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Unglücklich kommunizierende Röhren

Aporien einer revidierten Psychoanalyse. Zu Dagmar Herzogs
»Cold War Freud«


Von Wolfgang Bock
Dieses ist die neue Welt
Dagmar Herzog untersucht die Psychoanalyse als eine heterogene Kultur- und Gesellschaftstheorie. Für sie ist sie das Kind einer politischen Welt, in der es aufwächst und sich mit dieser wandelt.[1] Diese Selbstständigkeit macht das Buch, das sich hauptsächlich auf eine US-amerikanische Debatte stützt, sympathisch gegenüber den verknöcherten Rückzugsgefechten auf dem alten Kontinent Europa, insbesondere in Deutschland. Dort werden immer noch die Tatsachen einer „Arisierung“ der Analyse im Dritten Reich (als profitable feindliche Übernahme) und die Beteiligung der NS-Psychologen am Terror- und Ausleseapparat der Deutschen Arbeitsfront (angesichts der bruchlosen Weiterbeschäftigung nach 1945) tendenziell verharmlost und geleugnet.[2] Wie heißt es dagegen doch schon bei Heinrich Heine (im Präludium zu seinem Gedicht „Vizlipuzli“): „Dieses ist Amerika! / Dieses ist die neue Welt! […] keiner / Ist blasiert und keiner hat / In dem Rückgratmark die Schwindsucht!“ Allerdings gibt es in Amerika auch Traditionen wie die Sklaverei, die Indianerkriege und den religiösen Fundamentalismus (worauf Heine in dem Gedicht „Das Sklavenschiff“ hinweist). So baut auch Frau Herzog ihren heroischen politischen Blick auf einem vorurteilsvollen Feindbild auf. Ihre Heldin ist die deutsche Neo-Analytikerin Karen Horney (1885-1953), die sich in den USA 1931 offiziell von Freuds Triebkonzept verabschiedet und es als normativ zurückweist. Heute wird sie daher zur Galionsfigur der LGBTQ+-Bewegungen erkoren. Dabei spielt es keine Rolle, aus welcher politischen Ecke sie kommt.[3] Wichtig scheint nur zu sein, dass unter solchem Blickwinkel nun umgekehrt die (jüdischen) Psychoanalytiker in Amerika zwischen 1940 und 1960 durchweg als konservativ und mit dem McCarthyismus sowie dem religiösen Backslash nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden erscheinen. Wie bei kommunizierenden Röhren soll dabei das subversive Potenzial der Psychoanalyse absteigen, während die institutionalisierte Form zunimmt. Dieses Resultat entstammt, bei aller versuchter Differenzierung, einem geschlossenen homogenen Weltbild – oder auch einem unproduktiven Missverständnis. Sicherlich ist eine Kritik am Realitätsbegriff Freuds angebracht, der tendenziell von einer universellen Arbeitsfähigkeit ausgeht. Dass Sigmund Freud und Sandor Ferenczi – die mit ihren Genitaltheorien generell an der Bedeutung der Sexualität festhalten – und ihre Schülerinnen und Schüler gegenüber Horney und Fromm von Herzog unisono zu politischen Fortschrittsverweigerern erklärt werden, ist grotesk.[4]

Das große Freud-bashing gegen eine sexnormierende Psychoanalyse?
Herzogs Buch gliedert sich in drei Teile mit je zwei Unterkapiteln. Im ersten Teil mit dem Titel „Die Libidokriege“ gemahnt an ein Star-Wars-Prequel. Hier verteidigt Herzog zunächst Karen Horneys Kritik an der Freud'schen Libido aus der Sicht einer amerikanischen feministischen Perspektive. In dem Kapitel mit dem schönen Titel geht sie allerdings nicht auf den Hintergrund der Entsexualisierung der Psychoanalyse als „Neoanalyse“ ein. Das passe auch nicht recht, denn diese sei das Resultat der Schaffung eines „deutschen Unbewussten“ ohne Sexualität aus der Nazizeit. Herzog versucht dagegen einen späteren US-amerikanischen Kontext als ursächlichen darzustellen. Darin sei es um einen zeittypischen Trend einer Synthese von Psychoanalyse und Religion als Entsexualisierung der Psychoanalyse gegangen. Dafür führt sie Diskussionen zwischen Psychiatern, Rabis und katholischen Priestern in den 1940er und 50er Jahre in den USA an.[5] In ihrem zweiten Kapitel will die Autorin weiter zeigen, dass diese normative Verbindung von Homophobie und Psychoanalyse erst mit dem Aufkommen der Kinsey-Reporte und der behavioristischen Studien von Masters & Johnson unterbrochen wurde. Die Analytiker sollen erst von der Schwulen- und Lesbenbewegung dazu genötigt worden sein, ihre Vorurteile abzulegen und schwule Analytiker zuzulassen – als wenn nicht Freud und Ferenczi bereits zu ihrer Zeit entsprechende Forderungen erhoben hätten.

Im dritten Kapitel verfolgt Herzog dann zunächst die Aufnahme der posttraumatischen Entwicklungsstörungen (PTBS) in der Folge von Terror in das internationale Krankheitsregister (DSM 1980 III). Letztendlich habe erst die Anerkennung der traumatisierten US-Soldaten im Vietnamkrieg 1980 dazu geführt, dass das Syndrom Eingang in die Liste gefunden hätte. Im vierten Kapitel beschäftigt sich Frau Herzog mit der Debatte über Aggression in den sechziger Jahren in Westdeutschland. Sie bezieht sich auf Konrad Lorenz‘ Buch, Das sogenannte Böse von 1963. Er soll das Gift zurückgebracht haben: „Es war Lorenz, der mehr als jeder andere dazu beitrug, Freud in das nationale Gespräch über Aggression einzuführen.“ (S. 157) Es dauert bis zum Ende des Kapitels, bis Herzog schließlich rapportiert, dass Konrad Lorenz NSDAP-Parteimitglied war und harsche eugenische Schriften verfasst hatte, von denen er sich auch nach dem Empfang des Nobelpreises 1973 nicht lossagen wollte. Als „Ironie der Ironie“ liegt Ihre Quintessenz vielmehr darin, dass ein Ex Nazi, dem es durch eine komplexe Reihe von Umständen gelungen war, dasjenige Gespräch zu provozieren, das die Psychoanalyse ursprünglich ins postnationalsozialistische Deutschland zurückbrachte. (S. 183)

Dass hinter der Auseinandersetzung um den Todestrieb bei Lorenz und vor allem bei Mitscherlich eine anthropologische Interpretation steht, die unter anderem auf Max Horkheimers Aufsatz „Egoismus und Freiheitsbewegung“ von 1936 zurückgeht, wird auf diese Weise nicht klar. Horkheimer hatte sich dafür, wie auch für die Kritik an Fromm und Horney, das Plazet seines Lehranalytikers Karl Landauer geholt. Dieser war ebenfalls ein Gegner des Freud'schen Todestriebs, er sah aber auch in dessen Repräsentanz eine Metapher für die reale Gewalt der Welt. Ähnlich war auch die Produktion der Leiche das Leben in Walter Benjamins richtungsweisender Arbeit über den Ursprung des deutschen Trauerspiels, die für Adorno zur Bibel wurde. In beiden Texten wurde der Todestrieb auf eine dialektische Weise verteidigt: Anzeichen einer Entwicklung, die auf anthropologischem Wege zu einer anderen organischen Verdrängung führen konnte. Das alles bleibt bei Dagmar Herzog unberücksichtigt. Ein Eindringen in die Tiefe der entsprechenden Diskurse wird durch die Frontstellung ihrer neoanalytischen Zugänge zur Psychoanalyse verstellt.[6]

Das fünfte Kapitel diskutiert Guattari/Deleuzes lebensphilosophisches Buch Anti-Ödipus von 1980. Dabei handele es sich nicht allein um einen Angriff auf die Psychoanalyse, sondern es sei zugleich auch ein psychoanalytischer Text, der am Wendepunkt des kalten Krieges geschrieben wurde. Was Frau Herzog aber nicht davon abhält, erneut die Psychoanalyse generell anzugreifen, indem sie wie gehabt den Analytikern mangelndes Politikbewusstsein vorwirft. Von einer umgekehrten Kritik Herzogs an dem solipsistischen und jazzigen Ansatz des Anti-Ödipus liest man allerdings nichts. Heroische Töne werden auch im sechsten und letzten Kapitel angeschlagen. Darin geht es um die ethnopsychoanalytischen Arbeiten von Paul Parin, Goldy Parin-Matthèy und Fritz Morgentaler. Letzterer wurde dann als Psychoanalytiker zur Ikone der Schwulenbewegung, der die Perversion rettet und sich selbst zu seinem homosexuellen Begehren bekennt. Frau Herzog erwähnt dagegen nicht, was man weiß, wenn man die Studien von Parin und Co. gelesen hat: dass die drei erwähnten Neugötter weiter wichtige Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) sind und sie vor allem sowohl an Freuds Triebkonzept als auch am Ödipus-Komplex festhalten, den sie gerade durch ihren Gang in verschiedene Kulturen verifizieren wollen. Bei Herzog heißt es dagegen nur in einem verdeckten rhizomatischen Verweis:

»Neben ihrem radikal-universalistischen Humanismus und ihrer Überzeugung, dass die Kritik der „Kulturheuchelei“ (wie Parin es in einem Zitat von Freud ausdrückte) obligatorisch für die Psychoanalyse und ihr inhärent sei – oder zumindest sein sollte – zeichnen sich die Schriften Morgenthalers und der Parins durch eben diesen aufbegehrenden Befreiungsimpuls aus, den sie alle drei auf Freud selbst zurückführen.« (S. 259)

Wie der zuvor geschasste Freud hier doch wieder bedeutend ins Spiel kommt, erläutert sie nicht.

Am I, what I am? Der präguerriale Freud
Bei Dagmar Herzog finden wir so die eigentümliche Konstellation, dass sie eine Form von Sexualtheorie unterstützt, die sie (neben einer Deleuzianischen Lebensphilosophie) hauptsächlich aus Karen Horneys neoanalytischer Abkehr der Freud'schen Vorgaben beziehen will. Diese will sie als das produktive Beispiel einer Politisierung des Ödipuskomplexes ansehen, auf das sie in ihrem Buch immer wieder zurückkommt: Bei Horney werde die Theorie von der Orthodoxie der Triebtheorie Freuds befreit (auch von dessen Scheuklappenblick auf die kindliche Vergangenheit) hin zu einer handlungsorientierten Perspektive auf Aktualneurosen und die sich wandelnden soziologischen und politischen Zusammenhänge hinter den Kategorien. Horney ist gleich zu Beginn ihre große Heldin und Vorkämpferin für eine neue Sexualität der Weiblichkeit und der Selbstdefinitionen der Homosexuellen- und Lesbenbewegung.

Leider kommt es Frau Herzog nicht in den Sinn, dass es sich darin auch um einen ambivalenten Politikbegriff handeln könnte. Dieser arbeitet zwar einem Aktionismus zu, er verstellt aber zugleich den selbstkritischen Blick auf langfristige Veränderungen. In der marxistischen Literatur, aber auch im Zusammenhang mit dem autoritären Charakter, findet sich dieses Verhältnis als Unterscheidung von Rebellion und Revolution. So ist Herzog ebenso wenig gefeit gegen repressive Strömungen innerhalb der linken Bewegung wie gegen faschistische Tendenzen (wie wir sie gegenwärtig auch im heroischen Umgang mit Wilhelm Reich erleben).[7] Denn ihre Heroine, die nichtjüdische Analytikerin Karen Horney, die 1931 aus privaten Gründen nach Chicago kommt, ist weniger von den Verhältnissen dort geprägt. Sie ist vielmehr bereits vorher eine Anhängerin der Neoanalyse des NS-Psychologen Harald Schultz-Hencke, der bereits seit 1927 gerade das Unbewusste und als Anhänger der männlichen Jugendbewegung nach Hans Blüher die Sexualität offiziell vernachlässigen will. Er wird von Freud relegiert und kehrt erst mit der Machtübernahme der Nazis auf einen hohen Posten im Göring-Institut zurück. Vor dem Hintergrund seiner und C. G. Jungs Unterteilung eines „jüdischen Unbewussten“ (mit Sexualität) und eines „arischen Unbewussten“ (ohne Sexualität, dafür aber mit Besetzungswillen und viel Angst) arbeitet ihr Lehrer in Deutschland im Göring-Institut der Segregation der unnützen Menschen in die Lager, der Vernichtung in der Euthanasie und der Zwangssterilisation zu. Einschlägig ist sein Buch Der gehemmte Mensch von 1940, mit dem reichsweit nach untüchtigen Volksschädlingen gefahndet werden konnte. Horney fährt noch 1936 nach Berlin und hält dort einen gefeierten Vortrag über „Das neurotische Liebesbedürfnis“ als Kapitel aus dem Buch Der neurotische Mensch unserer Zeit, das Herzog hoch lobt. Den Text druckt Matthias Heinrich Göring 1937 in seinem Zentralblatt für Psychotherapie dankbar ab. Weiss er damit doch, dass die arisierte Psychotherapie nunmehr Weltgeltung erhalten hat.[8] Dieses Versprechen löst nunmehr Dagmar Herzog ein. Mit anderen Worten, Karin Horney, die die Sexual- und Psychoanalysehistorikerin Dagmar Herzog sich zu ihrer Leitfigur gekürt hat, wird gewollt oder ungewollt zur Parteigängerin der Nazis, weil sie deren rassistische Denunziationen von Freud und seinem Triebmodell in einem arischen Gegenentwurf teilt.[9] Der Begriff von politischer Aktion, auf den Herzog sich hier berufen will, ist von demjenigen der Nazis nicht zu trennen.

Politik und Anthropologie

Gegen eine solche Idee von Politik gilt es also Einspruch zu erheben. Die Geschichte der Psychoanalyse hat gezeigt, dass trotz ihres schlechten Rufes Freuds Triebkonstruktion dagegen einige Vorteile bietet. Denn allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die subjektivistischen und nominalistischen Selbstkonzepte der Schwulen- und Lesbenbewegungen („I am what I am“) umgekehrt nicht ohne Grund auch von der Psychoanalyse aus kritisiert werden können. Das zeigt unter anderem auch Christoph Türcke.[10] Hier herrscht eine Dialektik vor, deren Ausmaß Dagmar Herzog nicht überblickt. Bereits Max Horkheimer, auf den Adornos und Marcuses Kritik an Fromm und Horney als „Revisionisten der Psychoanalyse“ zurückgeht, vertrat entschieden die Meinung, dass umgekehrt der Charakter der Menschen in einer permanent wechselnden Konsumwelt eine Gegenkraft darstellen kann.

»Auch erhält die Psychologie in der Gegenwart noch eine besondere Bedeutung, die freilich flüchtig sein mag. Mit der Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung können nämlich die Änderungen der menschlichen Reaktionsweisen, die unmittelbar durch die Wirtschaft bedingt sind, d. h. die unmittelbar aus dem wirtschaftlichen Leben sich ergebenden Gewohnheiten, Moden, moralischen und ästhetischen Vorstellungen so rasch wechseln, daß ihnen gar keine Zeit mehr bleibt, sich zu verfestigen und richtige Eigenschaften der Menschen zu werden. Dann gewinnen die relativ ewigen Momente in der psychischen Struktur an Gewicht und dementsprechend auch die allgemeine Psychologie an Erkenntniswert.[11]«

In einer Welt, in der ansonsten alles fließen soll, bildet diese Fassung ein konstruktives Hindernis. Was an Freud wichtig ist, stammt nicht aus der Nach-, sondern aus der Vorkriegszeit.

[1] „Die Geschichte der Psychoanalyse im Allgemeinen war und ist, so wird dann deutlich, eine Geschichte von unzähligen verzögerten Rezeptionen, ungeplanten Zweckentfremdungen, produktiven Missverständnissen und einer sich ständig weiterentwickelnden Umformung der Bedeutungen von Texten und Konzepten.“ (S. 22). Mit anderen Worten, alles fließt. Das klingt nach einem vitalistischen Konzept.

[2] Vgl. Wer ist schuld an der Misere? Wie schreibt man (k)eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland bis 1945? Von Wolfgang Bock.

[3] Herzog verweist auf ihre Bücher The Neurotic Personality of Our Time, New York 1937 / Der neurotische Mensch unserer Zeit, Stuttgart 1951 und New Ways in Psychoanalysis, New York 1938 / Neue Wege in der Psychoanalyse, München 1977.

[4] „Allerdings hatten viele der führenden Köpfe der internationalen psychoanalytischen Bewegung in den ersten zwanzig Jahren des Kalten Krieges aus verschiedensten Gründen nicht nur jegliches kritisch-politische Engagement gescheut (das nicht zuletzt wegen der Erfahrung des unlängst hinter sich gelassenen Nationalsozialismus und wegen des starken Antikommunismus in den neuen Heimatländern der Geflüchteten als riskant empfun­den wurde), sondern auch jede Art von Beschäftigung mit extrapsychischen Verhältnissen (worauf mit ‚unaufhörlicher Wachsamkeit‘ zu achten sei, wie Ernest Jones 1949 auf der allerersten Tagung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung nach dem Krieg dekretierte). Die Psychoanalyse hatte sich bis Ende der 1960er Jahre vor allem in den USA, aber auch international gerade dadurch so glänzend behauptet, dass sie jegliches ihr einst inne­wohnende sozial subversive Potenzial abgeworfen hatte. Zugleich hatten viele führende Figuren der psychoanalytischen Gemein­schaft das Interesse daran verloren, die komplexen Verflechtungen zwischen Selbst und Gesellschaft ernsthaft zu theoretisieren.“ (S. 195) Das ist eine Denunziation.

[5] „Die Behauptung, dass Sex ohne Liebe pathologisch sei, war eine US-amerikanische Erfindung der Nachkriegszeit.“ (S. 84). Die Trennung von Sex und Liebe stammt allerdings bereits von Augustinus, auf den auch die Begriffe der Libido und der Sexualität zurückgehen. Im Abschnitt XIV, 26 des Gottesstaates entwickelt er die Vision eines die Jungfräulichkeit wahrenden und daher sündenlosen Geschlechtsaktes ohne Wollust, der im Paradies stattfindet.

[6] Nach einer verkürzten Diskussion von Adornos Einwänden gegen Horney, der darin nur Landauer und Horkheimer nachspricht, heißt es bei Herzog dagegen: „Eines der merkwürdigen Missverständnisse der Zeitgenoss:innen, das sich schließlich auch auf die Geschichtsschreibung auswirkte, hatte mit gewissen Ansichten Theodor W. Adornos zu tun. […] Adorno, der sich in den späteren 1940er Jahren noch im kalifornischen Exil befand, hielt sowohl Fromms als auch Horneys Arbeiten für entsetzlich banal. […] Der wichtigste Irrtum jedoch, den spätere Historiker:innen von Adorno und Marcuse übernahmen, ist die Idee, dass Horney für die ‚Entsexualisierung der Psychoanalyse‘ verantwortlich gewesen sei. Diese Ansicht muss korrigiert werden, denn das Gegenteil ist richtig. Zwar war Horney nicht davon überzeugt, dass es eine solche Kraft wie die ‚Libido‘ gibt, aber sie hat sich durchaus intensiv mit der Sexualität und mit ihren Beziehungen zu anderen Bereichen der Existenz beschäftigt, und zwar in einer Weise, die ihrer Zeit weit voraus war (und die erst im Zuge der sexuellen Umbrüche der 1970er Jahre wieder auftauchen sollte). Tatsächlich entsprang der ausschlaggebende — jedoch zu Horneys Zeiten und auch noch heute oft verkannte — Impuls für die Neutralisierung jeglichen sexuell-radikalen Potenzials, das es in der Psychoanalyse einmal gegeben hatte, aus einer anderen Quelle: einer erbittert geführten Auseinandersetzung über die Frage, ob Freuds Lehre mit dem Christentum versöhnbar sei. Der Aufstieg einer sexnormativen Psychoanalyse im Amerika der Nachkriegszeit war in weit größerem Maße als bisher angenommen ein unbeabsichtigter Nebeneffekt dieses Kampfes.“ (S. 46-47). Es ist immer wieder erstaunlich, wie hartnäckig sich das antisemitische Dispositiv vom bösen Sigmund Freud in dieser Linken erhält. Es ist nicht unmöglich, dass hier ein religiöser Fundamentalismus im Hintergrund steht.

[7] Auch hier scheint der Hass auf Freud größer als derjenige auf die Nazis. Vgl. in diesem Sinne Andreas Peglau, Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus, Gießen: Psychosozial 2017, nach Herzog, S. 10, Fußnote 3)

[8] Jahrgang 1937, Heft 10, Seite 69-82, wiederabgedruckt in W. Bock, Adornos dialektische Psychologie, Wiesbaden 2018, S. 669-682.

[9] Noch im aktuellen Wikipedia Artikel über sie findet sich an oberster Stelle der deutliche Hinweis (und drei Hörproben) darauf, dass ihr Name, der im Englischen „erregt“ bedeutet, anders ausgesprochen wird. https://de.wikipedia.org/wiki/Karen_Horney.

[11] Max Horkheimer, „Geschichte und Psychologie“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1, 1932, Nachdruck München: DTV 1980, S. 125 – 144 hier S. 143 – 144.


Artikel online seit 09.01.24
 

Dagmar Herzog
Cold War Freud
Psychoanalyse in einem Zeitalter der Katastrophen
Aus dem Amerikanischen von Aaron Lahl
suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2393
Broschur, 380 Seiten
28,00 €
978-3-518-29993-7

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