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»Zeige nie, was du denkst...«

Roy Jacobsens Roman beschreibt das Heranwachsen der »Unwürdigen«
in Oslo während der deutschen Besatzung.

Von Gregor Keuschnig

 

Nicht immer braucht es Dystopien, um den Schrecken in der Welt sichtbar zu machen. Manchmal reicht ein Blick in die Vergangenheit. So schreibt Georges Simenon in einem Nachwort zu seinem 1948 erstmals veröffentlichten Roman Der Schnee ist schmutzig: "[E]ine Besatzung ist schlimmer als der Krieg selbst, weil sie viel mehr Schmutz aufwirbelt, weil sie Misstrauen und Hass erzeugt, deren Stempel dem Volk für lange Zeit aufgedrückt ist." Simenons Roman ist in einem nicht näher bestimmten Land angesiedelt; die Anklänge an die deutschen Besatzer Belgiens während zweier Weltkriege sind deutlich. Auch Die Unwürdigen des norwegischen Schriftstellers Roy Jacobsen spielt hauptsächlich während der deutschen Besatzung Norwegens von April 1940 bis Mai 1945.

Im Zentrum stehen Olav, Carl und Roar und ihre Familien, die in einem Arbeiterviertel in Oslo leben. Sie sind zu Beginn 15 oder 16 und bessern die spärlichen Einkommen ihrer Eltern durch Diebstähle und Einbrüche in leerstehenden Villen auf. Dabei kommt der Schulbesuch oft genug zu kurz. Olav, der unausgesprochene Anführer, hat zwei Gesetze: "Zeige nie, was du denkst, besonders nicht Fremden." Und man soll, wenn man zu lügen angefangen hat, es "ordentlich" machen. Die Drei sind wortkarg und schroff; man zeigt häufig offene Verachtung. Carl "zog es vor, andere zu bedrohen, wenn er etwas von ihnen wollte". Er ist es, der sich an seinem Vater abarbeitet, ihn der Feigheit bezichtigt. Das wird er später revidieren müssen. Es gibt noch einmal einen fast unbeschwerten Sommer, aber danach gerät die Clique immer mehr in den Strudel zwischen Hehlern, Spitzeln, Willkür der Besatzer und scheinbarer Anpassung, in dem einige für die Deutschen arbeiten, aber nur, um dem Widerstand Informationen zu geben. Olavs Vater, der "Ehrenmann des Alltags", verschwindet eines Tages spurlos. Die Jugendlichen werden, wie es einmal heißt, zu schnell erwachsen. Hier gibt es keine abenteuerliche Kästner-Detektive- oder Vorstadtkrokodile-Welt, hier geht es um das blanke Überleben. Nicht alle werden dies schaffen. Das Ende des Krieges bringt nur sehr langsam Entspannung; zu viele Kollaborateure sind davongekommen. Schließlich gibt gegen Ende des Romans noch einen brutalen Akt von Rache und Selbstjustiz.

Roy Jacobsen bemüht einen weitgehend chronologisch berichtenden, allwissenden, manchmal etwas im Märchenton agierenden Erzähler. Einiges wirkt, als habe er eine Verfilmung anvisiert. Manchmal wünscht man sich, dass Olav, Carl und Roar Helden von Knut Hamsun gewesen wären (Carl legt einmal einen gefälschten Ausweis mit dem Nachnamen "Pedersen" vor). Irgendwann wollte Jacobsen dann einfach zu viel Zeitkolorit liefern. Dabei ist ihm der Sprung der verbliebenen Protagonisten in die Gegenwart der 2020er Jahre überhaupt nicht gelungen. Trotz der angesprochenen Selbstjustiz-Szene könnte man sich Die Unwürdigen allerdings gut als Schullektüre vorstellen.

Artikel online seit 11.09.23
 

Roy Jacobsen
Die Unwürdigen
Roman
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann.
C.H. Beck
978-3-406-80691-9
331 S., mit 1 Karte
26,00 €

 

 


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