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Plädoyer für eine wehrhafte Demokratie

Eine Geschichte der Bundesrepublik als Skandalchronik

Von Wolfgang Bock

 

Der kommende Putsch als fixe Idee
Wolfgang Kraushaars jüngster Buchtitel Keine falsche Toleranz will gegen rechte Verfassungsfeinde vorgehen. Er gemahnt nicht umsonst an Herbert Marcuses Formeln von der „repressiven Toleranz“ und der „repressiven Entsublimierung“. Marcuse war ein Mentor der deutschen Studentenbewegung und zuvor im amerikanischen Exil für die Zeitschrift für Sozialforschung der Spezialist für rechtsradikale Ideologie im Nazi-Deutschland: „Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung“ lautet ein weiterer programmatischer Titel, mit dem er die Kernsätze der totalitären Ideologie umschreibt. Kraushaar nimmt diese Motive auf und führt Marcuses Kritik in seiner Analyse des politischen Nachkriegsdeutschlands in Bezug auf solche rechten Umsturzpläne weiter. Denn das Lieblingskind der alten wie der neuen rechten Populisten und Faschisten ist und bleibt der Putsch – der Angriff auf die Verfassung, die Anzettelung eines Bürgerkriegs und die Ausrufung des Ausnahmezustands unter Aushebelung der Verfassung. Mussolinis Marsch auf Rom 1922 oder Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle 1923 stehen Ihnen auch heute noch als Leitbild vor Augen für die Erstürmung des Reichstags in Berlin 2020, die Besetzung des Washingtoner Kapitols 2021 oder des Regierungsgebäudes in Brasilia 2022.

Die Putschisten stützen sich immer auch auf entsprechende Tolerierungen von oben. Die Zweideutigkeit einer demokratisch verfassten Bundesrepublik einerseits und eines autoritären Bewusstseins ihre realen Bürger andererseits bleibt festgeschrieben und ist latent anwesend in den Titeln „Bundestag im Reichstag“ oder der „Dritten Strophe des Deutschlandliedes“, wo immer auch die beiden ersten mitgemeint sind. Ruft man diese Staatssymbole auf, so erscheint neben der demokratischen Seite jeweils notwendig das Gegenstück eines völkischen Nationalismus als ihr Schatten. Es handelt sich um die deutsche Variante der entsprechenden doppeldeutigen Reden des heutigen japanischen Kaisers Akihito über die Kriegsschuld der Japaner gegenüber den Chinesen oder den Koreanern, der sich nicht eindeutig vom Segen der Gräueltaten der Soldaten durch seinen Vaters Hirohito (1901-1989) absetzt. Ähnliches gilt für die jüngsten Reden der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der universellen Gültigkeit der faschistischen Werte Mussolinis. Kraushaar zeigt anhand der Affären und Skandale um die Wiederbewaffnung, die Geheimdienste und den Verfassungsschutz, dass es auch in Deutschland bis in die Mitte der 1960er Jahre hinein eine verhängnisvolle unmittelbare Kontinuität der NS-Eliten in der Ära Adenauers gibt. Je mehr sich die staatlichen Institutionen allerdings in den 1960er Jahre mithilfe der Studentenbewegung darüber aufklären, umso deutlicher nehmen nun die rechten Kräfte mittelbar die Position außerhalb des Parlaments ein. An den Pranger gestellt aber werden in der Regel nicht die völkischen Feinde der Demokratie, sondern ihre linken Kritiker als Nestbeschmutzer.

Von den Skandalen der Adenauerära über die Innere Einheit bis zu den Coronaprotesten
Wolfgang Kraushaar zeigt in seiner Chronik die verhängnisvollen Kontinuitäten der nationalsozialistischen rechtsetzenden und rechterhaltenden Gewalt. Er verfolgt die Präsenz der NS-Eliten durch die Adenauerzeit, die 1960er Jahre über die Demokratisierungen der sozialliberalen Koalition und die „Wende“ des Kanzlers Kohl bis zum traurigen Höhepunkt des Anschlusses der ehemaligen DDR. Diese führt ab 1990 im Zeichen des neuen Nationalismus die Ausbrüche von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der DDR nun – wie es die Pogrome in Rostock und Hoyerswerda, aber auch in Mölln und Solingen zeigen – zu ungeahnten Höhen.[2] Kraushaar sticht den Finger in die Wunde der Blindheit auf dem rechten Auge in den Staatsapparaten der Polizei, der Bundeswehr, der Justiz und des Außenministeriums im Osten wie im Westen. Er zeigt so sachlich wie unerbittlich, dass die Hydra des aggressiven Nationalismus ihren Kopf mit den Protesten der Pegida, der „Protestpartei AfD“, den Querdenkern und den Reichsbürgern ebenso wie den Coronaleugnern wieder erhoben hat. Unter der Ägide der sogenannten sozialen Medien und den fake news erscheinen neue Rekrutierungsformen der rechten Ideologie der angeblichen „Entvolkung“ und „Diktatur der demokratischen Parteien“ in altneuer Form.

Die wehrhafte Demokratie
Zugleich setzt Kraushaar auf einen demokratischen Widerstand, der vom Grundgesetz ausgeht. Dieses ist maßgeblich im Geiste des „Nie wieder Faschismus!“ vom SPD-Staatsrechtler Carlo Schmid initiiert worden. Kraushaar erinnert an den Geist und die entsprechenden Anfänge des Parlamentarischen Rates und setzt auf eine wehrhafte Demokratie. Er schreibt über Schmid:

»Ihn beschäftigte damit die Frage, ob sich die parlamentarische Demokratie ein weiteres Mal so verhalten solle, wie es die Weimarer Republik gegenüber den Nationalsozialisten getan habe. Und seine Antwort lautete, dass es nicht zum „Begriff der Demokratie“ gehöre, dass diese selbst auch noch „die Voraussetzungen für ihre Beseitigung“ schaffe.« (S. 36)

In Anbetracht der Fragilität der Demokratie bezüglich ihrer eigenen Abschaffung durch demokratische Prinzipien versuchten die Mütter und Väter des Grundgesetzes daher sogenannte Ewigkeitsklauseln in die Verfassung einzubauen, um auch bei undemokratischen Mehrheiten eine demokratische Grundlage des Staates zu gewährleisten. Der daraus resultierende Begriff einer „wehrhafte Demokratie“ ist eine Übersetzung des Begriffs „militant democracy“ des deutschen Emigranten Karl Loewenstein.[3] Im Grundgesetz wird aus einem entsprechenden Verhaltensgebot allerdings ein Gesinnungsgebot, wenn aus dessen Geiste in der Bundesrepublik zunächst 1952 die neofaschistisch eingestellte Sozialistische Reichspartei und 1956 dann aber die KPD verboten wird. Und Schmid wird dann weder Parteivorsitzender, noch Kanzlerkandidat oder Bundespräsident. Das wird nach Theodor Heuss dann der ehemalige KZ-Baumeister Heinrich Lübke.

Gewalt eines Generationenverhältnisses
Wenn man in den 1970er Jahren den Kriegsdienst verweigern wollte, so konnte man das theoretisch aus politischen Motiven heraus tun. In der Praxis lief diese aber auf eine aus individuellen ethisch-religiösen Gründen hinaus. Hätte man damals Kraushaars Buch und seine Fakten über die skandalöse Wiederbewaffnung und seine gerichtsfesten Belege zur Hand gehabt, so wäre ersteres sehr viel einfacher gewesen. Aber auch das bleibt hypothetisch, denn dann hätte man immer noch an dem Gewissensprüfungsausschusses im Kreiswehrersatzamt vorbeigemusst, dessen Vorsitzender („Sie haben wieder die MP dabei!“), in der Regel selber in der NSDAP und in der Wehrmacht, mindestens aber in der Bundeswehr gewesen war. Faktizität als Geltung.

Heute ist diese Kriegsgeneration ausgestorben. Kraushaar zeigt aber auch, dass es eine verhängnisvolle Fortsetzung dieser Ideologie innerhalb des Generationsverhältnisses gibt: So war beispielsweise der Vater des rechtsradikalen Bundeswehroffiziers Franco A., der sich 2016 als syrischer Flüchtling ausgab, ein Waffennarr ebenso wie der rechtsradikale Vater Tobias Rathjens, des Attentäters von Hanau, der im Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordete. Und auch der Vater des Mörders Mario A., der in der Aral-Tankstelle in Idar-Oberstein 2021 einen Angestellten erschoss, war ein solcher Waffenfetischist. Er hatte im selben Jahr seiner Frau in den Kopf geschossen und sich anschließend selbst umgebracht. Die Mutter lebte noch, konnte aber wegen der Corona-Restriktionen von ihrem Sohn im Krankenhaus nicht besucht werden. Der wiederum projizierte seine Wut auf den Tankstellenkassierer Alexander W., der ihn bat, eine Maske aufzusetzen und erschoss ihn.

Abspalten und Projizieren: Unser inneres Ausland
Versuchen wir es exemplarisch ein wenig mit Sozialpsychologie: Die ambivalente Gewalt aus dem inzestuösen Zusammenhang wird nach außen projiziert und richtet sich gegen alles, was diese überhaupt ansprechen will. Auf diese Weise entsteht eine eigene Keimzelle von Fremdenfeindlichkeit unter der Abwehr der Abspaltung und Projektion. Damit ist dieser Mechanismus immer noch derselbe, den Wilhelm Reich 1933 als Kernstück der Massenpsychologie des Faschismus auf den politischen Satz gebracht hat: „Der Russe will das Eigentumsrecht des weißen Mannes an seiner Frau sozialisieren.“ An die Stelle der aggressiv nach Außen gewandten Wut gegen den Russen sind mittlerweile die Schwarzen, die Syrer oder die Vertreter des Hygienestaats als Objekte getreten. Seit dem Krieg Putins gegen die Ukraine 2022 sind auch wieder antirussische Gefühle erlaubt. Unabhängig davon, ob diese Angst real ist oder nicht, werden die entsprechenden Aggressionen auf den Feind von außen übertragen. Das ist die psychologische Grundannahme jeder Fremdenfeindlichkeit: Die eigene Rolle als Aggressor wird negiert, der Feind im Außen festgemacht. Es handelt sich um diachrone Motive, die auch in einer Chronologie des repressiven Nationalismus die Rolle eines Pfahls im eigenen Fleisch spielen. „Das Äußere ist ein in Geheimniszustand erhobenes Innere“, wusste schon Novalis; und setzte hinzu: „Vielleicht auch umgekehrt.“ Diese zweite Dimension verfolgt Kraushaar mit seinem politischen Blick, ohne die erste aus den Augen zu lassen. Entsprechende Details und scheinbare Einzeltäter fügen sich in der Lektüre zu einem strukturierten Bild der rechten Szene zusammen, die sich längst nicht mehr am rechten Rand bewegt, sondern die Mitte der Gesellschaft erfasst hat. Kraushaar zeigt das auch in seinen Porträts von Alexander Gauland oder Björn Höcke.

Eingedenken zum Selbstdenken
Wolfgang Kraushaar ist als Chronist wie als Kritiker geschult: sowohl an der Geschichte der repressiven Staatsorgane gegen die Maßnahmen der Roten Armee Fraktion als auch an den Aktionen fetischisierter Gewalt, mit der deren Mitglieder versucht haben, der Staatsgewalt der BRD und der USA Paroli zu bieten. Auch sie bedienten sich ihrer hehren tyrannenmörderischen Ziele wegen oft genug rechtsradikaler Mittel. Diese Position eines doppelten Kritikers macht Kraushaar zu einem unbestechlichen Beobachter der in Deutschland latent immer vorhandenen und nun neuerlich wieder manifest aufbrechenden rechten Gewalt.

Kraushaar belegt seine Thesen mit genauen Namen, Daten und Orten. Es sind Fakten, die dem engagierten Leser der 600 Seiten schwer im Magen liegen und ihn nachts auch in den Träumen heimsuchen. Der Text liest sich denn auch einerseits wie ein Polizeibericht à la Aktenzeichen XY-Rechtsradikalismus ungelöst, er erscheint andererseits dadurch aber auch als eine Traumerzählung, in der jedes Detail wichtig ist und gerichtsnotorisch werden kann. Unerbittlich entsteht so das Bild einer Welt, hinter der es keine höhere metaphysische Ebene mehr gibt. Alle Motive dieses Albtraums gehen auf solche aus der Wachwirklichkeit zurück, wie schon Thomas Hobbes wusste. Rechtsradikale Phantasmagorien wie: „Den Asylantenspuk beenden!“ gelten hier nichts mehr.

Muss man sich das aber antun und jede Seite des Buches lesen und die Darstellung wie die Gegenstände, von denen sie handelt, entsprechend bewusst aufnehmen und memorieren? Der Kritiker befürchtet, dass das eine notwendige Rosskur eines Eingedenkens darstellt. In der Lektüre des Buches kann prinzipiell nachgeholt werden, was in der politischen Wirklichkeit bislang versäumt worden ist. Auf der Präsentation des Buches in einem Salon kam allerdings im Publikum die Frage auf, was man gegen den immer frecher im Gewand des Populismus auftretenden Rechtsradikalismus tun könne? Es wurde mit anderen Worten nach entsprechenden Argumenten gefragt. Da beschlich den Kritiker der Zweifel, ob eine solche Argumentationshilfe – als eine Art „politischer Nürnberger Trichter“ – etwas nutze? Denn jede noch so humanistisch motivierte Absicht muss doch bereits diese Fakten wissen, um damit von sich aus zugleich den Geist zu entwickeln, der sie findet: Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe blind, wusste schon der Aufklärer Immanuel Kant.

Poetischer Trichter: Eine aktuelle politische Debatte über Kritik der Gewalt
Die Lektüre des Buches ist daher notwendig, wenn auch nicht hinreichend. Um zu einem halbwegs vollständigen Bild zu gelangen, muss man sich selbst auf die Suche begeben. Dazu allerdings gibt das Buch eine Anleitung. Diese hilft vor allem, wenn man versteht, wie es aufgebaut ist. Denn Kraushaar liefert historisch aussehende Argumente in der aktuellen politischen Debatte. Daher folgen den materialreichen Abschnitten über die Kontinuität des Willens der Rechten zum Putsch immer wieder Kapitel, in denen die Grundlagen der Fakten rekapituliert und eingeschätzt werden. Bereits die Überschriften sind in diesem Sinne programmatisch und benennen Ross und Reiter. Sie lauten im letzten, zusammenfassenden Teil des Buches:

Die Unterwanderung und Unterminierung der Sicherheitsbehörden
Der Ethnozentrismus als Matrix
Die Radikalisierung der Mitte
Radikalismus statt Extremismus
Der Mythos des Antifaschismus
Die Konsequenzen
Keine falsche Toleranz.

Versteht man diese Untertitel nun nicht allein soziologisch, so kann man sie sich auch als Teil eines sachlich abgefassten Barockgedichtes denken und damit der entsprechenden Poetik eines „poetischen Trichters“ Harsdörffers (1607-1658) folgen. Dann kann man erkennen, dass es sich um sich immer weiter aktualisierende Akkumulationsstufen der Argumente handelt, die Kraushaar in seinem Buch in den Materialkapiteln beigebracht hat. „Keine Metaphysik“ bedeutet dennoch nicht, dass es keine Unheilstendenzen in diesem Gefüge gäbe. Kraushaars unerbittlicher Stil wirbelt die Fakten aus ihrer scheinbaren völkischen Tiefe, aus der sie stammen an die politische Oberfläche, an der allein sie gelöst werden können. Es gibt kein höheres Wesen, das uns retten könnte.

Davon spricht auch der schwedische Literatur-Nobelpreisträger Tomas Tranströmer in einem irritierenden Gedicht. Dieses erscheint trotz seiner Kürze dem 600 Seiten Werk Kraushaars auf das Engste verwandt. Tranströmer schreibt: „Träumte, ich sei in einem Krankenhaus, / nur Patienten, keine Ärzte.“ Das ist auch die nüchterne Diagnose des Dr. pol. Wolfgang Kraushaar. Er schlussfolgert, dass die Verteidiger der Verfassung und des entsprechenden Patriotismus‘ auch heute die Sache selbst in die Hände zu nehmen hätten, um eine Gerechtigkeit zu erwirken, an der alles gelegen ist. Das Buch mit den entsprechenden Hinweisen sollte daher als notwendiger Kommentar zum Grundgesetz in keinem deutschen Haushalt fehlen.

[1] Wolfgang Kraushaar, Keine falsche Toleranz. Warum sich die Demokratie stärker als bisher zur Wehr setzen muss, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2021.

[2] „Die fremdenfeindliche Mordserie stellt den größten politkriminellen Einbruch in der Geschichte der Bundesrepublik dar. Er ist zwar keine — wie an den neonazistischen, fremdenfeindlichen und rassistischen Wellen vor 1989 in der DDR zu erkennen war — bloße Folge der deutschen Einigung gewesen, hat aber seitdem einen unerhörten Schub erfahren. Das Narrativ von der ‚friedlichen Revolution‘, die zur Wiedervereinigung geführt habe, ist ebenso korrektur- wie ergänzungsbedürftig. Es trägt vor allem der Tatsache keine Rechnung, dass die rassistische Kontinuität zwischen der DDR-Zeit und der der gesamtdeutschen Republik weiter anhielt.“ (S. 334)

[3] Vgl. Karl Loewenstein, “Militant Democracy and Fundamental Right”, in: American Political Science Review 31/1937, S. 417-437 und S. 638-658.

Artikel online seit 05.03.23
 

Wolfgang Kraushaar
Keine falsche Toleranz!
Warum sich die Demokratie stärker
als bisher zur Wehr setzen muss
Mit einem Geleitwort von Gerhart Baum
Europäische Verlagsanstalt
606 Seiten, Hardcover
34,00 €
978-3-86393-142-1

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