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Die Lücken,
die das Alphabet lässt |
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Wer Tagebuch schreibt, weiß, dass kein roter Faden die einzelnen Episoden des Lebens durchzieht: Ereignisse, Schicksale, Freude, Trauer und Banalitäten reihen sich scheinbar sinnlos und willkürlich aneinander. Mosaiksteinchen, Bruchstücke, die manchmal nicht zueinander passen. Und sollte es dennoch so etwas wie einen Plot geben, dann ist es das Ich selbst, das sich in den biografischen Notizen reflektiert. Nicht anders ist es bei der namenlosen Erzählerin in Navid Kermanis Roman mit dem schönen Titel „Das Alphabet bis S“. Ein Jahr lang notiert sie in insgesamt 365 Einträgen ohne Datum, was ihr als Intellektuelle, Reporterin, Schriftstellerin widerfährt. Es sind tatsächlich Widerfahrnisse im Sinne des antiken Pathos, des Erleidens: Tod, Trennung, Krankheit, die das Leben der Protagonistin bestimmen. Am eindrücklichsten in diesem Sinne ist der Abschnitt 149, ein Leereintrag aus gutem Grund, eine Bruchstelle im Buch, im Leben der Erzählerin. Man muss, was hier nicht geschrieben steht, lesen. Lesen, was sich in diesem Moment auflöst, was zerbricht, was die Dinge und die Welt so radikal verändert, dass es nicht in Worte zu fassen ist. Damit knüpft das Alphabet an Kermanis Roman „Dein Name“ an, das als Totenbuch, Tagebuch und Familiensaga konzipiert und ein Buch über die Frage ist, was bleibt, wenn sich der Körper in Nichts aufgelöst hat. Wie dort, so denkt das Alphabet über die Ungewissheit nach, die an unseren Namen haftet, sinniert über das Unbekannte und Unverstandene in jeder Biografie. In beiden Romanen spielt zudem die Literatur eine herausragende Rolle. Im Alphabet nimmt sich die Erzählerin die eigene Bibliothek vor und widmet sich den bis dato ungelesenen Büchern in alphabetischer Reihenfolge. Bis wohin sie kommt, verrät bereits der Titel des Romans. Am Ende werden die Gedichte von Wisława Szymborska, vor allem ihr Jahrmarkt der Wunder, zur Begleitmusik:
Ein Wunder, so weit man
schauen kann:
Ein beiläufiges Wunder,
beiläufig wie alles: Aber auch die Passagen über den befreundeten ungarischen Schriftsteller und Fotografen Attila Bartis beeindrucken. In der Tat sind es neben ein paar wenigen Frauen hauptsächlich männliche Literaten, die im Leben der Erzählerin eine Rolle spielen, wie einige Kritiken monieren – ganz so, als ob es eine Rolle spielt, wer schreibt …Artikel online seit 15.09.23 |
Navid Kermani
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