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Retroversion der Arbeiterklasse

Bernie Sanders lesenswerte Kritik am Hyperkapitalismus zeigt,
wie schmal in den USA der Pfad ist zwischen einer sozial gerechteren
Realpolitik und dem Absturz in einen
Autoritarismus Marke Trump.

Von Peter Kern
 

Das Buch ist in der Yes we can-Rhetorik einer Rede geschrieben. Es benutzt die Sprache potentieller Wähler, nicht die eines akademischen, sich über die Soziologie der USA verständigenden Publikums. Es verfolgt eine geradlinige, politische Programmatik. Es ist Erzählung, nicht Analyse. So attackiert es die Superreichen und die Kategorie der Arbeiterklasse benutzt es ganz unbefangen. Es ist zugleich als Ratschlag zu lesen, den der Autor seiner Partei gibt, damit diese die kommende US-Präsidentschaftswahl erfolgreich bestreiten könne. Der Rat eines Progressiven klingt wie aus einer vergangenen Zeit: Die US-Demokraten müssten wieder die Partei einer geeinten Arbeiterklasse sein.

Bernie Sanders hat eine retrograde, sich schon im Buchtitel ausdrückende Beschwörung des Klassenkampfs geschrieben. Die vom Senator und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten vorgetragene Strategie hat für deutsche Ohren einen recht schrägen Sound, aber die US-amerikanischen vernehmen darin eine ihnen vertraute Melodie. Trump ist mit solcher Melodie erfolgreich gewesen und will es in 2024 wieder werden. Sein Cäsarismus besteht darin, den Working Class Heroe zu geben. Er weiß um die Wut der abgehängten weißen Arbeiter auf das schwarze Amerika, das sozial aufgeholt hat. Trumps Politikberater hatten ihm vorgeschlagen, dieses Knöpfchen zu drücken, und er sah, es funktionierte. Dieses Erfolgserlebnis will er wiederhaben, und auch die Köpfchen, womit man den Rassismus gegen die Muslime oder die Migranten bedient, wird er wieder drücken wollen. Sanders, gleichsam Bidens Politikberater, will ihm die Tour vermasseln; darum geht es in diesem Buch.

Trump und die ihm nacheifernden Republikaner wollen die weiße, männliche, minder qualifizierte, in ländlichen Regionen lebende Arbeiterschaft als reaktionäres Stimmvieh, und Sanders will die gleiche soziologische Schicht als progressive Kraft gewinnen. Aus der Ferne sieht es so aus, als wären die Vereinigten Staaten im Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts steckengeblieben, aber das ist ein vordergründiges Bild. Die Vereinigten Staaten sind so wenig eine klassische Industrienation geblieben wie die Bundesrepublik. Auch in den Staaten ist nicht mehr die Handarbeit das Rückgrat der Produktionsprozesse sondern die sogenannte Wissensarbeit. White Collar hat Blue Collar längst überflügelt. Sinnbildlich für das Land ist das Silicon Valley und nicht mehr, wie vor fünfzig Jahren, die einmal Motown genannte Autostadt Detroit.

Warum dann aber dieses Werben um eine schwindende Schicht, das bei dem Milliardär eine schlau kalkulierte Show und bei dem demokratischen Sozialisten wirkliche Parteinahme ist? Die Arbeiterschicht ist in den sogenannten Swing States konzentriert, den zwischen Demokraten und Republikanern umkämpften Bundesstaaten Michigan, Pennsylvania und Wisconsin. Dort waren einmal die klassischen Industrien zuhause und dort ist heute die Heimstatt von Frustration und Depression. In den Rost Belt fließt kaum Investitionskapital, aber die größten finanziellen Mittel des US-amerikanischen Wahlkampfs. In den Swing States absolvieren die Wahlkämpfer ihre großen Auftritte. Wer diese Bundesstaaten hinter sich bringt, schafft es zum Präsidenten. Trump ist dies in 2016 gelungen, Biden in 2020.  

Die Löhne stagnieren, die Rente reicht nicht hin, die Lebenserwartung sinkt; Fentanyl hat König Alkohol verdrängt; so lebt es sich im Rost Belt. Wo einmal zehntausende Fabriken standen, sind Millionen Jobs verschwunden. Die Produktion ist nach Mexiko, nach China oder Vietnam abgewandert. Die Handelsabkommen mit diesen Ländern haben den Exodus veranlasst. Schuld seien die Demokraten unter Clinton gewesen, sagen die Republikaner. Die Partei der Gebildeten und Besserverdienenden habe die Arbeiterschaft verraten. Die Republikaner verkaufen sich als die Partei der Abgehängten. Den Etikettenschwindel durchschauen selbst Teile der afroamerikanischen Arbeiter nicht. Die der Deindustrialisierung zum Opfer fielen, reagieren mit Wut. Trump will diese Wut abermals kurzschließen. Darauf zielt seine Strategie.

Sanders nennt diese Strategie treffend Autoritarismus. Trump hat das Hetzen gegen Minderheiten perfektioniert. Er und seine Gefolgsleute schüren symbolische Kämpfe: Gendern ja oder nein? Bestimmt LGBTQ, welche Biologie Schulkinder lernen? Wo der Autoritarismus die öffentliche Debatte vom Wesentlichen ablenkt, stellt Sanders das für diese  Debatte Wesentliche in den Mittelpunkt. 85 Millionen US-Bürger sind nicht oder nur unzureichend krankenversichert. Jeder vierte Amerikaner kann sich benötigte Medikamente nicht leisten. Wer nur zehn Dollar die Stunde verdient, für den ist der Beitrag für die Krankenversicherung viel zu hoch. Die Hälfte aller Privatinsolvenzen geht auf unbezahlte Rechnungen für private Krankenkassen zurück. Zugleich bezahlt das staatliche Gesundheitswesen den US-Pharma- und -Medizinkonzernen die höchsten Preise weltweit. So kostet eine MRT-Aufnahme in den USA über 1100 Dollar, in Spanien sind es 180 Dollar. Das Gesundheitswesens ist den Renditen der Aktionäre verpflichtet, nicht den Bedürfnissen der Versicherten.

Diese Gesundheitsfürsorge verdient ihren Namen nicht, denn sie ist teuer und ineffizient. Die USA geben pro Kopf doppelt so viel aus wie andere Industriestaaten: über 12.000 Dollar. Drei große Pharmaunternehmen gelten als die profitabelsten Konzerne des Landes: 54 Milliarden Dollar haben sie 2021 gutgemacht. Wir reden von Gewinn, nicht von Umsatz! Sanders schlägt vor, den Kampf um ein robustes staatliches Gesundheitssystem aufzunehmen. Es würde die freie Arzt- und Krankenhauswahl beinhalten und Brillen, Hörhilfen und Zahnersatz zum Leistungskatalog zählen. Für europäische Verhältnisse klingt das nicht gerade nach Umsturz und Revolution. Aber als Umstürzler, als rüder Radikaler wird Sanders gerne geschmäht.

Bernie Sanders ist es gelungen, das Parteiprogramm der Demokraten und Bidens Regierungsprogramm nach links zu rücken. Diesen Erfolg verdankt er seinen vergangenen Wahlkämpfen. Zwar ist es ihm nicht gelungen, sich als Kandidat für die Präsidentschaft durchzusetzen, aber er scheiterte denkbar knapp. Dem alten weißen Mann mit einer Vergangenheit als Grapefruit züchtender Kibbuzim und gelernter Politikwissenschaftler hat eine schlagkräftige Truppe junger Leute die Kampagnen geführt, und viele People of Colour haben sich von seiner geradlinigen Analyse angesprochen gefühlt. Die von Biden betonte Nähe der Demokraten zu den Gewerkschaften dürfte auf Sanders zurückgehen. Der Präsident hat seinen Senator zum Vorsitzenden des Haushaltsausschusses gemacht. Biden und Sanders haben gemeinsam den Neoliberalismus zu Grabe getragen. Der Umbau der Energieversorgung steht im Zentrum ihres Keynesianismus. Allein 300 Milliarden staatliche Dollar fördern nun saubere Energie. Die Bedrohung des Planeten durch die Klimaerwärmung ist existentiell, und nur wer vernagelt ist, kann sie leugnen. Die US-Regierung ist diese Bedrohung endlich angegangen. Mit ihrem Konjunkturprogramm, dem Inflation Reduction Act, sind vier Millionen neue Jobs entstanden und die Arbeitslosenquote ist um 50 Prozent gesunken. Der Green New Deal ist offensichtlich mehr als ein Werbeclaim.

Warum aber ist dieses Industriepolitik forcierende Programm kein Selbstläufer, setzt es doch auf das von der ökologischen Krise gesetzte Thema, ohne die Interessen der Lohnarbeit zu vergessen? Die stärksten Kapitel dieses Buchs handeln von zwei Themen: Der US-Medienlandschaft und dem System der Wahlkampffinanzierung. Eine Oligarchie hat sich in den Besitz der Fernsehanstalten, der Rundfunksender, der Presselandschaft und der Internet-Plattformen gebracht. Die hier professionell Tätigen gehen dem Auftrag nach, mit Klatsch und Tratsch die wirklichen Themen von der Agenda verschwinden zu lassen, eine tägliche To-do-Liste, welche die Amateure auf ihrer digitalen Spielwiese unbezahlt abarbeiten. Die Moderatoren des medialen Networks sind hoch bezahlte Stars, die den Belanglosigkeiten hoch bezahlter Stars Aufmerksamkeit verschaffen. Ihr Job ist es, jede substantielle Diskussion ins seichte Gewässer zu schieben und die den Eigentümern gefällige Meinung herzustellen. Pointe schlägt Politik, und Unterhaltung ist alles.

Der Autor schreibt über eine extreme Klassengesellschaft, zu deren größter Leistung es gehört, sich als solche unkenntlich zu machen. Acht Großkonzernen gehören über 90 Prozent der US-Medien. Wenn die CEO’s dieser Konzerne auf allen Kanälen hören wollen, eine Sozialversicherung käme dem Sozialismus gleich, dann werden sie diese Botschaft umgehend vernehmen können. Die Medienkonzerne sind im Mehrheitsbesitz dreier Fondsgesellschaften. Die Fonds verwalten Budgets in einer Größenordnung, die dem addierten Staatshaushalt aller EU-Mitgliedsländer gleichkommen dürfte. Ein Prozent der US-Bürger sind wirklich Besitzende; ihnen gehören 90 Prozent des gesellschaftlichen, sich in Fabriken, Fernsehsender, Forschungslabors, Supermärkten, Kliniken, Filmstudios, Airlines und Privatunis vergegenständlichten Reichtums. Die bestbezahlten 25 Hedgefonds-Manager der Wall Street sacken mehr Geld ein als die 350.000 Erzieherinnen in den Kindergärten des Landes.

Sanders schreibt gegen die Klassenverhältnisse an, über die er uns en detail informiert. Seine politische Aufgabe sieht er darin, gegen diese Verhältnisse eine starke und visionäre Bewegung in Gang zu setzen. Damit macht man sich keine Freunde. Ein Statistiker hat einmal die während des Wahlkampfs im Fernsehen übertragenen O-Töne der Kontrahenten Sanders und Trump verglichen. 10 Minuten standen 230 Minuten gegenüber. Vergleicht man die finanziellen Mittel des auf Kleinspenden angewiesenen Außenseiters mit den Wahlkampfbudgets seiner Konkurrenten, wird ein beschämendes Missverhältnis deutlich. Zwei Milliarden an Spenden (Schwarzgeld nicht eingerechnet) waren im letzten Wahlkampf eingesetzt, um den gefälligen Wunschkandidaten den Rücken zu stärken und den missliebigen draußen zu halten.

Eine repräsentative parlamentarische Demokratie degeneriert zu einer formalen, so lässt sich das Urteil dieses Buchs über die Vereinigten Staaten zusammenfassen. Sanders spricht von einem abgekarteten Spiel. Er klagt die unbändige Gier der herrschenden Schicht an, und man ist an Gecko, die Figur aus dem Hollywood-Film erinnert. Ein wenig wird es dann auch kitschig: Während eine kleine, ungeheuer wohlhabende Schicht in Luxus schwelgt…führen die meisten Amerikaner*innen ein Leben in stiller Verzweiflung. Dann tauchen noch die üblichen Verdächtigen auf, das Parteiestablishment in Washington und die Blase des Kapitols. Vom Populismus seiner Gegner lässt er sich anstecken, ein Spiel mit dem Feuer.

Das Bild vom gierigen Kapitalisten ist eine Konkretisierung, die dem Kapitalismus genannten System keineswegs entspricht. Karl Marx hat vor solcher Vereinfachung gewarnt, so im Vorwort zu Das Kapital. Was er als Herrschaftsverhältnis einer abstrakten Sache analysiert, lässt sich nicht rückübersetzen in eine personale, für vorbürgerliche Verhältnisse typische Herrschaft. Solchen Kategorienfehler sollte man nicht begehen. Wie leicht werden Personen oder ethnische Personengruppen als die für Ungleichheit Verantwortlichen ausgemacht. Die Geschichte, gerade die deutsche, kennt Beispiele.

Ob die vom Autor vorgeschlagene Reformstrategie erfolgversprechend ist? Man hat seine Zweifel. Besteht nicht die Gefahr, White Collar in dem Maß zu verschrecken, in dem man Blue Collar für sich gewinnt? Sanders, der Wahlkampfstratege, will die in Lohnarbeit Beschäftigten für die Demokraten gewinnen. Er spricht von denen, die in den Logistikzentren, Supermärkten, Fleischfabriken, im Öffentlichen Nahverkehr und im Pflegedienst ihre Arbeitskraft verkaufen. Das sind nicht gerade die den modernen Produktionsprozessen zugrunde liegenden Berufe. Produktion gibt es ja nach wie vor in den USA, wie in allen OECD-Staaten,  nur basiert sie in großen Teilen auf wissenschaftlicher Arbeit und die wird von akademisch Ausgebildeten verrichtet. Die Retroversion der Arbeiterklasse mag vielleicht dem Bild von Frau Wagenknecht entsprechen; der Software-Ingenieur oder die Microchip-Entwicklerin werden sich damit kaum identifizieren.

Artikel online seit 18.11.23
 

Bernie Sanders
Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein
Aus dem Amerikanischen von Richard Barth, Enrico Heinemann und Michael Schickenberg
Tropen Verlag
432 Seiten, gebunden
26,00 €
978-3-608-50220-6

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