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Keine Rettung

Charles Ferdinand Ramuz' endzeitlicher Klassiker
»Sturz in die Sonne«
in der Neuübersetzung von Steven Wyss


Von Gregor Keuschnig
 

"Durch einen Unfall im Gravitationssystem stürzt die Erde schnell in die Sonne zurück, strebt ihr entgegen, um darin zu zerschmelzen […]. Alles Leben wird enden. Es wird immer heißer werden. Die Hitze wird unerträglich sein für alles Lebende."

Das ist die Ausgangssituation des Romans Sturz in die Sonne des schweizerischen Autors Charles Ferdinand Ramuz. Man wähnt sich rasch in apokalyptische Prognosen aus der Gegenwart, aber Ramuz wurde 1878 in Lausanne geboren und der Roman erstmals 1922 in französischer Sprache in der Schweiz publiziert. Jetzt hat der Limmat-Verlag dieses Buch von Steven Wyss neu übersetzen lassen – und der Betrieb hat endlich seinen "Klimaroman" als "Neuentdeckung".

Ramuz verortet Sturz in die Sonne in der romanischen Schweiz, am Lac de Bret in Savoyen. "Man lebte unter der Schönheit dieses Himmels", heißt es zu Beginn dieses Abgesangs. Die Nachrichten werden zunächst von vielen Bewohnern nicht ernst genommen. Sicher, es ist seit Tagen (oder Wochen) unerträglich heiß und trocken, aber die Meldung kommt aus Amerika und man weiß ja, "was das bedeutet".

Steven Wyss weist in seinem Nachwort darauf hin, dass Ramuz weniger von einem Roman als von einem "Gemälde" gesprochen hatte. Es kommen unterschiedliche Stimmen zu Wort; manche mehrmals, einige nur kurz, andere länger. Der Ton wechselt vom sachlich-kühlen Ich-Erzähler zum predigerhaft-biblischen bis zum nüchternen Bericht; es finden sich Selbstreflexionen, philosophische Überlegungen oder einfach nur Naturerzählungen. Erst nach und nach wird den Bewohnern klar, dass sie infolge eines nicht mehr aufzuhaltenden Ereignisses sterben werden. In dem polyphonen Chor der Stimmen werden nun die einzelnen  Bewältigungsmechanismen erzählt. Dabei fällt rasch das, was man Zivilisation nannte, zusammen. Es gibt Plünderungen, Morde aber auch Freitode. Überall entstehen "Republiken", "wie in alten Zeiten, als Dörfer noch von Mauern und Gräben umgeben waren." Ein Apfelbäumchen pflanzt niemand, aber ein alter "Korber" bekennt immerhin trotzig: "Ich werde bis zum Ende weitermachen, was auch passiert."

Steven Wyss erklärt, warum der Roman in einer mündlichen Sprache, mit teilweise falscher Grammatik geschrieben wurde: Weil es so im Original steht und Ramuz dies so wollte, um die authentische Sprechweise der Leute wiederzugeben. Immerhin genoss der Autor in seiner Zeit literarischen Ruhm und wurde mehrmals für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen.

Im Unterschied zu den bekannten Weltuntergangs-Blockbustern gibt es bei Ramuz, obwohl das Ende nicht auserzählt wird, keine Rettung. Die Auswirkungen der veränderten Gravitation – Erderwärmung, Wasserknappheit, soziale Verwerfungen – kann man parallel zur Klimakrise der Gegenwart lesen. Bemerkenswert, dass Ramuz auf Sensationselemente und Pathos fast vollkommen verzichtet. Der Roman lässt einem gerade deshalb lange nicht los.

Artikel online seit 11.09.23
 

Charles Ferdinand Ramuz
Sturz in die Sonne
Roman
Übersetzt und mit einem Nachwort von Steven Wyss
Limmat Verlag
192 Seiten
26.– €
978-3-03926-055-3

 

 


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