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Delfi 01 Zwei Erzählungen stechen weit heraus und das ist, wenn man es nüchtern betrachtet, schon viel. Zum einen ist es Maria Stepanovas Geschichte einer Visite (Übersetzerin: Olga Radetzkaja). Es wird über den Besuch der britischen Reporterin Martha Gellhorn im Sommer 1972 bei "Mrs. M.", Nadeshda Jakowlewna Mandelstam, der Witwe von Ossip Mandelstam erzählt. Die Kriegsreporterin Gellhorn ist (nicht nur in der damaligen UdSSR) vor allem als einstige Ehefrau von Ernest Hemingway bekannt. Stepanova wurde in dem Jahr geboren, als Gellhorn für ein paar Tage nach Moskau kam und diese Dame besucht hat. Sie erzählt im Stil einer literarischen Klatschreporterin über eine literarische Klatschreporterin, die über die Witwe eines legendären Schriftstellers schreibt, deren Werke sie (also Gellhorn) mit großer Sicherheit nie gelesen hat. Da ist es fast ein Vorteil, dass man sich auch nicht sprachlich verständigen kann. Das ist sehr komisch und, ansonsten wäre es keine Literatur, viel mehr als das. Die andere Erzählung ist Der Laderaum von Mohamed Mbougar Sarr, der in der deutschsprachigen Öffentlichkeit im letzten Jahr mit dem großartigen Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen reüssierte. Abermals fungierten Holger Fock und Sabine Müller als Übersetzer. Erzählt wird von Francis Henry, einem ehemaligen Arzt, der nun, im Alter, in einem Sessel sitzend, zunächst meist schweigend, plötzlich einem jungen Menschen die Geschichte eines Lebens erzählt. Es geschah auf einer Fahrt auf einem Handelsschiff als Hilfschirurg vor vierzig Jahren, ein Erlebnis, dass täglich aufs Neue dazu führt, "das Mysterium, die Wahrheit und die Schönheit" der Welt zu sehen.
Zu Beginn seiner Erzählung
fragt Francis den jungen Mann, ob er sicher sei, dass die "Schultern stark
genug" seien für das, was er hören werde. Diese Frage muss sich auch der Leser
stellen. Und vieles spricht dafür, dass man, nachdem man diese Erzählung
gelesen, also "geschultert" hat, auch ein ganz kleines bisschen nicht mehr der
Mensch sein wird, der man vorher war. Mehr kann man von Literatur nicht
erwarten. Und man fragt sich nur, wann endlich die anderen Bücher von Mohamed
Mbougar Sarr übersetzt werden.
Schreibheft
101 Die Texte variieren zwischen wenigen Zeilen und maximal einer Seite und zeigen die höchst persönliche Leserwerdung Keménys in Reminiszenzen und Reflexionen von der Kindheit bis in die Gegenwart. Manchmal wird er sogar ein bisschen wehmütig. Neben Prosa- und Lyrikautoren werden auch Philosophen aufgenommen. Die Spannbreite reicht von Homers Odyssee über Platon, das Lukasevangelium, Don Quijote, Coopers Lederstrumpf, das Kommunistische Manifest, Thomas Manns Zauberberg, natürlich auch ein Goethe, Lampedusas Leopard bis zu Roberto Bolaños Die wilden Detektive. Es gibt Texte zu einem Märchen ohne Autor (Die redselige Schildkröte), über ein Gemälde von Watteau und Thor Heyerdahl, wobei Kemény ein bisschen kleinlaut bekennt, dass ihm früher einmal der Forscher Erich von Däniken besser gefallen habe. Sehr instruktiv die Bemerkungen über C.G. Jungs Erinnerungen, Träume, Gedanken. Das ist eine disparate und höchst subjektive Auswahl. Daraus macht Kemény gar keinen Hehl. Vielleicht wird man Namen wie Kafka, Joyce oder Camus vermissen, aber es ist eben, auch wenn viele bekannte Werke der Weltliteratur auftauchen explizit kein Kanon. Aber dafür gibt es Möglichkeiten, einige im deutschsprachigen Raum eher unbekannte (meist ungarische) Autoren kennenzulernen. Beispielsweise springt man sofort auf Ladislav Klímas Die Leiden des Fürsten Sternenhoch an. Die Antiquariatspreise sind allerdings ziemlich üppig. Wenn ich es richtig überblicke, lebt nur einer der vorgestellten Autoren (Piotr Szewc). Der andere, Péter Esterházy, starb sozusagen während des Schreibens des Beitrags, der mit "August – Oktober 2016" datiert wird. Von manchen Autoren bespricht er nicht das gängige Buch, sondern ein Nebenwerk, wie etwa bei Tolkien Der Hobbit oder von Daniel Defoe Kapitän Singleton (und nicht Herr der Ringe bzw. Robinson Crusoe). Bei Dostojewski nimmt er der Einfachheit halber "Alles" und klärt dies auf 18 Zeilen. Etliche Schlussfolgerungen sind kühn und gerade deshalb belebend. Etwa warum man England zu einem König, wie ihn Shakespeare in Heinrich V. entwirft, beneiden kann. Oder das Tom Sawyer Achilleus und Huckleberry Finn Odysseus ist. Und das es für jemanden, der im politisch korrekten Sozialismus aufgewachsen ist, ziemlich schwer zu verstehen ist, dass man Mark Twain nun aus dem Lehrplan nehmen will. Wobei: Hier taumelt Kerémy dann doch ein bisschen zwischen Opportunismus und Literatur. Das ungewöhnliche an diesem Essay: Er ist in für deutsche Leser fast ungewohnter Heiterkeit ohne die leider zu häufig verfassten peinlichen Lobhudeleien oder künstlichen Begeisterungen verfasst. Bei T. S. Eliot bekennt Kemény am Ende: "Auch wenn ich Eliot also nicht ganz verstanden habe, so weit schon, dass er, neben Endre Ady, zu meinem zweiten Dichter wurde." (Endre Ady ist der einzige Dichter, der mit zwei Texten besprochen wird.) Außer diesen Essay kenne ich ansonsten keine Publikation von István Kemény – und das ändert rein gar nichts. Denn hier hat jemand Freude am Lesen. Und es macht Freude, so etwas zu lesen.Artikel online seit 14.09.23 |
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