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Qualifizierte Gespenster

Über Jon Fosses Roman
»Das ist Alise«

Von Wolfgang Bock

 

Ein Mann, ein Boot
An einem Dienstag im November 1979 verschwindet der Fischer Asle. Im Jahre 2002 steht seine Frau Signe am Fenster ihres gemeinsamen Hauses am Fjord in Westnorwegen und sieht ihn immer noch beim Hinausgehen zu seinem Boot, von dem er nicht zurückkehrt. Es war eine dünne Haut zwischen ihm und dem tausend Meter tiefen dunklen Wasser. Und doch war Asle das Boot und das Boot war Asle. Sein Freund, der Bootsbauer Johannes, hatte es für ihn angefertigt und Asle fühlt sich zuweilen selbst wie ein „altes Stück gute Holzarbeit“. Asles Frau Signe schaut aus dem Fenster, an dem sie steht. Zugleich sieht sie sich in der Stube auf der Bank liegen. Und sie sieht auch ihren Mann, wie er noch einmal hinausgeht, um nach dem Boot zu schauen, nachdem er zuvor einen Spaziergang gemacht hatte, da das Licht bereits zu dunkel und die Herbststürme im November zu stark waren, um hinauszufahren. Am Steg überlegt er es sich anders, macht die Leinen los und legt sich noch mal in die Riemen zu einer Fahrt, von der er nicht wiederkehrt. Nur das Boot wird später gefunden. Es liegt ein Jahr zertrümmert am Ufer, bis es die Jungen aus dem Nachbardorf mit Signes Erlaubnis in der Johannisnacht verfeuern. Es ist auch das Begräbnis des Mannes, dessen Körper nie gefunden wurde, der in dem Feuer in Form eines Schiffes aber so liegt, wie die alten Wikinger ihre Toten begraben haben.

Iterationen
In diesem Roman des Nobelpreisträgers Jon Fosse geht es um Wiederholungen. Immer wieder steht Signe am Fenster, immer wieder sieht sie sich in der Stube liegen, immer wieder legt sie Holz nach und immer noch hofft sie auf die Rückkehr ihres Mannes. Der ist immer wieder unterwegs auf seinem Spaziergang, er will an dem Tag gar nicht aufs Wasser. Auf seinem Gang erscheint plötzlich seine Großmutter, anschließend seine Ururgroßmutter Alise. Er heißt nach einem ihrer Söhne, der im Fjord ertrunken ist, während der andere, sein Großvater Kristoffer, überlebt hatte. Jetzt sieht Asle seine Urgroßmutter als Zwanzigjährige, er erlebt, wie sie seinen zweijährigen Großvater aus dem Wasser zieht, in das auch er gefallen war. Er beobachtet, wie sie das frierende Kind ins Haus bringt und wärmt. Auch Signe sieht im Haus nun Alise und ihr Kind. Etwas später erkennt sie auch Alise mit dem anderen Asle, dem toten Bruder von Kristoffer. Sie sieht die Trauer der Mutter, wie sie den leblosen Körper ins Haus trägt, während ihr eigener Mann, der jüngere Asle, auf dem Fjord unterwegs ist, in dessen Mitte er ein seltsames violettes Elmsfeuer ausgemacht hatte.

Paganismus im Christentum
Die Verwirrung der Namen, der Zeiten und Sphären ist gewollt. Der Jon Fosse ist 2013 zum Katholizismus konvertiert.[1] Seine Figuren werfen einen Augustinischen Blick auf die Welt. Der hatte in seinem Traktat über die Zeit darauf hingewiesen, dass nur für die Menschen die drei Zeiten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bestünden. Der Blick Gottes dagegen sei einheitlich; er sähe bereits den Kindern an, was aus ihnen werde. Daher hat er, für den der allergrößte Teil der Menschheit verdammt ist, auch nur wenig Mitleid mit den Kindern, weil er in ihnen bereits die späteren Sünder sieht. Er gilt als Erfinder der Inquisition, ist aber zugleich der wichtigste Kirchenvater für die katholische Kirche wie für die Protestanten. In Skandinavien vermischen sich diese Tradition mit den mythischen, naturreligiösen Blicken auf die Welt. Der Däne Søren Kierkegaard, der für das Verständnis des Verhältnisses der Nordländer zur Kirche und zur Metaphysik der Natur eine Schlüsselrolle spielt, ist ebenso vom christlichen Gott beeinflusst, wie von den altskandinavischen Geschichten der Trolle und der Wassernöxe. Auch die norwegische Religiosität durchzieht sowohl eine alttestamentarische als auch eine heidnische Linie wie verschiedene Quarzflöze den Granit ihrer Fjells. Das Christentum entsteht in Innenräumen in der Region des Mittelmeeres, im Norden herrscht dagegen eine rauere Natur. Isoliert durch die Berge und die Fjorde, müssen die Menschen mit sich selbst zurechtkommen und die Welt in sich selbst anders widergeben. Fosse schreibt folglich über Menschen, die die Berge atmen hören, wie sie den Zungen in den Wänden ihrer alten Häuser lauschen, die eine Sprache sprechen, die hinter den Worten wohnt. Das klingt magisch. Zugleich gibt es diese Nähe zu dem christlichen Blick auf die Welt ohne zeitliche Sukzession. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in jedem Augenblick enthalten, der aber nicht dem Hier und Jetzt eines archaischen Lächelns oder dem östlichen Nirwana gleicht, sondern die Zeit der Menschen zwischen ihrem Beginn und ihrem Ende aufspannen will. So hat die Personage von Fosses Romanen etwas von dem Sein im Bereich zwischen Himmel und Hölle. Sie sind nicht christlich genug, um das Paradies erreichen zu können, aber auch nicht so heidnisch, um in die Hölle zurückzufallen. Diese pagane Seite findet sich bereits bei dem Kirchenvater Augustinus.[2]

Qualifizierte Gespenster
Fosses Welt ähnelt damit, lässt man den kulturellen Unterschied zwischen Irland und Norwegen unberücksichtigt, derjenigen von Samuel Becketts Protagonisten im Endspiel oder im Warten auf Godot.[3] Wie diese sind auch Fosses Figuren zwischen Leben und Sterben angesiedelt und transzendieren diese Kategorien, ganz nach der Unterscheidung von Augustinus‘ erstem und zweitem Leben, demjenigen in der Menschenwelt und demjenigen in Gottes Reich nach dem fleischlichen Tode. Aber sie werden keine Engel, sondern bleiben eher qualifizierte Gespenster. Asle, Signe, Kristoffer, Brit und Alise gleichen so einem von der Guillotine abgeschlagener Kopf, der noch eine Zeit lang weiterdenkt. Obwohl sie gestorben sind, gehen sie sich noch durch die Welt und machen ihre Gesten weiter, solange sich noch jemand an sie erinnert. Solche Wiederholung ist ein stetes sprachliches Mittel des kargen Stilisten Fosse. Das hat seinen guten Grund, denn so wie seine Welt nicht von der Logik beherrscht ist, so auch nicht vom Intellekt, der den Griechen noch als göttliches Medium gilt. Das Denken ist für Fosse nicht das höchste Vermögen. Seine Menschen sind Herzensmenschen, Existentialisten auf einer Nebenlinie, die nicht bei Heidegger, Camus und Sartre endet und ihr geisterhaftes Nicht-Leben – von dem man annehmen kann, dass es bereits zu ihren Lebzeiten eingesetzt hatte – ist wichtiger als das Denken. Es herrscht hier ein Rhythmus in der Natur vor, der sich auch in der Sphäre der Dinge wiederfindet. Das Haus ist alt, Generation von Menschen haben hier gewohnt, die die gleichen Namen tragen wie ihre Eltern und Großeltern. Sie arbeiten als Bäuerinnen und als Fischer, werden geboren und sterben auch auf die gleiche Weise, wie die Menschen der Generationen vor ihnen. Zumeist tun sie das auf dem Wasser. Das Leben bildet sich, wo das Wasser ein Stück Land freigibt.

Natur oder Religion
Wenn man Bücher von norwegischen Autoren liest, hat man zuweilen die Anmutung, es ginge um alttestamentarische Zustände, die nur in die Staffage des Nordens versetzt werden. Statt der Wüsten des Sinai finden wir die Berge und die Fjorde der Nordkalotte, statt langer Gewänder nun Hosen und selbstgestrickte Pullover. Schafe aber gibt es in beiden Welten ebenso wie die damit zusammenhängenden flachen gesellschaftlichen Hierarchien (so viel Soziologie muss sein). Fosses Roman atmet daher den Rhythmus der Natur ebenso wie den der Naturreligion, über die das Christentum sich anscheinend nur wie ein dünner Firnis gelegt hat. Seine Welt ist voll mit essenziellen Dingen und ebensolchen Gesten. Die Menschen arbeiten, sie kommen und sie treten ab. Die Männer wie die Frauen gehen ihren Tätigkeiten nach, sie lieben sich (das wird weniger beschrieben) und sie sterben (das mehr). Diesen Rhythmus im Lesen zu verfolgen, hat etwas Schönes. Es regt dazu an, ihn in sich selbst ausfindig zu machen. Das beruhigt und beunruhigt allerdings gleichermaßen. Es ist eine Unruhe, wie man sie auch in Franz Kafkas Geschichte von der Sorge des Hausvaters findet. Dieser macht sich Gedanken über das Zwirnspulenwesen Odradek, das existiert, aber keiner herkömmlichen Evolutionslinie zugehörig zu sein scheint. Es ist die gleiche Verwunderung über die Welt wie in den Büchern von Jorge Luis Borges, bei denen man auch nicht weiß, ob seine Fiktion nicht realer ist als die Realität. Bei Fosse fragen sich die Figuren beständig: Kann es wirklich sein, was mir jetzt passiert?

Kunst als Insel der Sprache
Dem idealistischen Philosophen Ortega y Gasset wird der Satz zugeschrieben: „Das Kunstwerk ist eine imaginäre Insel, die rings von Wirklichkeit umbrandet ist." Dagegen begehrt sofort auf, wer Theodor Adornos Ästhetische Theorie gelesen hat. Denn nach Adorno ist die Kunst gerade die Sphäre der Wirklichkeit, während die vermeintliche Wirklichkeit, zumal der Arbeitswelt, eine Entstellung des wahren Lebens darstellt. Dem Kritiker aber war Ortega Satz anders im Gedächtnis geblieben, nämlich so: „Die Kunst ist eine Insel der Illusion, umbraust von Wellen der Realität.“ Seine Erinnerung hatte Ortegas Satz gleichsam nietzscheanisch rektifiziert: Die Illusion steht hier für den Schein der Kunst, die durchaus wirklich ist, während die vermeintliche Wirklichkeit der Umgebung sich als Täuschung entpuppt. Eine ähnliche Position finden wir in der Kunstauffassung des Situationismus etwa von Jean Baudrillard, der ebenfalls die Illusion gegen die Simulation der Realität verteidigt. Auch Jon Fosses Welt ist in einer Zone zwischen ästhetischem Schein und einer Wirklichkeit angesiedelt, die sich nicht zwischen Theologie und Säkulum entscheiden kann. Sein Ort steht zwischen der heidnischen Welt der Menschen und der christlichen Welt Gottes. Und wie sich seine Figuren nicht entschließen können, ob sie leben oder sterben wollen, so kann ihr Autor sich nicht dafür entscheiden, ob sie nun in eine christlichen oder in einen heidnischen Himmel kommen. Letzterer ähnelt in der bukolischen Idylle der Griechen einem Garten, in der Volksüberlieferung in Deutschland einer grünen Wiese, in derjenigen in Norwegen aber einer nur wenig vom Diesseits entrückten Fjordlandschaft. Das haben die norwegischen Schüler der deutschen Märchensammler Jakob und Wilhelm Grimm, Peter Asbjørnson und Jørgen Moe, mit ihren Norske Folkeeventyr von 1843 deutlich gemacht.

Ein Rest
Wie die Gebrüder Grimm neben ihren Sagensammlungen das Wörterbuch der deutschen Sprache herausgaben, so schrieb Jørgen Moe ebenfalls romantische Gedichte. In der Linie dieser Poesie steht Jon Fosse. Seine Bücher sind Romane, Naturbeschreibungen und Sprachgeschichten in eins. Er vertritt einen Existenzialismus, bei dem sich körperliche und Wortgesten herauskristallisiert haben, die in einem beständigen Wirbel Konstellationen bilden, um sich wieder aufzulösen. Indem er diesem poetischen Rhythmus folgt, der wie bei Søren Kierkegaard in seinen besten Stücken an jedem Gegenstand hängen bleiben kann, befreit Fosse zugleich den Leser, der sich in ihm wiedererkennt. Der Gegensatz von Natur und Religion wird in der Poesie aufgehoben. Lesend vermag man die Fragen abzustreifen, die den Alltag zu einem undurchdringlichen Dickicht machen. Fosse schreibt scheinbar einfach, dahinter aber öffnet sich die Welt ebenso wie die Erde in den Gestalten einer anderen Komplexität. Asle, Signe und Alise sind allegorische Namen dieser Komplexität. In ihnen lodert ein Feuer, das nicht von der Sonne kommt. Dass es sie gibt, zeugt von einem Rest, der in dieser Aufhebung nicht aufgeht.

[1] Vgl. https://www.glanzundelend.de/Red24/D-F/jon_fosse_leuchten_christian_lehnert_das_haus_und_das_lamm.htm.

[2] Vgl. https://www.glanzundelend.de/Red21/A-C/wolfgang_bock_kunst_und_angst.htm.

[3] Vgl. https://www.glanzundelend.de/Red24/D-F/jon_fosse_morgen_und_abend.htm.

Artikel online seit 01.04.24
 

Jon Fosse
Das ist Alise
Roman
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
gebunden mit Schutzumschlag
128 Seiten
Mare-Verlag
20,00 €
978-3-86648-743-7

 

 


 

 


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