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Gesellschaftspanorama

Die deutsche Ausgabe von Andrea Giovenes
epochaler Pentalogie
»
Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero« in der kongenialen
Übersetzung von
Moshe Kahn hat mit »Der letzte Sansevero«
ihre Vollendung gefunden.

Von Lothar Struck

Mit Der letzte Sansevero liegt jetzt der fünfte und letzte Band der fiktiven Autobiographie des Giuliano di Sanservo des 1995 verstorbenen italienischen Autors Andrea Giovene vor. Es ist der Initiative des Übersetzers Moshe Kahn zu verdanken, dass dieses bemerkenswerte literarische Werk im Galiani Verlag wiederaufgelegt wurde.

Der fiktive Herzog Sansevero, 1903 geboren, Spross einer neapolitanischen Familie, wächst zusammen mit seinen Geschwistern in großbürgerlicher Atmosphäre auf. Eine Wand im Elternhaus zeigte den imposanten Stammbaum des Sansevero-Geschlechts, der bis ins 11. Jahrhundert zurückreichte. Bereits im ersten Band erinnert sich der Ich-Erzähler Giuliano rückwirkend an die kleinen Flecken und Abplatzungen am Stammbaum – sanfte Andeutung für den schleichenden Zerfall. Mit zehn Jahren endete Giulianos Kindheit (so der pathetische Befund) und er wird in eine Klosterschule verbracht. Unnahbarkeit und Kälte der Eltern bestimmen den Lebensweg des Jungen. Hinzu kommt, dass sich der Vater mit seinen Bauprojekten mutmaßlich verkalkuliert hatte. Irgendwann müssen die so stolz ausgestellten Antiquitäten verkauft werden; es droht der Bankrott. Einzig Onkel Gedeone, Staatsanwalt in Neapel, wird zum stetigen moralischen Anker, Ratgeber und Halt in Giulianos Leben.

Der letzte Band beginnt 1945 und endet mit dem letzten Eintrag Giulianos im September 1957, wenige Tage vor seinem Tod. In einem kurzen Anhang wird der Leser durch behördliche Briefe über einige offene Fragen aufgeklärt. So erfährt man, dass der sechs Jahre ältere Bruder Giulianos, Ferrante, kurz zuvor verstorben war. Da beide männlichen Nachkommen wie auch die Schwestern formal kinderlos blieben, ist die Familie nach 900 Jahren ausgestorben. Die Kinderlosigkeit wird im Laufe des Romans noch einmal befragt werden, freilich ohne endgültigen Befund.

Nach den Wirren des Krieges, die ausgiebig im vierten Band erzählt werden, kommt Giuliano wie fast immer eher zufällig in eine Position. Er wird Beamter in einem Ministerium und kümmert sich um die große Zahl der Kriegsflüchtlinge im Land. Die Behörde steht unter kommunistischer Ägide, was irgendwann zu Problemen führt, da Giuliano nicht Mitglied der Partei werden möchte. Hinzu kommt, dass seine Vorgesetzten die von ihm erfolgreich implementierten Maßnahmen für sich beanspruchen. Genau so plötzlich, wie dieses Ministerium entstand wurde es auch aufgelöst. Giuliano kehrt zum schon gebrechlichen Gedeone nach Neapel zurück und wird dort Redaktionsmitglied einer neu gegründeten Zeitung. Als im Mai 1949 der geliebte Onkel stirbt und der Herausgeber der Zeitung in den lokalen Politsumpf einzusinken droht, verlässt er Neapel, um in Guastalla so etwas wie seine Memoiren zu verfassen. Der Leser kann sich nun denken, dass er diese Memoiren in den ersten vier Bänden gelesen hat.

Da sich kein Verlag findet, gibt Giuliano 999 nummerierte Exemplare im Selbstverlag heraus und verschickt davon 750 an ihm bekannte Journalisten und Kulturmenschen – jeder erhält einen persönlichen Brief dazu. Die Reaktion ist ernüchternd. Nur einmal gibt es – in einer deutschen Zeitung .- eine ausführliche Rezension, ansonsten, wenn überhaupt, nur kurze Erwähnungen. Persönliche Antworten bleiben gänzlich aus. Derart desillusioniert verschickt er noch 400 Exemplare (sic!) kostenlos an Bibliotheken und vergisst das Buch dann. Es wird im weiteren Verlauf keine Rolle mehr spielen.

Dies und die eher erfolglosen Schwärmereien für die verheiratete, 23 Jahre jüngere Elisa, lassen ihn nach London fahren. Er hatte die Information erhalten, dass die Tochter seiner ehemaligen Liebschaft Mavì dort leben soll. Giuliano war damals 24 Jahre alt und in der Armee. Der Vorgang wird im zweiten Band ausführlich erzählt. Als die verheiratete Mavì schwanger wurde, zweifelte der Offiziersanwärter Giuliano seine mögliche Vaterschaft sofort an. Es gab einen Skandal, 40 Tage Haft wegen eines Duells nebst anschließender Demission Giulianos aus der Armee. Mehr als ein Vierteljahrhundert später fährt er mit einer gehörigen Portion Naivität in die Metropole, wohnt in Nunhead, zusammen mit dem Teppichhändler Jack und der greisen Eigentümerin Molly in einem kleinen Haus und irrt suchend durch London. Die Detektive, die er beauftragt hatte, zerschellen am britischen Ständesystem: Wenn jemand über den Verbleib von Penny, Mavìs Tochter, etwas weiß, dann eine ehemalige Gouvernante, die der jungen Exilantin eine neue Identität verschafft hatte, aber von Detektiven nicht einfach befragt werden kann. Aber immer wenn man meint, Giovene kommt nicht weiter, bemüht er den Zufall: Jack besorgt wie auch immer die Adresse der jungen, 26jährigen Frau. Mit einem Trick nähert sich Giuliano Clo Nelson, wie sich Penny nun nennt. Sie ist als Modezeichnerin und Mannequin tätig. Giuliano taucht nun in einen skurrilen Kosmos "ostentativer Oberflächlichkeit" und "spritziger Launenhaftigkeit" ein; mit Attitüden, die an die ungleich bekanntere Holly Golightly denken lassen.

Das London-Kapitel zeigt dann wieder die schriftstellerische Potenz Giovenes, die im sehr genauen, kammerspielhaften Erzählen von Nuancen menschlichen Handelns liegt. Giuliano beschließt, Penny nichts von der Liebschaft mit ihrer Mutter zu erzählen. Diese ist traumatisiert von ihrem Hass auf den Vater, der womöglich gar nicht ihr biologischer Vater ist, denn Giuliano ist mittlerweile überzeugt davon, dass er ihr Erzeuger ist. Problematisch wird die Lage, weil er dem Charme Pennys erliegt, die sich nicht zwischen zwei Verehrern entscheiden kann. Wobei sie weiß, das keiner der beiden infrage kommt: Crockett stammt aus aristokratischem Haus und wird rasch in entsprechend gesellschaftliche Gefilde einheiraten. Und Jeremy ist so etwas wie ein Autist; er himmelt Penny zwar an, kann aber mit ihrem Lebensstil und Umgangsformen nichts anfangen. Penny alias Clo Nelson beginnt, sich schließlich für Giuliano zu interessieren. Die Interaktionen zwischen den vier Protagonisten werden meisterhaft erzählt.

Die ihm durch die Detektive zugetragene Information, dass Clo alias Penny demnächst durch den Tod ihres verhassten Vaters eine große Erbschaft machen wird und seine pekuniäre Zuwendung nicht mehr benötigt, veranlassen Giuliano zu einem geordneten Rückzug. Es verschlägt ihn im Frühjahr 1955 in den fiktiven Ort Kalonerò di Sicilia, einem Dorf mit 200 Seelen, schwer erreichbar, im Sommer glühend heiß. Vieles erinnert ihn an den Paradiesort Licudi und seinem Haus der Häuser, der das Zentrum des dritten Bandes der Autobiographie darstellt (es sind vor allem die Jahre 1934 bis 1938), Giovenes Meisterstück. Dominiert wird der ärmliche Ort von der Kirche und einem Kloster, in dem fünf Nonnen leben (bis auf eine nur ältere Frauen), eine "abgemagerte Seelenherde", wie der Erzähler spöttisch schreibt, die niemand im Dorf jemals gesehen hat. Der Priester wird Don Giovanni genannt und übt sich seit dreißig Jahren in der täglichen Abnahme der Beichte der Nonnen. Giuliano lebt anfangs in einem Haus ohne Möbel, in der eine 80jährige Hilfe kocht und gelegentlich sauber macht. Nacheinander bieten die Dorfbewohner ihm Einrichtungsgegenstände an und erwarten im Gegensatz dazu Wohltätigkeiten. Wie schon in Licudi wird er zu einer Art Mäzen.

Koordiniert wird dies auf geheimnisvolle Weise von Akiròpita, der zehnjährigen Nichte des Dorfschmieds, die Giuliano zu Beginn eine Truhe mit Roßhaar schenkt, ein Erbe ihres verstorbenen Vaters. Wer die Hauptfigur kennt, ahnt, dass er wieder einmal vom Körper und der Frische des Mädchens fasziniert ist. Sie erinnert ihn an Arrichetta, dem Mädchen aus Licudi, für ihn Sinnbild verbotener und damit unerfüllter Liebe.

Giuliano ist zu diesem Zeitpunkt erst 52 Jahre alt, aber er fühlt sich wie ein Greis. Sein Leben besteht, so die Empfindung, nur noch aus "Zeit und Stille". Aber er legt sich noch eine Aufgabe zurecht, die merkwürdigerweise etwas mit dem Priester dieses Dorfes und der Dominanz der Kirche als Institution zu tun hat. Immer schon war sein Verhältnis zur Religion ambivalent. In der Kriegsgefangenschaft verfasste er aus dem Kopf eine Abhandlung zur "Geschichte der Esther" und schrieb über Jesus als Dichter (beide Texte gingen in den Wirren verloren). Im Alter will er die Religion von der Wissenschaftlichkeit befreien und rückt sie in die "Sphäre der Intuition". Deutlich ist seine Ablehnung gegenüber dem Machtanspruch der Institution Kirche. Und so reibt er sich an und mit Don Giovanni. Die spröden Dialoge mit dem Priester über den Teufel und die ausbleibende Erlösung erinnern zeitweise an den Landpfarrer des großen Georges Bernanos. Eine seltsame Spannung liegt in der Luft, die dieses Sizilien-Kapitel besonders macht.

Aber es endet drastisch mit einem biblischen Unwetter im September 1957, das die jahrhundertelange Ordnung des Dorfes auflöst. Über die mutmaßlichen Folgen wird der Leser in den im Nachtrag abgedruckten Briefen Dritter informiert; einiges bleibt allerdings Mutmaßung. Der letzte Eintrag in Giulianos Tagebuch lautet: "Ich habe gesündigt". Vermutlich jedoch mehr formelhafte Wendung als Versuch, im letzten Moment zu Gott zu konvertieren.

Natürlich sind viele Stellen in diesen Romanen über eine ausgedachte Figur autobiographisch grundiert. Es beginnt mit Giovenes Abstammung, den Lebenswegen, die nicht immer nur erfunden sind, dem Versuch, mit 999 Exemplaren sein Romanprojekt im Selbstverlag zu verwirklichen. Für das Verständnis dieses Buches sind diese (und andere) Parallelen eher unerheblich, wenn man nicht gerade ein Literaturwissenschaftler ist. Giovenes Pentalogie, die zwischen 1966 und 1970 in Italien erschienen war, wird vielfach in einem Atemzug mit Prousts Recherche oder Lampedusas Leopard genannt. Es wird das Ende nicht nur einer Familie, sondern einer ganzen Epoche aufgezeigt. Zwar sieht sich Giuliano am Ende "gesättigt mit Vergangenheit, von der Existenz getrieben" und auf den Tod wartend, aber er hütet sich vor Alters-Sentimentalitäten (die gab es allenfalls in einem schwachen Moment in den Kriegswirren im Band zuvor, als er postuliert, drei Mal sein Leben "vergeudet" zu haben), nachträglichem Groll oder hadert mit dem Zeitgeist. Er erkennt im Zerfall seines Geschlechts eine biologische Realität im Lauf der Weltendinge.

Giovene hat mit seinem Giuliano di Sansevero eine Figur erschaffen, die den Leser zunächst nur schwer einnimmt. Er ist wenig sympathisch, bleibt spröde und sperrig, entwickelt früh einen großen Freiheitsdrang und pflegt zuweilen eine aristokratische Attitüde, die sich verstärkt, als er das Erbe des Großvaters antritt, der ihn überraschenderweise präferierte. Mit Anfang 30 hatte er formal finanziell ausgesorgt. Stets war Giuliano darauf bedacht, sich von äußeren Einflüssen autark zu machen und eine eigene Gedankenwelt zu errichten. »Du bist nicht geschaffen, dich auf andere einzulassen«, sagte ihm einst der geliebte Onkel.

Kann er Entwicklungen nicht durch Flucht entkommen, so trat sein Pragmatismus in Kraft. Er zog in den Krieg widerwillig ein, übernahm als Leutnant bzw. Hauptmann administrative Aufgaben im Hinterland. Als er eine Einheit in Griechenland befehligte gelang es ihm, die lokalen Honoratioren einzubinden. Die Bombardierung seiner Heimatstadt Neapel durch die Alliierten hielt er ebenso wie die Flächenbombardements auf Deutschland für ein Verbrechen.

Politisch legte er sich nicht fest. Mit dem Mussolini-Faschismus konnte er nichts anfangen und beobachtete mit Unverständnis die Anfangsbegeisterung des Bürgertums. Er ahnte, dass sich grundlegend in der italienischen Gesellschaft nichts ändern würde. Aber auch den Kommunismus lehnte er ab. Als das Land 1946 darüber abstimmte, eine Monarchie zu bleiben oder eine Republik zu werden, ging er nicht zur Wahl und konstatierte trocken das Nord-Süd-Gefälle (der Süden stimmte mehrheitlich für die Monarchie; der Norden republikanisch).

Fast tragisch könnte man sein Verhältnis zu Frauen nennen. Die großen Lieben starben oder entschieden sich für einen anderen (und wurden dann, sofern man dies später erfährt, unglücklich). Unleugbar sein Hang zur Nymphophilie, mit der er rang, weil sie ihm unheimlich war.

Immer wieder versuchte Giuliano, als Schriftsteller zu reüssieren, was nie gelang. Wer will, kann hier eine leichte Verbitterung des Autors Giovene herauslesen, der sich wohl verkannt sah. Tatsächlich entsprach der Schreibstil dieser Romane Ende der 1960er Jahre nicht dem damals dominierenden Zeitgeist. Die wenigen, die den literarischen Wert erkannten, sahen sich als Reaktionäre verunglimpft. Der Galiani-Verlag hat alles getan, um dieses literarische Kunstwerk kongenial zu präsentieren. Da sind die wunderbar-stimmigen Cover nach Gemälden von Felice Casorati. Passend auch die Anmerkungen, die beispielsweise historische Bezüge im italienischen Kontext kurz erläutern. Moshe Kahns Übersetzung dürfte kongenial zu Giovenes Duktus sein. Ein Epos, auf das man sich einlassen muss und am Ende reich belohnt wird.

Artikel online seit 15.01.24
 

Andrea Giovene
Der letzte Sansevero
Die Autobiographie des Giuliano di Sansevero, Band 5
Übersetzt von Moshe Kahn
Galiani Berlin
336 Seiten
26,00 €
978-3-86971-269-7

 

 


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