sehen, die auf die Seite des Subjekts gehören. Sie sind Teile der vierdimensionalen Raumzeit.

Marcus Willaschek betet kein Kantbrevier herunter, wie dieses Zitat zeigt. Es gehört zu den Stärken des Buchs, Philosophie und Naturwissenschaft nicht als zwei völlig getrennte Kontinente anzusehen. Dem Autor ist zuzustimmen: Dem Kantischen Begriff der Menschenwürde, in der Kritik der praktischen Vernunft entfaltet, tut es keinen Abbruch, wenn das Vermögen des transzendentalen Ichs, in der Kritik der reinen Vernunft berechnet, deutlich geringer ausfällt.

Die Würde des anderen Menschen zu beachten, ihn nie nur als Mittel, sondern stets auch als Zweck zu behandeln, diese Maxime gilt immer. Wir sollen nach dem kategorischen Imperativ unser Leben einrichten, sagt Kant, und was wir sollen, können wir auch, denn wir sind nicht nur empirische, nach Neigung und Interessen handelnde Menschen, sondern wir sind auch der Selbstgesetzgebung, der Autonomie, fähig. Als sich den selbst gesetzten Regeln unterwerfende Subjekte betätigen wir unsere Freiheit. Wir entwinden uns der empirischen Welt und gehören der von Kant so genannten intelligiblen an, denn auch wir sind beides, bloße Erscheinung und Ding an sich. Um die Freiheit des Willens zu begründen, muss Kant auf das Ding an sich rekurrieren, das aber, wie gesehen, große Konstruktionsmängel hat. Es ist das zweite Verdienst dieses Buchs, solche Brüche nicht zu überspielen.

Und um das dritte gleich anzuführen: Es vermeidet den hohen, mit Fachterminologie einschüchternden, medizinmännischen Ton, den die heutigen als Philosophen durchgehenden Vielschreiber so gut beherrschen. Willaschek hat einen flüssigen Stil, und was er über Kants in Publikumszeitschriften veröffentlichte Beiträge schreibt, gilt auch für ihn: ein leichter, geistreicher Ton, voller Witz und mitunter sogar flapsig, dann, wenn‘s passt. So nennt er den von Kant kritisierten ontologischen Gottesbeweis zu schön, um wahr zu sein.

Nun ist die Menschenwürde ein ganz unwissenschaftlicher Begriff, und für die Maxime meines Handelns ist kein Beweis herbeizuschaffen, der es mit den Beweisen der physikalischen Wissenschaften aufnehmen kann. Der Begriff ist auch nicht gegen die analytischen Philosophie gesichert, der die Klarheit naturwissenschaftlicher Formeln als vorbildlich erscheint. Die analytischen, sprachpragmatischen Richtungen geben aber heutzutage an, wo es lang zu gehen hat. Das ist der Grund, warum es so anachronistisch erscheint, Kant zu ehren. Man ehrt ihn, wie man Franz Beckenbauer gerade geehrt hat: Eleganter Spieler, aber für den heutigen, schnellen Fußball, wo jeder jedem sofort auf den Füßen steht, ganz unbrauchbar.

Um die Verfassung republikanischer Staaten zu verteidigen, reicht Kant aber immer noch aus, sollte man meinen. Ihre Gesetze sind aus der Willensbildung jedes Einzelnen hervorgegangen, sie unterwerfen ihn also keinem fremden Willen. Und den zu haltenden Gesetzen entsprechen die jedem zukommenden Rechte; das ist das Prinzip einer demokratisch verfassten Gesellschaft. Was qualifiziert aber dazu, ein Jeder zu sein? Die AfD mehrt ihr politisches Kapital gerade immens, indem sie diese Frage aufwirft. Man muss hierher gehören, und die mit dem fremden Blut gehören nun mal nicht hierher, sagt die Partei der neuen Völkischen. Ihnen ist mit der Maxime des kategorischen Imperativs nicht beizukommen. Sie beuten den Widerspruch aus, in den auch eine demokratische Gesellschaft verwickelt ist. Ein Kriterium der Zugehörigkeit muss auch sie statuieren, und sie muss Nützlichkeitserwägungen anstellen, gerade wenn sie sich endlich als Einwanderungsland versteht. Ein Weltbürgerrecht soll nach Kant das exklusiv wirkende Staatsbürgerrecht ergänzen. Es umfasst das Asylrecht. Wer es geltend macht, darf nur abgewiesen werden, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann.

Willaschek nimmt, so zeigt das Zitat, den Kant für aktuelle politische Debatten in Anspruch. Er stellt uns einen im besten Sinne bürgerlichen Demokraten vor. Bürgerliche Demokratien haben ihre auf die Französische Revolution zurückgehende Vorgeschichte. Damit ihre Verfassungen und die Charta der Vereinten Nationen das Verbot von Sklaven-, Kinderarbeit und ethnischer Diskriminierung festhalten, brauchte es einmal die französische Politik der Straße und die deutsche Philosophie des Katheders. Kant, so erfahren wir, hat die Revolution von 1789 immer verteidigt, selbst an den vornehmsten Tafeln Königsbergs. Die Stadt ist im Übrigen kein Hintertupfingen gewesen, sondern neben Berlin die zweite Kapitale des preußischen Königreichs; auch dies entnehmen wir diesem Buch.

Mitunter feiert der Autor den Republikaner im Tonfall des Pastors. Dann heißt es zum Beispiel, dass Kants Primat der Praxis uns angesichts der vielfältigen politischen Bedrohungen unserer Tage Mut machen kann. Oder er beschwört Friede, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde…als Leitwerte unserer Gesellschaft. Dann klingt eine Steinmeier-Rhetorik an, die nicht kaschieren kann, dass es mit ‚unseren Werten‘ nicht weit her ist, wenn handfeste ökonomische Interessen befriedigt werden wollen. Wie die der Bekleidungsindustrie, die - Menschenrechte hin, Lieferkettengesetz her -  in Chinas Arbeitslagern gefertigte Klamotten importiert.

Willaschek spricht sich für fair gehandelte Kleidung aus; er spricht auch von der Not der Bewohner des globalen Südens; er wettert gegen Influencer, weil sie den jungen Leuten das Selbstdenken austreiben; er ist mit Kant fürs lebenslange Lernen und für einvernehmlichen Sex ist er auch. Gegen diesen Katalog kann niemand etwas haben; die gegen politische Korrektheit ätzen, favorisieren eine Welt, in der man noch weniger zu Hause wäre. Dennoch kommt dieser Katalog mit seinem Bezug auf den Kategorischen Imperativ arg wohlfeil daher. Beispiele sind der Gängelwagen der Urtheilskraft, hat Kant einmal geschrieben. Zur philosophischen Urteilskraft gehört, sich von historischer Erfahrung belehrt zu wissen. Menschen sind nicht nur Wesen aus krummem Holz, wie Kant geschrieben hat, sondern sie sind fähig, die Welt von Auschwitz erstehen zu lassen. Adorno hat den Kategorischen Imperativ so gefasst: Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.   

Man vermisst dieses Zitat in diesem Buch, das doch der Wirkungsgeschichte der Kantischen Philosophie ein ganzes Kapitel widmet. Die Autoren der Kritischen Theorie haben zu dieser Geschichte angeblich nichts beigetragen. (Außer den Titel ihres berühmten Buchs, den der Autor als Kapitelüberschrift zweckentfremdet: Die Aufklärung und ihre Dialektik. Es ist gerade Kant-Party-Time, muss man schlussfolgern, und Adorno hat als Partyschreck zu gelten.

„Du bist doch bloß sauer, weil deinem Heiligen Theodor nicht gehuldigt wird“, könnte der Autor dem Rezensenten entgegnen. Es wäre eine Ausflucht. Willaschek erspart sich eine Auseinandersetzung, die ihn veranlassen würde, seinen Kant sowohl kritischer, als auch verteidigungswürdiger zu sehen. Gegen die nachmetaphysische Philosophie nimmt er ihn ja gar nicht in Schutz. Mit Kants kritischen Schriften wäre gegen den Verzicht auf Metaphysik zu demonstrieren. Bei dieser Demonstration käme obigem Argument eine große Bedeutung zu. In den Naturgesetzen bloß eine Leistung des transzendentalen Subjekt zu sehen, die das Subjekt den Objekten vorschreibt, ohne die Gesetze als mit der Beschaffenheit der natürlichen Gegenstände vermittelt zu begreifen, ist nicht einsichtig. Den Naturdingen selbst kommt eine Ordnung zu; sie ist geradezu die Bedingung, damit wir Naturprozesse als von Gesetzen regiert erfassen können. Kant versteht unter Ontologie dagegen nur die von ihm analysierten Strukturen unserer Vernunft.

Dass die Naturgesetze und die Dinge an sich miteinander ganz unvermittelt seien, ist ein Idealismus, den die Kritische Theorie destruierte, indem sie sich der Aufgabe unterzog, das Erkenntnisvermögen der physikalischen Wissenschaft zu kritisieren. Dieses Kritikverfahren ähnelt der Kantischen Vernunftkritik und es ist das Lebenswerk von Karl Heinz Haag gewesen, nicht von Theodor W. Adorno. Indem Haag zeigt, dass die Ontologie der Natur kein Effekt eines transzendentalen Ichs und keine bloße Erscheinung sein kann, demonstriert er für den von Kant verworfenen sogenannten physiko-theologische Gottesbeweis. Ihn macht er in seinen beiden Büchern stark. (Der Fortschritt in der Philosophie und Metaphysik als Forderung einer rationalen Weltauffassung). Was Kant über Teleologie schreibt, stützt Haags subtile Argumentation.

Bei dem Autor des hier besprochenen Buchs kommt all dies nicht vor. Es ist ein Kant für den Schulgebrauch, einer ohne alle Schikanen. Dringend angebrachte Kritik, die über die zeitgeistige hinausgeht, die dem Kant, und zu Recht, seinen Rassismus unter die Nase reibt, unterbleibt. Im Senegal, schreibt er, hat es sehr schöne, artige, schwarzbraune Weiber mit langen Haaren. Das sind natürlich Sätze nach dem Geschmack der woken Alleszermalmer. Kant nannte in seinem Briefverkehr die Juden Vampyre der Gesellschaft. Mit der Humanität des Privatmanns war es wohl nicht weit her, während sich der Weltbürger einer grenzenlosen, noch die Tierwelt umfassenden Humanität verpflichtet wusste.

Marcus Willaschek hat ein schwungvolles Buch geschrieben. Vielleicht erobert es die Spitze im laufenden bibliophilen Kant-Wettbewerb. Wer wie er schreiben kann und das Zeug hat, seinen Lesern die schwer wiegende Substanz der Kantischen Philosophie nahe zu bringen, ohne ihn zu überfordern, wer mehr drauf hat, als eine weltweit florierende Sub-Disziplin der akademischen Philosophie um ein weiteres Produkt zu erweitern, wer nicht in Ehrfurcht vor den obersten Kant-Verstehern erstarrt, wer die Gleichgültigkeit des Bewusstseins gegen die metaphysischen Fragen beklagt, der muss sich zu seinem Buch die drei Kantischen Fragen gefallen lassen: Verschleuderst du deine Fähigkeiten, weil du einen Bestseller landen willst? Weil du dich nicht ins akademischen Abseits befördern willst? Oder weil du es in der Bundesliga der Kant-Spezialisten zum Spitzenreiter bringen willst?

Artikel online seit 30.01.24
 

Marcus Willaschek
Kant
Die Revolution des Denkens
C.H. Beck
430 S., mit 19 Abbildungen
28,00 €
978-3-406-80743-5

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