Narrative mit Niveau
Bücher
mit Ensembles und Epochendarstellungen sind seit langem in Mode. Dieter Henrich
setzte einen Markstein mit seiner Konstellationsforschung über die
Umgebung der Romantiker in Jena und Berlin. Das drängte von sich aus ins
Feuilleton. Florian Illies, der heute als Berater von Kunstauktionshäusern
arbeitet, schuf mit seiner Montage aus der Welt der künstlerischen Avantgarden
1913. Der Sommer des Jahrhunderts über Rilke, Alma Mahler und Schönberg
die leicht konsumierbare und vergnügliche Blaupause für eine ganze Reihe von
nachfolgenden „Büchern mit Niveau“, wie etwa 1936. Sommer in Ostende von
Volker Weidemann über Stefan Zweig, Joseph Roth und ihre Anhänge. Schwierige
Theorie schön verpackt, das Lesen soll leicht sein und Spaß machen, so verkaufen
sich schließlich auch die Bücher besser. Daher gräbt sich das aktuelle
Literarische Quartett im Fernsehen sein eigenes Grab, wenn dort nur wie in
einer Kindergartengruppe darum gerungen wird, wer am lautesten „Pipikacka“ und
„Ficken“ ruft. Freudig muss die Sache sein, nach Urlaub schmecken und angenehm
und nicht zu unappetitlich dargebracht. Beliebt sind daher heute Weichbilder von
Landschaften und entsprechend programmatischen Titeln wie: Adorno in Neapel:
Wie sich eine Sehnsuchtslandschaft in Philosophie verwandelt von Martin
Mittelmeier und umgekehrt. Während der Vordergrund gelobt wird, nimmt man gern
auch die Abkürzung über den Hinterhof, aber wie gesagt, immer mit Stil. Bereits
1966 hatte Wilhelm Weischedel mit seinem Buch Die philosophische Hintertreppe
einen leichtgängigen, anekdotischen Zugang zu großen Philosophen gesucht und
gefunden. In den Bereich der Jugendliteratur führen Jostein Gaarders Sophies
Welt oder Richard David Prechts erfolgreiche wissenschaftsjournalistische
Veröffentlichungen mit lustigen Titeln wie: Wer bin ich und wenn ja, wie
viele? zur Philosophiegeschichte für EinsteigerInnen jeglichen Alters diese
Trends zusammen. Narrative sind schließlich auch außerhalb der
Literatursoziologie groß in Mode – die Welt wird so zu einer einzigen großen
Erzählung, die sie angeblich schon immer war.
Frankfurt Babylon: Am Tisch mit Kaffee und Kuchen
Beliebt
ist seit Sören Kierkegaard aber nicht allein der Ausguck über den Strand, die
Berge oder die bukolische Ebene, sondern auch der spionspiegelunterstütze Blick
aufs und aus dem bürgerlichen Interieur. Wolfgang Martynkewicz erntet alle diese
Blätter und Früchte aus den Gärten des Feuilletons ab und legt ein Buch über die
Topografie des soziologischen Denkens aus der Perspektive des heute noch
existierenden Kaffeehauses Laumer in Frankfurt vor. Hier sollen Ende der
Zwanzigerjahre bei Mocca und Petit Fours die freischwebenden
Intellektuellengruppen um Paul Tillich, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno auf
der einen und diejenige um Karl Mannheim und seinen Assistenten Norbert Elias
auf der anderen Seite zusammengekommen sein. Am Katzentisch sind Hannah Arendt
und ihr erster Mann Günther Stern (später Günther Anders) ebenfalls mit von der
Partie. Beim Biskuit auf der Zunge und dem Heißgetränk in der Hand klappt‘s
nicht nur mit der Nachbarin, sondern auch mit der Erinnerung. Martynkewicz
vermittelt dabei kenntnisreich zwischen dem intellektuellen und existenziellen
Leben. So erfahren wir von rauschenden Ballnächten und Darkrooms bei den
Tillichs, von offenen Cabriofahrten, von zu Torten hübsch lächelnden
Studentinnen, wo dann auch die ansonsten einsamsten und nonkonformistischsten
Denker wie Norbert Elias aus sich herauskamen. En passant lesen wir eben auch
von Diskussionen über Ideologie sowie Freundschaften und Feindschaften
untereinander. So soll Bildung heute sein, vor allem folgenlos. Kurz: das
entsprechende Klima wird in Adaption von The Crown von Stephen Daldry nun
im Protoformat einer weiteren Netflix-Serie Die Intellektuellen als eine
in Kapitel gefasste Reihe von einfühlenden Kostümepisoden dargebracht – die
andere Rasse der königlichen Familie hier, die neuen Menschen als Soziologen da.
Die biographische Mode bleibt auch im Ensemble erhalten.
Das Unternehmen umfasst die Konstitution der jungen Frankfurter Universität und
ihre später berühmte Personage in den Fächern Soziologie und Philosophie bis
1930; die Jahre der Machtergreifung der Nazis und Emigration der zumeist
jüdischen Intellektuellen und ihr Schicksal im Exil bis zur Abfassung der
Dialektik der Aufklärung und den Untersuchungen zum Autoritären Charakter.
Immer geht es um Geschichte und Geschichten, wo der Kaffeetisch und das
entsprechende Kränzchen stets nicht weit sind, wie zum Beispiel in New York, wo
dann Paul Tillich mit Karen Horney zusammenkommt, der ehemaligen Geliebten von
Erich Fromm. Lustig für die einen und traurig für die andern ist das
Emigrantenleben. Die Rückkunft ab 1950 in Deutschland, die ebenfalls viel Stoff
bietet (Antisemitismus, Wirtschaftswunder, Heidegger, der für Hannah Arendt
Fußnoten für ihren Benjamin Aufsatz zusammensucht etc.) wird in einem Epilog
vorerst nur angedeutet. Möglich also, dass hier noch eine Fortsetzung, eine
zweite Staffel der Serie geplant ist und dann eine dritte und eine vierte wie
bei Rüdiger Safranski.
Akzentverschiebungen
Das hat
viel Gutes, weil man durch solche Umwege über die Herzen einen anderen Zugang zu
der Welt der heute als große Geister Angesehenen bekommt. Das Herz ist
schließlich ein einsamer Jäger (Carson Mccullers). Andererseits macht sich hier
unabweisbar eine fragwürdige Restaurierung der Verhältnisse breit. Bereits
The Crown ist eine Ausstattungsserie. Adorno selbst beginnt seine
Negative Dialektik mit dem schönen Satz: „Philosophie, die einmal überholt
schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt
ward.“ Das war auf die versäumte Revolution sowie die Existenzial- und
Lebensphilosophie von Heidegger und Co. und die von ihnen unhinterfragten und
idealisierten Lebensbedingungen gemünzt. Es gilt nun seit längerem auch für
seine eigenen fragilen philosophischen Versuche: Je geringer heute die kritische
Geltung des Impulses der Frankfurter Schule in der Soziologie und der
Gesellschaftspolitik ist, je weniger kritische Geister in ihrem Gefolge gar noch
davon träumen können, einen Lehrstuhl zu ergattern, umso größer die Möglichkeit,
sie zumindest als solche Klassiker im Café anzusehen. Das Lied vom Lob des
Canapés lässt grüßen.
Eine beliebte Form, um den politischen Sprengstoff zu entschärfen, bestand in
der Einengung der entsprechenden Tradition der Frankfurter Schule: heterogene
Elemente und die Metaphysik wurden ausgesiebt, soziologische Studiengänge
geschlossen, zugleich die ordentliche Erbfolge bis hin zum weiterhin
existierenden Institut bis in die Terminologie der Forschungsprojekte hinein neu
geregelt. Dort wird nun mit einer Reihe aus den Archiven beim Campusverlag das
Erbe der ersten Generation bewirtschaftet. Eine weitere Variante besteht in der
aktuellen Diskreditierung der Finanzierung des Instituts als Angriffe im Namen
des armen Walter Benjamins mit antisemitischen Tendenzen gegenüber Horkheimer,
Pollock und das angebliche Lotterleben der Geldgeber Hermann und Felix Weil.[1]
Zuvor hatte bereits die Neue Frankfurter Schule um Robert Gernhardt und
Eckhard Henscheid eine immerhin selbstironische Ridiculisierung angestoßen, die
gerade deswegen ihre Berechtigung besitzt. Böse fällt diese allerdings
beispielsweise neuerlich bei dem englischen Klatschjournalisten Stuart Jeffries
aus, der sich bereits im Titel des alten Vorwurfs von Georg Lukács vom Grand
Hotel Abgrund annimmt und die Geschichte nochmal mit persönlichen Angriffen
aus der pornografischen Sphäre gegenüber Herbert Marcuse würzt.[2]
Wie ein Pfeil fliegt man daher, als ob man selber einer wär'...
Martynkewicz ist dagegen nicht böse gestimmt. In seinem Buch findet eine
freundliche Verschiebung statt, die man nun eine Netflixisierung der
Frankfurter Schule nennen kann. Vorboten dieser Richtung, die Frankfurter
zur neuen Antiquität der Geistesgrößen à la Cicero zu erklären, waren
sicherlich Martin Jays Dialektische Phantasie, Peter Gordons und John
McCormicks Weimar Thought: A Contested Legacy oder Rolf Wiggershaus
erfolgreiche Akzentverschiebung in Die Frankfurter Schule von der
Aktualität auf die Historisierung. Das setzt Martynkewicz voraus und baut darauf
auf. Im vorliegenden Werk zeigt sich die entsprechende Tendenz ebenfalls bereits
im Titel. Der schließlich gefundene: Das Café der trunkenen Philosophen
wirft die Frage auf, warum das Buch nicht Das Café der betrunkenen
Philosophen heißt? Und warum wird hier nicht gegendert? Haben die
LektorInnen beim Aufbau-Verlag nicht aufgepasst? Oder sind nur die männlichen
Philosophen betrunken? Die zweite wäre eine Überschrift, die aus einem Buch von
Eckart Henscheid stammen könnte. Der würde dann wohl ironisch nachtreten und
sagen, es gäbe gar keine Philosophinnen; Hannah Arendt jedenfalls wollte selbst
keine sein. Gleisnerisch aber, wie Robert Gernhardt sagen würde, benennt unser
Autor aus poetischen Gründen das Buch mit dem Ausdruck aus der Hochsprache. Sein
Titel klingt wohl nicht ganz zufällig nach Hölderlins Gedicht Hälfte des
Lebens von 1804: „Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr
das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser.“
Bestellungen mit Augenzwinkern
So also
werden Klassiker gemacht, die bereits schon solche sind und nun aber auch in
andere Medien gehoben werden können. Der Verlag wirbt schon mal auf dem Umschlag
wie für einen Film mit vielen Stars: „Mit Hannah Arendt, Theodor W.
Adorno, Paul und Hannah Tillich, Gisèle Freund, Max Horkheimer u v. a.“ Ins
nicht zu unterschätzende Medium der Speisekarte hat man es anscheinend im
real noch existierenden Café Laumer schon geschafft, dort gibt es, wie der
Kritiker aus gewöhnlich gut unterrichteter Quelle weiß, das „Frühstuck Adorno“,
„Frühstück Habermas“ oder „Frühstück Cohn-Bendit“, selbstverständlich
augenzwinkernd, zu bestellen. Dazu passt es allerdings nicht, dass sich
zumindest Kracauer mit seinen Freunden gar nicht dort, sondern im Café Westend
gegenüber der Oper getroffen hat. Dem Simulacrum solcher Selbstermächtigung tut
das alles gewöhnlich keinen Abbruch. Im neuen Medienensemble fehlt also nur noch
die Netflix-Fassung als Crossover von Buch und Digitalfernsehen.
For armchair-readers and future-watchers
Zur
digitalen Aura des Buches gehört, dass hier die LeserInnen eine Reihe von
Informationen und Details bekommen, die sie vorher noch nicht wussten und die
jetzt den Blick auf das vormalige Leben, der hier immerhin nicht offen
verachteten Geister freigeben. „Armchair-philosopher“ nennt Stuart Jeffries
spöttisch Herbert Marcuse; im vorliegenden Buch hat die Perspektive gewechselt
und nicht mehr nur die Philosophen, sondern auch ihre LeserInnen sitzen im
Sessel, auf dem Sofa oder dem Thonet-Stuhl – vielleicht sogar im Café Laumer –
und schauen den inneren Bildern der geschriebenen einzelnen Episoden respektive
Kapiteln der Proto-Serie zu. Ist man mit den ganz vergnüglich gehaltenen ersten
gut 500 Seiten durch, darf man auf die angekündigte zweite oder sogar eine
dritte Staffel gespannt sein. Die spielt vielleicht in Deutschland nach 1960 in
Bonn, Frankfurt und Berlin? Da könnte es dann um so brennende Themen wie den
Vietnamkrieg, die RAF und das Busenattentat gehen. Das könnte durchaus wieder
lustig und lehrreich zugleich werden und vor allem mit einer solchen Konsequenz
für das eigene Leben wie die Lektüre eines Harry Potter Romans oder die
Netflix-Nachbarserie über Prinz Harry und Megan. Oder vielleicht doch nicht
ganz? Sollte man vielleicht nicht das Kritteln lassen und selbst auch
mitspielen? Falls die Castings beginnen: der Kritiker würde gerne vorsorglich
wegen einer zumindest eingebildeten physiognomischen Ähnlichkeit für die Rolle
des jungen Erich Fromm in der Ersten Staffel schon einmal seine Bewerbung
abgeben.
Artikel online seit 09.02.23
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Wolfgang
Martynkewicz
Das Café der trunkenen Philosophen
Wie Hannah Arendt, Adorno & Co. das Denken revolutionierten
Aufbau Verlag
459 Seiten
30,00 €
978-3-351-03887-8
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