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Nie wieder ist heute?

Zur Neuausgabe von Theodor W. Adornos Vortrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« von 1962 im Jahre 2024

Von Wolfgang Bock

 

Das Geschäftsmodell des Suhrkamp-Verlages erlaubt es, einzelne Texte von prominenten Autoren in Sonderdrucken herauszugeben. Das funktioniert gut bei modischen Schreibern wie Peter Sloterdijk, es klappt aber auch bei dem Urgestein des Verlages wie Theodor W. Adorno. Im Jahre 2019 erschien dessen Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus von 1967 in einer kommentierten Extraausgabe und wurde gleich zum Bestseller. Im Januar 2024 erscheint nun ein weiterer Adorno-Vortrag in einer Neuausgabe, diesmal über Antisemitismus von 1962, versehen mit einem Nachwort von Jan-Philipp Reemtsma. Der Anlass, der ein solches Verfahren rechtfertigt, ist der neue alte Antisemitismus von 2023. Wie der Rechtsradikalismus steht auch der Antisemitismus quer zur Geschichtsvorstellung eines gesellschaftlichen Fortschritts. Bereit zu Beginn seines Vortrags erläutert Adorno denn auch den Begriff des sekundären Antisemitismus seines Mitarbeiters Peter Schönbach. Dabei handelt es sich um eine erneute Aneignung eines Dispositivs, das selbst so alt ist wie die Vorstellung eines Volkes oder einer Nation der Juden.

Mit Autorität gegen Autoritäre

Ewiger Antisemitismus als Reversie des Ewigen Juden ist also ein Denkmodell, das zwar geschichtlich bedingt ist, das sich der geschichtlichen Einordnung aber auch in gewisser Weise entzieht. Darauf hebt auch Jan Philipp Reemtsma in seinem Nachwort ab: Antisemitismus sei kein Vorurteil, das sich soziologisch erklären ließe, sondern ein Zustand, der trotz verschiedener Erklärungsversuche endemisch bleibe. Die Frage, die auch Adorno stelle, sei, ob die entsprechenden Anhänger der Aufklärung zugänglich wären oder ob man ihnen gegenüber nicht Autorität zu zeigen habe, damit sie überhaupt angesprochen würden? Hier kehrt also die Frage nach der wehrhaften Demokratie wieder, die mit dem Grundgesetz, das aus einer ähnlichen Lage entstanden ist, fähig sein soll, gegen antidemokratische Tendenzen innerhalb der Demokratie konsequent vorzugehen.

Eine Serie?

Der Suhrkamp-Verlag reagiert mit der Ausgabe auf die Razzia der Hamas, den Ausfall aus dem Gazastreifen auf das Gebiet des Staates Israel. Am 7. Oktober 2023 wurden dabei 1139 Menschen zum Teil bestialisch getötet und 250 Israeli als Geisel genommen – auch, um die Israelis zu entsprechenden Gegenmaßnahmen zu provozieren. Das hatte zwar eine Solidarität des Staates Deutschland mit dem Staat Israel ausgelöst, aber hierzulande keine großen Menschenmassen für die Israelis auf die Straße gebracht. Inzwischen haben in der letzten Woche die Demonstrationen gegen die drohende legale Machtergreifung der Neonazis und Rechtspopulisten der AfD in den neuen Bundesländern in Deutschlands Osten stattgefunden. Diese richten sich gegen die Deportationsideen der Rechtsradikalen, die sich bereits zum vierten Male mit Vertretern des Großkapitals getroffen haben.

Heterogene globale und regionale Politik als Anlass

Wollte man diese Publikationspraxis fortsetzen, so wäre es nun an der Zeit, einen erneuten Aufsatz von Adorno zum Thema Rechtradikalismus zu lancieren – etwa zu Ostern. Über das Verfahren soll sich hier aber nicht lustig gemacht werden, sondern es ist Teil der Sache, dass Antisemitismus und Rechtsradikalismus in periodischen historischen Wellen durch die Gesellschaft hindurchfließen. Schon bei Platon ist die Folgeentwicklung des Staates aus der Demokratie die Diktatur und auch in der neueren Geschichte kennen wir einen solchen Entwicklungszyklus. Die Französische Revolution ist aus einem demokratischen Impuls in den Terror der Jakobiner und dann in die Diktaturen Napoleons und des Zweiten Kaiserreichs übergegangen. Das hatte bereits Karl Marx1852 in seinem Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte beschrieben. Geschichtsphilosophisch also ist mit dem Prinzip Hoffnung kein Blumenstrauß zu gewinnen. Dass sich eine automatische Gerechtigkeit in politischen und wirtschaftlichen Systemen durchsetzte, die eine Zeitlang stabil und demokratisch sind, ist ein Illusion, der gegenüber ein Pessimismus auf der ganzen Linie angebracht ist. Das gilt auch für entsprechende optimistische Vorstellungen dem Krieg gegenüber, der im 21. Jahrhundert angeblich überwunden sein soll. Die permanent anhaltende Ausbeutung des globalen Südens innerhalb der kapitalistischen Ökonomie und die außenpolitischen Ereignisse wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Besetzung Bergkarabachs durch Aserbaidschan oder die Attacke der Hamas auf die israelische Bevölkerung und der Gegenschlag der Israelis im Gazastreifen zeugen davon. Auch die innenpolitischen Reaktionen in Deutschland auf die Politik der Treuhand und anderer Maßnahmen des Einigungsvertrags, von denen auf den Staatsbegräbnissen von Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble keine Rede war, tragen nun im Osten neue Früchte und drohen auch aufgrund der unermüdlichen offiziellen wie inoffiziellen Bemühungen des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute, autoritäre Regime in die Landesregierungen zu spülen.

Hausgemachter deutscher Antisemitismus

Rechtsradikalismus und Antisemitismus gehen in Deutschland Hand in Hand. Dazu braucht es keinen Verweis auf islamischen Antisemitismus durch eingebürgerte Menschen aus Syrien oder der Türkei. Deutschland besitzt bekanntlich seine eigene genuine Geschichte des Antisemitismus. Adorno geht zu dessen Erklärung zurück auf seine eigenen Untersuchungen über den autoritären Charakter (für den bekanntlich Martin Luther Pate stand), auf Freuds Erkenntnisse der Massenpsychologie und auf seine und Horkheimers Erwägungen über die Elemente des Antisemitismus aus der Dialektik der Aufklärung. Die letzteren Fragmente stellen bis heute den Goldstandard der kritischen Beschäftigung mit dem Antisemitismus dar. Der letzte Abschnitt der Elemente von 1947 beginnt mit dem Satz: „Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.“ In der Sache schließt hier der erste Satz aus Adornos Negativer Dialektik von 1966 an, der lautet: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Das zielt auf die Lebensphilosophie; die Verwirklichung des Antisemitismus jedoch erfolgte im großen Maßstab in der Praxis des Dritten Reichs mit der industriellen Tötung der Juden und der politischen Regimegegner, für die Auschwitz steht. Diese Praxis hallt unheilvoll nach. An das böse Echo der Maßnahmen von Hitler und Stalin knüpfen bis heute die sadistischen Phantasien der entsprechend autoritär gestimmten Menschen an, woher immer diese aktuell auch stammen mögen.

Adorno schreibt seinen Vortrag Anfang der Sechzigerjahre als Reaktion auf eine antisemitische Welle, die ab 1959 die Bundesrepublik erschütterte. Zu der Zeit beschäftigte er sich mit der Protoform des Faschismus im Aberglauben, genauer einer Astrologie, die er 1953 in Amerika im Zusammenhang mit antisemitischen Hasspredigten studiert hatte. Er bezeichnet sie als
Chemismus von Massenbewegungen, bei denen gleichsam im Reagenzglas und ohne Druck von Außen, sich Menschen Wahnsystemen unterwerfen, die ihnen die Welt erklären sollen. Das ist eine Protoform der fake-news der heutigen „freien Rechercheure“ und Schwurbler, die angeblich nur glauben wollen, was sie selber verstehen. Und sei es, dass sie am Bodensee nachmessen wollen, ob die Erde tatsächlich eine Kugel oder doch nur so flach ist, wie das Brett vor ihrem Kopf. Dass nach solchen programmatischen Ankündigungen ihnen ihre Anhänger nicht scharenweise davon, sondern gerade zulaufen, bildet bis heute das Problem: Die Menschen können ihren eigenen Urteilen nicht trauen und müssen, nach einem Wort von Wolfgang Pohrt, davon abgehalten werden, ihre Phantasien zu verwirklichen. Das benennt Adorno als irrationale Ideologie, die sowohl in der Reklame als auch im Politischen wirkt. Diese Art von Aberglauben hat 2023 und wohl auch 2024 ebenso Hochkonjunktur wie die Vorstellung der QAnon-Bewegung, die Juden würden Kinder schlachten und einen Deep State errichten, vor dem nur Trump uns retten könnte. Reemtsma nennt das in seinem Nachwort ganz richtig eine Geheimnislosigkeit: „Die Geheimnislosigkeit des Antisemitismus ist sein anhaltendes Karrieremodell.“ Adorno adressiert damit das gesellschaftliche Phänomen des Antisemitismus auf die unaufgeklärten Subjekte zurück. Hier hat die Frage nach der Freiheit ihre Berechtigung, die die Antisemiten und Rechtsradikalen im Munde führen.

Reemtsmas Ellipse mit Adorno und Sartre

Die entsprechenden soziologisch erklärbaren Zusammenhänge benennt Adorno bereits 1962 zutreffend und aporetisch zugleich, wie Reemtsma in seinem Nachwort anmerkt (er sagt statt aporetisch: ratlos): Antisemitismus zu erklären, sei nicht möglich, jedenfalls nicht im Sinne einer einfachen Vorgabe, nach der dann zu handeln sei, um einem Missstand abzuhelfen. Antisemitismus sei vielmehr eine Sache von dem Schlage, dass alle um sie wüssten, aber kaum jemand sich ernsthaft daran machte, sie abzuschaffen. Daher seien auch Adornos Vorschläge selbst eine Art work in progress als Reaktion auf solche Aporie. Dahinter steht natürlich bei Adorno die Dialektik der Aufklärung, also ein Vorbehalt gegen Optimismus, den Reemtsma möglichweise mit einer einfachen Ratlosigkeit verwechselt. Denn widersprüchlich reagiert auch Reemtsma selbst in seinem Urteil über Adorno. Er hält in anderen Verlautbarungen den Musiker, Philosophen und Soziologen Adorno für einen minderen Germanisten. Aber zugleich fördert er durch seine Tätigkeit als Mäzen die Herausgabe der Vorlesung und Vorträge Adornos ebenso wie die entsprechenden Archive in Berlin und Frankfurt. Er tut das eine, lässt aber auch das andere nicht. Auch in seinem Nachwort versucht er eine elliptische Erklärung zu geben, für die er einen zweiten Referenzpunkt zu Hilfe nimmt. Neben Adorno zieht er in diesem Fall für seine Einordnung Jean Paul Sartres Überlegungen zur Judenfrage von 1944 heran, um nicht selbst allein auf Adornos theoretische Voraussetzungen angewiesen zu sein.

Adorno aus Amerika und deutsche Zweideutigkeiten

Auf jeden Fall kann es nicht schaden, einen Text von Adorno zu dem Thema zu lesen und sei er von 1962. Denn der Vortrag ist weniger hilflos und zweifelnd als es von Reemtsma dargestellt wird. Adorno benennt vor Pädagogen genau die Maßnahmen der Erziehung, die hier wirken, auch bei der Sozialisation der Lehrer. Genauso hatte er in den 1940er Jahren vor den Direktoren und Psychoanalytikern der großen Kliniken in Kalifornien gesprochen und erfolgreich für das Programm des Instituts für Sozialforschung geworben. Adorno spricht hier ein Programm nach, dass Max Horkheimer in seinen besseren Zeiten zusammen mit Erich Fromm entworfen hatte. Adorno ist auch 1962 noch mit einem halben Bein sozusagen in Amerika, aus dem er 1953 endgültig zurückgekehrt war. Wenn er als Beispiel für ein konsequentes Vorgehen gegen Antisemiten anführt, dass er die entsprechenden Reden von Taxifahrern bei der Polizei anzeigt, so kommt es hier auf die Details an: Es geht anscheinend um deutschen Taxifahrer, die für die US-Verwaltung arbeiten. Diese müssen sich bei ihren amerikanischen Vorgesetzten für ihre losen antisemitischen Reden rechtfertigen und sind nun gleichsam heilsam schockiert. In einem deutschen Taxenbetrieb wäre Adorno allerdings nicht nur auf antisemitische Chauffeure, sondern vermutlich auch auf einen antisemitischen Chef ebenso gestoßen wie auf einen antisemitischen Polizisten. Das ist auch die Crux der Begründung des Verfassungsgerichtes, die NPD 2017 nicht zu verbieten: Sie sei zu klein und unbedeutend. Was aber passiert, wenn sie größer und bedeutender wird, wie nun gerade die AfD sich anschickt? Die staatlichen Maßnahmen gegen die Faschisten sind tendenziell hilflos. Sie wimmeln von lauen Maßnahmen gegen rechtradikale Soldaten und Polizisten. Sie sind zudem voll von sprachlichen Zweideutigkeiten wie dem „Deutschen Bundestag im Reichstag“ und der „Dritten Strophe des Deutschlandliedes“. Dagegen ist Adornos konsequentes Eintreten für die Aufklärung erstaunlich und zu loben, wenn es bei ihm heißt: „Den Antisemitismus kann nicht bekämpfen, wer zur Aufklärung zweideutig sich verhält.“ (S. 28). Das ist für den Mitautor des Buches Dialektik der Aufklärung ein erstaunlicher Satz.

Ein Vorschlag für eine Fortsetzung der Serie

Wenn die politische Entwicklung so weitergeht, dann wäre es an der Zeit, als nächsten Band in dieser Suhrkamp-Reihe Walter Benjamins Essay Zur Kritik der Gewalt von 1921 neu aufzulegen und mit einem aktualisierenden Kommentar zu versehen. Benjamin geht es darum, die Kette der Gewalt im angemaßten Namen einer falschen Gerechtigkeit zu unterbrechen. Das Clandenken der einzelnen politischen Protagonisten – nennen sie sich selbst nun Antisemiten, Palästinenser, Israelis oder Reichsdeutsche – müsse beendet werden. Nur auf diese Weise lässt sich auch die neue globale Verbindung von Aberglauben, Bürokratie und Populismus aufhalten, die den alten Namen des Antisemitismus trägt.

Artikel online seit 29.01.24
 

Theodor W. Adorno
Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute
Ein Vortrag
Mit einem Nachwort von Jan Philipp Reemtsma
Suhrkamp
Klappenbroschur, 86 Seiten,
10,00 €
978-3-518-58823-9

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