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Metaphysik nein Danke

In seinem grundlegenden Essay diskutiert Hans-Ernst Schiller die
Kritik
der verselbständigten Allgemeinheit als Zentrum der marxschen Theorie
und konfrontiert sie mit unserer sozialen Gegenwart. Es geht
»um den Zusammenhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft«.

Von Peter Kern
 

Der Titel des Buchs, Die Wirklichkeit des Allgemeinen, klingt nach einem Thema für Spezialisten. Will sich da einer über das Wissen des nicht Wissenswerten ausbreiten? Weit gefehlt. Hans Ernst Schiller nennt sein theoretisches Geschäft zu recht ein „konzentriertes Nachdenken an den Brennpunkten, an denen Orientierung verlangt ist,…(der) Beziehung der tendenziell total vergesellschafteten Menschheit im Ganzen der Natur.“ Diese Beziehung will Schiller anders; er will eine den Raubbau beendenden Stoffwechsel der Gesellschaft mit der Natur. „Im Verhältnis zu den Tieren und den Ökosystemen herrscht…spätestens seit Beginn der Industrialisierung der Kriegszustand.“

Schiller holt weit aus. Er folgt der von Aristoteles geleisteten Kritik der platonischen Philosophie; damit hebt das Buch an. Das formende Prinzip der sinnlich wahrnehmbaren Dinge könne nicht den überirdischen Ideen zugeschrieben sein. Aristoteles sieht in ihnen gleichsam Fetische; sie verdankten sich menschlichem Denken und würden doch als die Menschen und die Dingwelt begründende Wesen ausgegeben. Platons Ideen haben demnach als von abstrahierendem Denken hervorgebrachte Imitationen der Einzeldinge zu gelten. Die Idee als Grund und das empirische Ding als Begründetes: ein Verhältnis bloßer Tautologie und Aristoteles, der Urvater der Kritik solcher Verkehrung, so der Autor.

Aristoteles denkt dagegen das formende Prinzip, das Eidos, als den stofflichen Dingen nicht transzendent, sondern ihnen immanent. Es verwirkliche am materiellen Ding, was ihm seiner Möglichkeit nach inne wohne. Das Eidos sei das Allgemeine, das den individuellen Dingen als ihr Identisches zukomme. Die menschliche Erfahrung, die das Akzidentelle am wahrgenommenen Phänomen ausscheide, gelange zu dieser Wesensschicht. Dem abstrahierenden Verfahren erschließe sich so die hierarchische Ordnung des Seins. Die jeweils nächsthöhere Gattung sei das Wesen der spezifischen Art: Ein menschliches Individuum gründe in der Gattung Mensch; diese in der Gattung der Säugetiere, die Säugetiere in den Lebewesen, die Lebewesen in der übergreifenden Natur, die Natur im reinen Sein. Das inhaltlich Ärmere sei als der verursachende Grund des Konkreten zu verstehen. Die Hierarchie von niederen und höheren Gattungen habe ihre oberste Spitze im göttlichen Sein. Noch das ihr Fernste, die Materie, gründe in ihm.

Die Ontologie des Aristoteles, könnte man sagen, ist eine Subsumtionslogik, die sich als Konstitutionslogik missversteht. Auch die in den Dingen wirkenden eidetische Formen sind nicht wirklich in den Dingen, sondern es sind Abstraktionen des Denkens. Die Kritik des Aristoteles an den platonischen Ideen wäre auf ihn selbst anzuwenden. Aber das ist nicht Schillers Sache. Er streicht nur den obersten aristotelischen Grund und behält zurück: Materie und Bewegung. Die Energeia (er nennt sie den „Zentralbegriff) sei der Materie und der Materie ihr Telos, ihr jeweiliger Zweck, eingeschrieben. Das erinnert an die von Friedrich Engels vermeintlich entdeckten dialektischen Bewegungsgesetzen der Natur. Hat Aristoteles die Materie noch nahe beim Nichts angesiedelt, ist sie dem Autor als Stoff der Bewegung gleichsam alles.

Das Allgemeine, so Hans Ernst Schiller, existiere nur dort, wo sich die menschliche Gattung vergegenständliche, im Tauschwert, im Werkzeug, im Staat und in der Sprache. Den Naturgebilden dagegen komme kein Allgemeines zu. Man muss also folgern, die äußere Natur existiere nur in zerstreuten Einzeldingen, und erst ihre Bearbeitung präge ihnen die allgemeinen Formen auf. Das ist eine starke Behauptung, mit der sich der Autor, ist sein Gegenstand die erste Natur, entschlossen auf die Seite des Nominalismus stellt. Ist von der zweiten Natur, dem gesellschaftlichen Gegenstandsbereich die Rede, sieht er sich zurecht in der Tradition des begriffsrealistisch argumentierenden Marx. Der nennt die von ihm kritisch durchleuchteten Kategorien der bürgerlichen Ökonomie, den Tauschwert, die Geldform, das sich verwertende Kapital „objektive Gedankenformen“.

Der Bogen der falschen Allgemeinheit sieht Schiller weit gespannt. Ausführliche Passagen sind der am Wert orientierten Ökonomie gewidmet. Mit der ihr Unwesen treibenden Ökonomie ist das System benannt, das der menschliche Gattung die Erfahrung verheerender ökologischer Krisen beschert. Schiller nennt geschundenes Ross und schindenden Reiter. Die Eigentumsform an den Produktionsmitteln, ihre privatkapitalistische Organisation, verursacht das ökologische Problem. Die industriellen Produktivkräfte CO2-frei zu organisieren, Absicht der gegenwärtigen Regierung, wird offensichtlich nicht genügen, um den Klimakollaps noch zu verhindern. Nachhaltigkeit (das aktuelle Lieblingswort des politischen Kommentars) und die Dynamik der Kapitalverwertung gehen nicht zusammen.

Schiller redet mit gutem Grund (und ohne viel Hoffnung) der Systemveränderung das Wort. Dabei kommt eine reformistische Systemveränderung völlig in Misskredit. Als wäre es belanglos, ob die deutschen Industriebetriebe in der Zukunft ohne CO2-Emissionen produzierten oder weiter nach Altväter Art. Wer die treibende parlamentarische Kraft hinter dem gegenwärtigen Strukturumbruch gestärkt sehen will, verkämpft sich in des Autors Augen. Die „parlamentarische Interessenvertretung“ habe „eine vorhersehbar einschläfernde Rolle gespielt.“ So sein Urteil über die Grüne Partei.

Die Themenpalette in diesem Buch ist groß, und die Güte der von Hans Ernst Schiller gelieferten analytischen Teile ist ganz unterschiedlich. In den der Kritik der politischen Ökonomie gewidmeten Passagen erinnert er daran, worin diese Kritik gründet. Der Rückgriff auf Hegel und Aristoteles bringt keine der Wirtschaftstheorie fernen Kategorien ins Spiel, sondern klärt diese Kategorien über sich selbst auf. Das Marxsche Geschäft der Kritik, erinnert Schiller, war kein akademisches, sondern sollte helfen, die moralischen Kategorien nicht genügenden gesellschaftlichen Verhältnisse umzustürzen. Hinter seinen Schriften stand die Empörung. Das Wesen eines Kindes sollte nicht darin bestehen, in einem Bergwerk zu schuften.  

Tempi passati und mit ihnen der olle Marx? Von den nach Kobalt schürfenden Kindern im Kongo hat man schon mal gehört, und auch von dem für die Batteriezellen des Elektroautos notwendigen chemischen Element, und von den solche Verhältnisse fliehenden jungen Afrikanern, die im Mittelmeer jämmerlich ersaufen, hat man auch schon mal gehört. Existieren da Zusammenhänge? Nein, keine, lautet die wissenschaftliche Antwort der etablierten Gesellschaftstheorien, die ansonsten noch jeder subtilen Verknüpfung von System und Subsystem nachspüren. Schiller sieht Ursache und Wirkung. Er hält an der Idee einer „Verwirklichung der Vernunft“ fest. Die Welt kann nicht vernünftig eingerichtet sein, wenn das obere Fünftel der menschlichen Gattung für seinen Lebensstil Ressourcen in einer das globale Ökosystem ruinierenden Menge verbraucht, und das untere Fünftel der Menschheit in einer Fluchtbewegungen veranlassenden Verelendung lebt. 

„Als Metaphysik gehorcht die objektive Vernunft dem Prinzip der Identität von Sein und Denken und verdankt sich dem Ausschluss des Begriffsfremden, Nichtidentischen“, schreibt Schiller. Solche metaphysikkritischen Sätze sind orthodoxe Frankfurter Schule. Dagegen ließe sich fragen: jede Metaphysik? Und hat die Kritische Theorie nicht gegen sich selbst angedacht? An den mit der Theologie Tuchfühlung aufnehmenden alten Max Horkheimers wäre zu erinnern und an die negative Metaphysik, die Karl Heinz Haag geschrieben hat. Bei ihm raunt keine Ursprungsphilosophie, bekommt kein Kapitalismus die Weihe zweckmäßigster ewiger Ordnung verliehen. 

Passagen des Buchs sind dem naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozess gewidmet. Was ist die Bedingung der Möglichkeit von Naturgesetzen, wäre zu fragen. Wenn die den Subjekten gegenüberstehende Dingwelt in Einzelheit zerstreutes Chaos ist - wie der behaupten muss, der eine ontologische Ordnung der Natur als Metaphysik abtut - sind Naturgesetze unmöglich. Die Naturwissenschaften setzen ein auf Seiten des Objekts existentes Allgemeines voraus. Schiller schürft auf diesem Feld nicht wirklich tief. In der Philosophiegeschichte dagegen bewegt er sich bewundernswert souverän; wer kann noch den platonischen oder aristotelischen Begriffen im Original nachspüren, im Falle sich regenden Zweifels an ihrer Bedeutung?

Bei Hans Ernst Schiller findet sich der Leser in einer ordentlichen materialistischen Philosophie wieder. Warum nicht, könnte man sagen, und dass Gott in diesem System seinen Job los ist, schreckt doch nur den simpel gestrickten Teil der Menschheit, könnte man sagen. Der Atheismus ist nicht das Problem, aber seine Begründung. Der materialistische Philosoph halst der Materie auf, was sie nicht leisten kann. Er liest, so will es dem Rezensenten scheinen, auch den Erfinder des Marxismus verkehrt. Marx hat mit dem aristotelischen Begriff der „immanenten Form“ die Metaphysik keineswegs verabschiedet. Man müsste die These des Buchs eigentlich umfunktionieren. Aus einer auf Metaphysik verzichtenden Weltauffassung kommt kein gesellschaftskritischer Gedanke mehr heraus, lautet die These dann.

Wie diese Behauptung begründen? Mit Moses und den Propheten oder mit Die Bibel hat doch recht? Der Hinweis auf Marx sollte erlaubt sein: Wenn er davon schreibt, menschliche Arbeit finde den Naturstoff ohne ihr Zutun vor und bearbeite ihn unter Beachtung der „immanenten Form“, die Marx gleichwohl unter keinen Begriff subsumiert, dann bringt ihn dieser Gedanke in größte Nähe zu einer Metaphysik, die hinter der erscheinenden Welt eine intelligible kennt. Metaphysik ist für den Marxisten Schiller aber ein Unwort.

Er müsste mit seinem naturalistisch gedeuteten Aristoteles zeigen, wie aus roher, einfacher Materie per Bewegung geformte, differenzierte Materie wird. Keine materialistische Philosophie kann diese Genese zeigen. Die Naturgesetze fallen als Erklärung aus, haben sie doch nur als das Mittel der Erzeugung zu gelten. Die Kritik an den sich aufblähenden physikalischen Wissenschaften, am Szientismus also, unterschreibt Schiller, und auch den Zufall schließt er als Welterklärung aus. Ihm kann man ihm nicht mit einer Materie kommen, die via chemische und physikalische Gesetze den genetischen Code einer Zelle erzeugt, die wiederrum mit allen Informationen versehen ist, aus denen die Natur dann ihr Sein und Werden herausliest. Natura naturans molekularbiologisch - das ist schlechte Metaphysik. Dass menschliche, den Naturprozess begreifende Vernunft aus eben diesem Prozess durch natürliche Auslese hervorgegangen sei, solcher Gedankengang würde Schiller Pickel bereiten. Dennoch hält er an seinem Materialismus fest. Der müsste sich, seiner eigenen Voraussetzung nach, mit naturgeschichtlichen, empirischen Befunden kompatibel zeigen, denn sonst steht er in der Tradition einer  romantischen Naturphilosophie, und die ist: metaphysisch.

Der Autor behauptet eine an Zielsetzung orientierte Natur ohne ein absichtsvolles göttliches Wesen. Ihm leuchtet beides nicht ein, weder der Schöpfergott noch der naturwissenschaftliche Gesetzesbegriff. Tertium datur? Schiller verschließt sich in antimetaphysischer Orthodoxie einer Lösung, die den in seinem Buch oft zitierten Horkheimer überzeugte, und die dessen ehemaliger Schüler Haag vorgelegt hat: Negative Metaphysik. Die gibt nicht vor, die Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt zu kennen, aber den Gedanken an Gott hält sie für unverzichtbar, um die Weltauffassung stringent zu halten. Wie Haag argumentiert, muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden. ( Siehe http://archiv.faustkultur.de/4589-0-Karl-Heinz-Haag-zum-10-Todestag-Philosophie-der-wesenhaften-Natur.html )

Schiller hat ein Buch vorgelegt, welches das schwierigste Problem der Metaphysik behandelt und dabei die von der Gegenwart geforderte Antwort ausschlägt. Damit sich die Gesellschaftsmitglieder als Teil einer umfassenden Natur begreifen, die „sie bewahren und befrieden sollten“, wie es in diesem Buch so treffend heißt, fällt Kritischer Theorie die Aufgabe zu, die Unverfügbarkeit der Natur, ihr Recht an sich selbst, zu begründen. Ohne Metaphysik ist diese Rechtfertigung nicht zu leisten.

Der Frankfurter Philosoph, emeritierter Hochschullehrer des Fachs, behandelt eine Summe von Gegenständen mit einer Differenziertheit, die dem Leser ordentlich etwas abverlangt und ihn für die Mühe der Lektüre ordentlich belohnt. Ob es sich um Sprachphilosophie handelt, ob es um den Katalog der Menschenrechte geht, ob technologische Vergegenständlichung als potentielle, „objektive Vernünftigkeit“ verstanden, die Geschichte des Fließbandes nachgezeichnet, ein Exkurs über „Plastikwörter“ geboten wird: Die 350 Seiten haben es in sich. Nirgendwo wird oberflächliches, lexikalisches Wissen verbreitet. Es ist bemerkenswert, dass sich heutzutage noch ein Verlag findet, der ein solches Buch heraus bringt und die Kritische Theorie nicht als toten Hund behandelt oder, auch beliebt, nach der biographischen Behandlungsmethode frisiert.

Artikel online seit 25.07.23
 

Hans-Ernst Schiller
Die Wirklichkeit des Allgemeinen
Soziale Formen objektiver Vernunft: Wert, Technik, Staat und Sprache
Verlag Westfälisches Dampfboot
372 Seiten
40,00 €
978-3-89691-087-5

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