Moderne Krise und barocke Form
Die junge Autorin
versucht eine Fortschreibung der Soziologie des 19. für das 21. Jahrhundert. Sie
orientiert sich dabei an Günther Anders, Hannah Arendt und Jacques Le Goff. Sie
benutzt dazu kein formal ambitioniertes Verfahren, sondern das der Summe.
Ihr aus einer Dissertation hervorgegangenes Buch besteht aus drei Teilen, in
denen sie die zeitgenössische Soziologie der Zeit, der Öffentlichkeit und der
Stadt rekapituliert. Nach einem herkömmlichen Verständnis schreibt sie dabei
drei Arbeiten. Es handelt sich bereits formal also um ein barockes Unternehmen,
das mit dem Mittel der Übersteigerung arbeitet. Der Gegenstand des Weltverlustes
ist ebenfalls ein barocker: Der Mensch der frühen Neuzeit sieht sich bekanntlich
als jemand, der sich an ein Floß klammert und damit auf einem Strom einem
Wasserfall entgegentreibt. So läuft auch Alexandra Schauers Untersuchung auf die
Erkenntnis hinaus, dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung in einer
„Verwilderung des sozialen Konfliktes“ (Axel Honneth) angelangt sei. Der Mensch
sperre sich zunehmend aus seiner Welt aus: Mauern, Zäune, Schranken und Türcodes
bildeten die Sprache der neoliberalen Stadt. Das führe feudale Zustände wieder
ein – auch das passt zum Barock wie auch das Folgende: Schauer konstatiert eine
Trippelkrise des Individuums, der Politik und der Handlung („Spätmoderner
Weltverlust als Dreifachkrise“). Und schließlich gibt es im Barock auch das Ende
der Metaphysik: Ihr Buch wiederholt am Ende ein realpolitisches Credo, das die
Überschrift des aktuellen Programms des Frankfurter Instituts für
Sozialforschung bildet, in dessen Umfeld die Arbeit entstand: „Versuchen
wir, was unmöglich erscheint, retten wir das Mögliche!“
Die traurige Welt
Ähnliches hatte vor 100
Jahren bereits Georg Simmel angesprochen. Simmel beschreibt in seinem Essay
Der Begriff und die Tragödie der Kultur eine solche Urgeschichte der
Soziologie als das immanente Dilemma der menschlichen Bemühungen.
Danach konstruiere der Geist die objektive Welt, in der er sich und seine
subjektive Arbeit anschließend nicht wiedererkenne. Was der moderne Mensch
selbst hervorgebracht habe, könne er auch in seiner Kritik nicht wieder
verflüssigen, darüber werde er traurig. Diese Traurigkeit bildet bis heute die
apriorische Grundlage der modernen Menschen.
Die traurige Wissenschaft
Schauers Buch ist damit
auch selbst der Ausdruck einer Krise der Soziologie und ihres Weltverhältnisses.
Das zentrale Motto, welches die Autorin zu Beginn verwendet, stammt von
Siegfried Kracauer: „Die Reportage fotografiert das Leben; ein solches Mosaik
wäre sein Bild.“ Aber es ist eben nur sein Bild und nicht das Leben selbst,
würde Rainer Maria Rilke sagen.
Bei Rilke ist das eine Frage der Poesie, wenn nicht der Theologie. Seine
poetische Sprache ist freilich auch Ausdruck einer zweiten Verdinglichung, in
welcher die Poesie aporetisch versucht, rückgängig zu machen, was die Sprache
des Marketings, der Informatik und auch der Soziologie der Welt angetan hat. Die
Sprache bildet auch Schauers größtes Potenzial. Sie spricht zwar diejenige der
SoziologInnen nach und ist damit Teil der ersten Verdinglichung; es gelingt ihr
aber auch entgegen ihrem offiziellen Programm an vielen Stellen durch eine kluge
Sprachbewegung den Zirkel der Soziologisierung der Welt zu durchbrechen. Das ist
bei aller Übersteigerung etwas sehr Verwunderliches und besitzt zuweilen etwas
Berührendes. Jede Generation habe Athen neu aus Alexandrien zurückzugewinnen,
wusste schon der Hamburger Kunstwissenschaftler Aby Warburg.
Das gilt auch für die alexandrinische Sprache der Soziologie.
Artikel online seit 16.06.23
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Andrea Schauer
Mensch ohne Welt
Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung
Suhrkamp
704 Seiten
35,00 €
978-3-518-29973-9
Leseprobe & Infos
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