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Festgelesen

Einblicke in zwei aktuelle Ausgaben sehr verschiedener Literaturzeitschriften.

von Gregor Keuschnig

Delfi 01
Man ist bisweilen überrascht, wie viele Literaturzeitschriften es im deutschsprachigen Raum gibt und dann noch überraschter, wenn es jetzt sogar noch eine neue geben soll. Sie nennt sich Delfi (nicht "Delphi" – es wird erklärt, warum) und den Preis für das hässlichste Coverbild hat man schon mal sicher. Die Herausgeber lassen erahnen, dass es nicht nur ein "Magazin für neue Literatur" sondern eben auch eine Zeitgeistzeitschrift sein wird, mit ganz viel Diversität und manche Texte liefern Sterne und Unterstriche in größeren Mengen. Es gibt Lyrik und Prosa, ein Interview und einen Comic; keine Sekundärtexte. Als übergeordnetes Thema für die erste Nummer wurde "Tempel" ausgegeben. Der Tempel, so heißt es, verändert…immer wieder seine Form und Funktion. Mal bietet er Schutz, mal wird er zum Kerker." Mal ist er eine Wohnung, mal ein Gefängnis, so möchte man ergänzen. Am Ende ist alles Tempel. Im übrigen lernt man aus dem Vorwort: "Demut kann nämlich ziemlich hot sein, solange sie uns einvernehmlich in die Knie zwingt."

(
So ein Blödsinn, Demut ist eine Haltung, keine Empfindung, sie demonstriert bewußte Bereitschaft zum Dienen und einsichtige Ergebenheit, etwas Notwendiges hinzunehmen oder sich selbst als nicht so wichtig zu betrachten. Demut ist weder »ziemlich hot« noch zwingt sie Jemanden zu etwas. Anmerkung des Herausgebers/Setzers)

Zwei Erzählungen stechen weit heraus und das ist, wenn man es nüchtern betrachtet, schon viel. Zum einen ist es Maria Stepanovas Geschichte einer Visite (Übersetzerin: Olga Radetzkaja). Es wird über den Besuch der britischen Reporterin Martha Gellhorn im Sommer 1972 bei "Mrs. M.", Nadeshda Jakowlewna Mandelstam, der Witwe von Ossip Mandelstam erzählt. Die Kriegsreporterin Gellhorn ist (nicht nur in der damaligen UdSSR) vor allem als einstige Ehefrau von Ernest Hemingway bekannt. Stepanova wurde in dem Jahr geboren, als Gellhorn für ein paar Tage nach Moskau kam und diese Dame besucht hat. Sie erzählt im Stil einer literarischen Klatschreporterin über eine literarische Klatschreporterin, die über die Witwe eines legendären Schriftstellers schreibt, deren Werke sie (also Gellhorn) mit großer Sicherheit nie gelesen hat. Da ist es fast ein Vorteil, dass man sich auch nicht sprachlich verständigen kann. Das ist sehr komisch und, ansonsten wäre es keine Literatur, viel mehr als das.

Die andere Erzählung ist Der Laderaum von Mohamed Mbougar Sarr, der in der deutschsprachigen Öffentlichkeit im letzten Jahr mit dem großartigen Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen reüssierte. Abermals fungierten Holger Fock und Sabine Müller als Übersetzer. Erzählt wird von Francis Henry, einem ehemaligen Arzt, der nun, im Alter, in einem Sessel sitzend, zunächst meist schweigend, plötzlich einem jungen Menschen die Geschichte eines Lebens erzählt. Es geschah auf einer Fahrt auf einem Handelsschiff als Hilfschirurg vor vierzig Jahren, ein Erlebnis, dass täglich aufs Neue dazu führt, "das Mysterium, die Wahrheit und die Schönheit" der Welt zu sehen.

Zu Beginn seiner Erzählung fragt Francis den jungen Mann, ob er sicher sei, dass die "Schultern stark genug" seien für das, was er hören werde. Diese Frage muss sich auch der Leser stellen. Und vieles spricht dafür, dass man, nachdem man diese Erzählung gelesen, also "geschultert" hat, auch ein ganz kleines bisschen nicht mehr der Mensch sein wird, der man vorher war. Mehr kann man von Literatur nicht erwarten. Und man fragt sich nur, wann endlich die anderen Bücher von Mohamed Mbougar Sarr übersetzt werden.
Man ist gespannt auf 02, wer einem dort auf die Knie bringt.

Schreibheft 101
Zwischen Delfi und Schreibheft liegen nicht nur genau100 Ausgaben. Im neuesten Schreibheft gibt es neben zwei großen Blöcken mit Beiträgen von und über die Autoren Amelia Rosselli (1930-1996) und Larry Eigner (1927-1996) auch einen Essay des ungarischen Schriftstellers István Kemény (übersetzt von Timea Tankó) mit dem interessanten Titel "50 + 1 literarische Pfeiler". Der 1961 geborene Kemény nimmt sich die Fifty Literary Pillars des Amerikaners William A. Gass zum Vorbild und erstellt seine persönliche "Autobiographie" (so der gewählte Untertitel). Dabei erweist sich die Apostrophierung "Pfeiler" als ziemlich gelungen.

Die Texte variieren zwischen wenigen Zeilen und maximal einer Seite und zeigen die höchst persönliche Leserwerdung Keménys in Reminiszenzen und Reflexionen von der Kindheit bis in die Gegenwart. Manchmal wird er sogar ein bisschen wehmütig. Neben Prosa- und Lyrikautoren werden auch Philosophen aufgenommen. Die Spannbreite reicht von Homers Odyssee über Platon, das Lukasevangelium, Don Quijote, Coopers Lederstrumpf, das Kommunistische Manifest, Thomas Manns Zauberberg, natürlich auch ein Goethe, Lampedusas Leopard bis zu Roberto Bolaños Die wilden Detektive. Es gibt Texte zu einem Märchen ohne Autor (Die redselige Schildkröte), über ein Gemälde von Watteau und Thor Heyerdahl, wobei Kemény ein bisschen kleinlaut bekennt, dass ihm früher einmal der Forscher Erich von Däniken besser gefallen habe. Sehr instruktiv die Bemerkungen über C.G. Jungs Erinnerungen, Träume, Gedanken.

Das ist eine disparate und höchst subjektive Auswahl. Daraus macht Kemény gar keinen Hehl. Vielleicht wird man Namen wie Kafka, Joyce oder Camus vermissen, aber es ist eben, auch wenn viele bekannte Werke der Weltliteratur auftauchen explizit kein Kanon. Aber dafür gibt es Möglichkeiten, einige im deutschsprachigen Raum eher unbekannte (meist ungarische) Autoren kennenzulernen. Beispielsweise springt man sofort auf Ladislav Klímas Die Leiden des Fürsten Sternenhoch an. Die Antiquariatspreise sind allerdings ziemlich üppig. Wenn ich es richtig überblicke, lebt nur einer der vorgestellten Autoren (Piotr Szewc). Der andere, Péter Esterházy, starb sozusagen während des Schreibens des Beitrags, der mit "August – Oktober 2016" datiert wird.

Von manchen Autoren bespricht er nicht das gängige Buch, sondern ein Nebenwerk, wie etwa bei Tolkien Der Hobbit oder von Daniel Defoe Kapitän Singleton (und nicht Herr der Ringe bzw. Robinson Crusoe). Bei Dostojewski nimmt er der Einfachheit halber "Alles" und klärt dies auf 18 Zeilen. Etliche Schlussfolgerungen sind kühn und gerade deshalb belebend. Etwa warum man England zu einem König, wie ihn Shakespeare in Heinrich V. entwirft, beneiden kann. Oder das Tom Sawyer Achilleus und Huckleberry Finn Odysseus ist. Und das es für jemanden, der im politisch korrekten Sozialismus aufgewachsen ist, ziemlich schwer zu verstehen ist, dass man Mark Twain nun aus dem Lehrplan nehmen will. Wobei: Hier taumelt Kerémy dann doch ein bisschen zwischen Opportunismus und Literatur.

Das ungewöhnliche an diesem Essay: Er ist in für deutsche Leser fast ungewohnter Heiterkeit ohne die leider zu häufig verfassten peinlichen Lobhudeleien oder künstlichen Begeisterungen verfasst. Bei T. S. Eliot bekennt Kemény am Ende: "Auch wenn ich Eliot also nicht ganz verstanden habe, so weit schon, dass er, neben Endre Ady, zu meinem zweiten Dichter wurde." (Endre Ady ist der einzige Dichter, der mit zwei Texten besprochen wird.)

Außer diesen Essay kenne ich ansonsten keine Publikation von István Kemény – und das ändert rein gar nichts. Denn hier hat jemand Freude am Lesen. Und es macht Freude, so etwas zu lesen.

Artikel online seit 14.09.23
 

 

 


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