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Dazwischen hat man gelebt

Jon Fosses schmaler großer Roman »Morgen und Abend«

Von Wolfgang Bock
 

Ein prekärer Preis
Wenn ein nordischer Autor den Literaturnobelpreis verliehen bekommt, dann weiß man als Leser außerhalb Skandinaviens nicht immer, ob er ihn wirklich verdient hat. Manchmal geht die Auswahl auch auf Kosten eines inneren Proporzes zwischen Schweden und Norwegen. Die permanenten Skandale um das Nobelpreiskomitee in Stockholm, die Verleihung der Preise an Bob Dylan, Peter Handke und Olga Tokarczuk, die darunter kaum zur Kenntnis genommen wurde, haben ihr Übriges getan, die Bedeutung des Preises infrage zu stellen. Seine Verleihung 2023 an den norwegischen Autor von Dramen und Erzählungen Jon Fosse, scheint nun aber wie ein notwendiges Reinigungsritual und Ausdruck einer besonderen Fastenzeit.
Gegenüber den gängigen technizistischen Phantasmagorien, die Welt als überkomplexen Hypertext darzustellen, die ohne Internet nicht zu verstehen wäre und deren Partikel den Leserinnen und Leser unter den Augen zerbröseln sollen, ist das in der Tat der Versuch, zu einer ganz einfachen Verbindung von Poesie, Gerechtigkeit und negativer Metaphysik zurückzukehren.

Ort der Welt
In der kleinen Erzählung "Morgen und Abend" widmet Jon Fosse sich dem Lebensbogen einer Familie in Nord-Norwegen im Saltfjord bei Bodø am Fuße der Lofoten. Es geht schlicht um Leben und Tod. Im ersten Kapitel wird von der Geburt Johanns erzählt. Seine Mutter Martha bringt ihn zur Welt und sein Vater Olai, ein Fischer wie auch er ein Fischer sein wird, nennt ihn nach seinem eigenen Vater. Im nächsten Kapitel ist Johann bereits Rentner, er haust allein am Fjord, seine sieben Kinder sind versorgt und seine jüngste Tochter Signe, die in der Nachbarschaft wohnt, besucht ihn jeden Tag. An diesem grauen Morgen aber ist etwas anders.

Johann steht zwar auf, isst ein Brot mit Geitost, raucht eine Zigarette und will eine kleine Fahrradtour zur nahen Bucht unternehmen. Im Schuppen sieht er, dass sein Fahrrad einen Plattfuß hat und seine Werkzeuge zugleich auf besondere Weise leuchten. Seine Frau Erna ist schon seit Jahren tot wie auch sein Fischer-Freund Peter, dessen Haus nur einen Steinwurf entfernt steht. Trotzdem erscheint Peter nun, die beiden reden zusammen und fahren zum Fischen aufs Meer. Ihren Fang wollen sie dann wie immer in dem nahen Ort Hunstad am Fjord verkaufen. Aber alles dort ist seltsam leer und erst am Ende ihrer Wartezeit kommt die erwartete Anna Petersen, ein älteres Fräulein, die die Tüte mit Krebsen an sich nimmt, als sie bereits abgelegt haben. Doch nun ist sie plötzlich jung und schwanger und geht mit Johann spazieren, der sich erinnert, ihr peinlicherweise einmal, bevor er Erna kennenlernte, einen Liebesbrief geschrieben zu haben. Den hatte sie nicht beantwortet. Er bringt sie nach Hause, sie schlüpft unter seinem Arm durch und so fährt er mit Peter zurück. In seinem Haus trifft er auf seine Frau Erna. Und als seine Tochter Signe ihn besuchen will und er ihr entgegenkommt – geht sie einfach durch ihn hindurch und bemerkt ihn nicht. Er ist bereits gestorben und statt am Morgen aufgestanden zu sein, durchgeistert er eine Halbwelt von Gespenstern. Dennoch will Johann zu Peter gehen, um ihm die Haare zu schneiden. Da gesteht ihm dieser, dass er nur ein Stück Körper zurückbekommen habe, um ihn abzuholen. So fahren beide auf Peters Kutter hinaus, an einen Ort, an dem nur die Guten angelandet sind. Noch sieht Johann zurück auf sein Begräbnis: wie der Pastor wie in einer Szene aus Lars von Triers Film Breaking the Waves am nahen Friedhof Erde auf den Sarg wirft und wie seine Tochter weint. „Er war ein eigener, aber guter Mensch“, sagt sie.

Zwischen Luft, Wasser und Erde
So einfach, so klar und so komplex schreibt Fosse. Es geht um Leben und Tod und die Zeit dazwischen, ohne dass hier ein Existenzialismus sich Bahn bräche, mit Propagandaformeln für eine heroische Weltanschauung oder die katholische oder evangelische Kirche.

Fosses Figuren wiederholen sich im Gespräch und in ihren Gedanken. Peter und Johann haben sich über 40 Jahre lang die Haare geschnitten und so viel Geld gespart. Krebse konnte man immer fangen und Fräulein Petersen habe immer welche abgenommen. Dass aber dennoch heute etwas anders ist, erkennt Johann daran, dass sein Pilker, wenn er ihn wie gewohnt beim Angeln ins Meer werfen will, von diesen nicht angenommen wird. Er sinkt nur ein paar Handbreit, um dann auf einer bestimmten Höhe stehenzubleiben, als habe er seine Qualität der Schwere eingebüßt. Auch sein Freund Peter registriert das und sagt: „Das Meer will Dich nicht mehr, dann bleibt nur Erde.“

So setzt Fosse seine Figuren ins Bild wie in einer Tuschezeichnung von Edvard Munch. Hier geht es nicht um einen ausgewalzten und seriellen Text wie bei Karl-Ove Knausgård. Reduktion aufs Wesentliche ist hier alles. Die Hauptfigur Johann erscheint als ein norwegischer Herr Teste, den sein Autor Paul Valéry 1896 mit dem kleinen Text »Der Abend mit Herrn Teste« erstmals auftreten lässt. Peter und Johann, seine Tochter Signe und sein Schwiegersohn Leif sind auch Wiedergänger von Samuel Becketts Figuren wie Vladimir und Estragon, die in Warten auf Godot mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben. Sie treffen bald auf Lucky und Pozzo, die Herr und Knecht spielen. Wer jemals in Irland gewesen ist, weiß, wie viel Lokalkolorit in Becketts Figuren steckt. Und wer die Gegend um Bodø kennt, sieht etwas Ähnliches in den Norwegern Johann und Peter. Und doch stehen sie für alle Menschen. In Becketts Stück ist die Bühnenausstattung denkbar spärlich: ein Baum, ein Stein, heißt es. Bei Fosse gibt es Fels und Wasser und Luft. Leben und Tod sind hier nur leicht gegeneinander verschoben. Im Leben gibt es schon den Tod im Nebel, in den grauen Inseln, im Saltstraumen und auch der Tod bei Fosse ähnelt noch dem Leben. Dass etwas nicht in Ordnung ist, erkennt Johann auch daran, dass er einen Stein durch Peter hindurch werfen kann.


Zeit der Welt

Eine abgelegene Halbinsel am Ende der Welt möchte man sagen. Und doch ist der Ort berühmt geworden durch Edgar Allen Pos Erzählung Der Malstrom, die hier angesiedelt ist. Die alten nordischen Sagen berichten davon, dass hier die Mühle des Hamlet verortet sein soll, mit welcher zwei Riesenfrauen nichts Geringeres als die Zeit mahlten. Hier befindet sich der Atem des Meeres, das Gelenk der Welt, das aus seinem Zusammenhang herausgerissen ist, den Hamlet wiederherstellen soll. Von solcher äußeren Dramatik aber liest man nichts bei Fosse. Hier gibt es eine Kontinuität des Anfangs und des Endes, jeder Figur ist der Tod vorgezeichnet, aber ihr Name ist in den Kreislauf einbezogen, wo die Jungen so heißen wie die Alten. Noch sind sie Fischer, noch lebt hier niemand von Aquakultur und vom Öl. Aber bald schon ist die karge, zirkuläre Zeit der alten Norweger an der Küste und im Landesinneren vorbei. Die Moderne breitet sich aus mit den Monsterkreuzfahrtschiffen, die Tausende von Menschen zu den kleinen Fischerdörfern transportieren und den Fjord, wenn sie ankern, für alle anderen zustellen. An den Fischerhütten findet man Fri Palestine hingesprüht. Dazu kommen die Karawanen der Wohnmobillisten aus Rentnern, die im März in Deutschland losfahren, um im Juni am Nordkap die Mitternachtssonne zu erreichen. Ihren Proviant haben sie komplett bei Aldi eingekauft, um ja nicht im teuren Norwegen einkaufen zu müssen – beispielsweise braunen Käse, den sie nicht kennen, obwohl sie bereits Zehntausende von Kilometern durch das Land gefahren sind.

Ein moderner Erzähler
Doch Jon Fosse schreibt nicht anachronistisch, er schreibt einfach und auf das Wesentliche beschränkt: Geburt und Tod, Geisterhaftes im Leben und Lebendiges bei den Geistern. Unter der christlichen Metaphysik lebt die alte heidnische weiter, wonach das Paradies nur eine leicht verschobene diesseitige flache Welt ist. So gemahnt seine Erzählung an die eigenen Grenzen des Lebens. Wie in einer Zeichnung von M. C. Escher, in der die Faltfiguren in einem großen Möbiusband mit einer Oberfläche auseinander hervorgehen, Varianten bilden, um bald darauf wieder zurückgefaltet zu werden. Oder wie in einer kleinen Kafka-Geschichte, in der Anfang und Ende so zusammengezogen sind, wie in der Erzählung „Nachts“ von 1920. Dort wandern die Menschen durch die Wüste, und alles, was sie an Häusern und Möbel errichten, ist nichts anderes als eine Erweiterung ihrer Ellenbogenbeuge, in der sie des Nachts ihren Kopf betten. So wie die Zivilisation entsteht, so geht sie auch zugrunde. Dazwischen hat man gelebt.

Fosses Erzählung bringt das zu Bewusstsein und die Zeit schnurrt entsprechend zusammen. Das trifft den Leser direkt ins Herz. Er denkt an die eigenen Eltern, die gestorben sind und denen er unweigerlich nachfolgen wird. Wenn es unregelmäßig zugeht, früher mit Krieg und Zerstörung, aber auch wenn es regelmäßig zugeht, etwas später. Ohne Pathos irgendeiner Maschine, einem Transhumanismus oder irgendeines Existenzialismus spricht Fosse schlicht davon. Und der Kritiker wird leise gewahr, dass sich der Geburtstag seines Vaters in ein paar Tagen zum 100. Male jährt.


Artikel online seit 23.02.24
 

Jon Fosse
Morgen und Abend
Roman
Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
rororo
128 Seiten
978-3-644-03011-4


 

 


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