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Teaching Disaster

Guillaume Paolis erfrischend polemische Kritik unserer
Denkweisen in postnormalen Zeiten.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Guillaume Paoli legt mit »Geist und Müll« einen philosophisch-politischen Essay in 123 kurzen Kapiteln (Miszellen) mit der Absicht, das »Chaos chaotisch darzustellen«, vor. Es handelt sich um eine radikale Kritik althergebrachter Denkgewohnheiten sowie um einen Abgesang auf den Glauben, wir könnten in allem so weitermachen wie bisher.

Charakteristisch für das Buch ist Paolis teils sarkastischer, doch stets aufgeräumter Fatalismus, der die »postnormalen Zeiten« ins Visier nimmt. Den Begriff leiht sich Paoli von dem US-amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Jerome Ravetz und reflektiert damit die Zeiten, die durch Corona, Ukraine-Krieg, Energiekrise und Klimawandel geprägt sind.
Merkmal dieser neuen Realität ist die Tatsache, dass es keine Krisen im herkömmlichen Sinne in einem an sich gesunden System mehr gibt. Denn was den Menschen gegenwärtig begleitet, ist der permanente Schauder in einer Welt des nicht endenden Desasters.

Die Frage, die sich angesichts dieser aussichtslosen Situation stellt, lautet: Wo steht der Geist in dieser Zeit? Denn für das Denken bedeutet diese neue Realität eine unglaubliche Arbeitsbelastung: Auch geistiger Tätigkeit droht das dauerhafte Scheitern.
Ursprünglich sind für Paoli in diesem Kontext die frühen 1970er Jahre. In Abwandlung eines Begriffs von Karl Jaspers nennt er diese Zeit »Achsenjahre«. Bei Jaspers allerdings ist die »Achsenzeit« (ca. 800-300 v. Chr.) jener Zeitraum, in dem die geistigen Grundlagen der Gegenwart gelegt wurden, die auch heute noch für das Denken ausschlaggebend sind. Paoli deutet diesen Begriff negativ um – als jene Zeit, in der der Siegeszug von Prognosen, Zahlen und Statistiken eingesetzt und die durch den Kapitalismus hervorgebrachten Müllberge in einer global verunreinigten Welt angewachsen sind.

Die Folge: Eine Expansion auch des geistigen Mülls. »Müll entsteht im Kopf«, heißt es bei Paoli, der Wittgenstein ebenfalls um- und weiterdenkt, wenn er schreibt: »Die Welt ist alles, was der Abfall ist.« Müll, so Paoli, sei ein Ding am falschen Ort. Und im Kopf hat dieser Müll eigentlich nichts zu suchen.

Der Essay ist nicht zuletzt eine erfrischende Polemik gegen den neumodischen Begriff »Anthropozän«, wie auch gegen Donna Haraways esoterisch-kitschige Philosophie des »Chthuluzäns«. Aber auch die hippe mystisch-religiöse Phrasendrescherei Bruno Latours (Kapitel 59 trägt den schönen Titel »Latourkundemuseum«) bekommt sein Fett weg, wohingegen Denker wie der französische Soziologe Jacques Ellul und der aus Wien stammende Kulturkritiker Ivan Illich rehabilitiert werden.

Esprit, Fabulierkunst, Eloquenz und Poesie zeichnen Paolis Essay aus. Trotzdem: Wenn das Denken am Ende tatsächlich versagen sollte – was genau kann und will uns das Buch, Produkt des Denkens schlechthin, dann noch mitteilen?

Artikel online seit 08.08.23
 

Guillaume Paoli
Geist und Müll
Von Denkweisen in postnormalen Zeiten
Matthes&Seitz Berlin
268 Seiten
Hardcover mit Schutzumschlag
22,00 €
978-3-7518-0355-7

 

 


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