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Hans-Jürgen Krahl, neuerliche Angaben zur Person

Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus aus dem Mandelbaum Verlag

Von Peter Kern

Er galt als Rädelsführer der Revoltierenden, wie sein Pendant Rudi Dutschke. Die gegen ihn hetzenden Kommentatoren nannte ihn Robespierre aus Bockenheim. Adorno sah in ihm seinen begabtesten Schüler. Mit gerade mal 27 Jahren kam Hans-Jürgen Krahl bei einem Autounfall ums Leben. Er wäre dieses Jahr achtzig geworden.

Der Starhalunke, zu dem ihn die bürgerliche Presse machen wollte, war er nicht. Die publizierte Hetze projizierte ihr manipulatives Geschäft auf ihn. Individuen, die selbsttätig und unter der Gefahr des Knüppels auf die Straße gingen: unvorstellbar. Sie sollten nicht also autonom handelnde Individuen gelten, sondern als Masse und Marionette und er als der Strippenzieher.

In den bürgerlichen Redaktionsstuben war man gegen eine wirkliche Wahrnehmung der Republik gepanzert. Die Ermordung Benno Ohnesorgs, der Gift spritzende Springer-Konzern, die Notstandsgesetze, die gewesenen Nazis in hohen Staatsämtern, das sollte Pipifax sein im Vergleich mit den paar Steinwürfen und brennenden Bildzeitungs-LKWs. Im Hause Springer ging die große Angst herum, der Protest der akademischen Jugend könnte bei den Arbeiterjugendlichen auf Resonanz stoßen. Ganz abwegig war diese Angst nicht, wie die Jahre 1968 ff zeigten.

Nach dem Attentat auf Dutschke musste wohl auch Krahl um sein Leben fürchten. Alexander Kluge, der den Sammelband Für Hans-Jürgen Krahl eröffnet, schreibt davon. Krahl hatte in dem verstorbenen, ihm in großer Freundschaft zugetanen Udo Riechmann einen Beschützer. Er war ja eine öffentliche und damit gefährdete Person; er redete auf Teach-Ins, führte Demonstrationen an, hielt Schulungen an Kneipentischen ab, stieß Bildungsprozesse unter jungen Arbeitern an. Einige aus seiner Schule hervorgegangenen junge Linke setzten diese Bildungsarbeit in den Gewerkschaften fort. Hermann Kocyba gehörte dazu. Sein Beitrag in dem Buch zeigt einen der bloß akademischen Gelehrsamkeit völlig abholden Krahl.

Es war nichtakademische Theoriebildung, der er sich verschrieb, aber es war immer noch anspruchsvolle Theorie. Krahls Bedeutung kommt von seinem Begriff der Emanzipation; mehrere Aufsätze verweisen darauf. Er entfaltete ihn in einer Weise, die der alten Arbeiterbewegung, ob in ihrer sozialdemokratischen oder ihrer kommunistischen Variante, ganz fremd war. Dieser Begriff zündete, weil er das Lebensgefühl der Revoltierenden aufnahm. Die wollten ihr Recht auf einen eigenen Lebensentwurf verteidigen. Sie wollten sich nicht mit einer Biografie abfinden, die den vom Arbeitsmarkt gebotenen Chancen unterzuordnen war. Es war die vorweggenommene Idee eines guten Lebens, das nicht nach der Gleichung verlaufen sollte: Hart arbeiten und die Frustration über das ungelebte Leben mit wahllos konsumierten Gütern zudecken. Der traditionelle Sozialismus hatte für dieses Bedürfnis kein Sensorium.

Krahls theoretische Texte wirkten auf die revoltierenden Jungen wie Sprengsätze des Bewusstseins. Er verstand es, die Kategorien der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie als Begründung dieser Emanzipationsbedürfnisse zu dechiffrieren. So ist der abstrakten, wertschöpfenden Arbeit die konkrete entgegengesetzt. Die als Mittel der Verwertung angewandten Arbeitskräfte werden in ihren vitalen, jenseits der Arbeit liegenden Bedürfnissen verletzt. Der Gebrauchswert, die Konsumtion, gar die weitgehende Abschaffung der Arbeit sollten zu ihrem Recht kommen. Es ging der Revolte nicht um die rastlose Entfaltung weiterer Produktivität. Gebrauchswert, Bedürfnis, Interesse – der von Krahl formulierte Dreiklang hörte sich beinahe an wie das Echo von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Die von Marx abstrakte Arbeit genannte Tätigkeit ist die Abstraktion von den Bedürfnissen der ihr unterworfenen Menschen, und diese Abstraktion vollzieht sich im Interesse der toten Sache. Krahl sah in der Studentenbewegung eine Aufklärung im Selbstvollzug. Und in den linken Basisgruppen sollte sich der Vorschein einer freien Gesellschaft realisieren. Wer das Pech hatte, einmal in solchen Gruppen gelandet zu sein, war sein Leben lang gehandikapt, muss man im Nachhinein feststellen. Wieso Pech, wieso Handikap? Weil er (oder sie), als alles vorbei war und das richtige Leben begann, den auf der Arbeit abverlangten Teamgeist und die verordnete Corporate Identity wie Zahnschmerz erlebten.

Die von Krahl formulierte konkrete Utopie misst sich an dem erreichten Stand hoch entwickelter Produktivkräfte. Deren hohes Niveau führt den Effekt mit sich, die Bedürfnisse zu verfeinern, sie immaterieller werden zu lassen. Man will nicht unter Hierarchiezwängen arbeiten; man will an der Produktion eines nützlichen und ökologisch verträglichen Gutes beteiligt sein; Frauen wollen sich keiner patriarchalen Zumutung aussetzen. Solche Interessen artikulierten sich damals zum ersten Mal. Der ihnen zum begrifflichen Ausdruck verhelfende Krahl knüpfte an Herbert Marcuse an.

Krahl durchbrach die Orthodoxie des alten Klassenbegriffs; darauf verweisen etliche Aufsätze. In der Old School galt: Die Klasse, das ist das Proletariat. Wer sich ihr als Akademiker anschließen will, muss erst einmal seine Klasse verraten. Was für ein Unsinn, zeigte Krahl. Die Industriearbeit ist längst wissenschaftsbasiert, und die für Forschung, Entwicklung und Produktion zuständigen Männer und Frauen, die Ingenieure, Techniker, Datenspezialisten und Designer sind Teil dessen, was Marx den ideellen Gesamtarbeiter nannte. Die 68er Bewegung war auch eine Trauer darüber, dass es mit dem alten akademischen, von Industriearbeit befreiten und damit privilegierten Individuum zu Ende ging. Auch dies hat Krahl formuliert.

Die abstrakte Arbeit weitet ihren Herrschaftsbereich immer weiter aus. So funktionieren Kliniken im privaten Kapitalbesitz nach dem Outputprinzip einer Fabrik. Dass solche Arbeit unglücklich macht, traute sich die Generation von 68 zu formulieren. Aber ist ihr Impuls nicht völlig verschüttet? Auch die heutigen, in der Industrie gelandeten, wissenschaftlich ausgebildeten und von der Ökologiebewegung politisierten Leute wollen keinen Mist produzieren. Sie sind immer weniger bereit, für gute Bezahlung von solchem Interesse Abstand zu nehmen. In den Gewerkschaften tauchen immer mehr junge Leute auf, die es als empörend finden, die dritte Generation eines SUV-Benziners fortentwickeln zu müssen, während sich ihr Arbeitgeber als Avantgarde des E-Mobils in an Kunstwerken erinnernden Werbespots verkauft.

Die alten soziologischen Kategorien greifen nicht mehr. Heutige Beschäftigte sind weder Mittelstand noch Kleinbürger, und selbst der Begriff des Angestellten führt noch zu sehr die Konnotation von Kontor und Bürogemütlichkeit mit sich. In den Büros, den Laboren, den Werkshallen stehen alle unter der Tyrannei der knappen Zeit. Immer muss es schnell gehen, die Entwicklung der neuen Maschine, ihr Durchlauf durch den Prozess der Fertigung, ihre Auslieferung an den Kunden. Das ganze Berufsleben wird mit Zeitvorgaben malträtiert. Und dann steht einer am Ende seines Berufslebens und fragt sich, wo das eigene Leben geblieben ist. Eine neue Linke, die es vermöchte, das Recht auf Glück in einer vor Reichtum berstenden Gesellschaft zu politisieren, hätte eine Chance auf Zukunft. Und Krahl könnte ein wiederzuentdeckender Theoretiker sein.

Der neue Geist des Kapitalismus hat die in Rede stehenden Bedürfnisse sehr genau registriert. Er will sie einhegen und er lässt sich dabei einiges einfallen. Die Unternehmen bieten sich ihren Angestellten als identitätsstiftende Korporationen an. Partizipatives Management gilt als der letzte Schrei. Agile, auf Selbstorganisation setzende Projektarbeit ist angeblich längst das Prinzip des Workflows. Aber da verdampft viel heiße Luft, und die Realität dahinter sieht aus wie eh und je.

Die Internalisierung der harten Leistungsnormen ist brüchig; die Personalabteilungen wissen darum. Der falsch Hedonismus der Warenwelt trifft auf eine protestantische Ethik abverlangende Berufswelt. Das macht einen Spagat erforderlich, den viele nicht hinbekommen. In den Konzernzentralen ist man seit Jahr und Tag in Sorge um die rechte Motivation der Angestellten. Man sucht nach Ideen, um den Konflikt zu entschärfen und die Arbeitsmoral sicherzustellen. Der Mangel an Fachkräften spielt dabei nicht in die Karten und die Gewöhnung ans Homeoffice ebenso wenig. Das Homeoffice war nötig, um die Pandemie zu bewältigen; nun ist der Geist aus der Flasche und man bekommt ihn nicht mehr gebändigt. Die Leute sollen wieder in die Büros zurückkommen, und schon fängt der Ärger an. Bei der Volkswagen AG hat es schon geknallt, und die Vorsitzende des Betriebsrats musste den neuen CEO zum Tänzchen bitten.

Die Autorinnen und Autoren diese Buchs schreiben ohne Bezug zu den Organisationsproblemen einer Partei oder einer Gewerkschaft. Solche Probleme scheinen unter ihrer Würde zu sein. Diese vornehme Distanz können sie sich von Krahl nicht abgeschaut haben. Der hielt trotz mitunter überbordender Revolutionsrhetorik den Kontakt zum Beispiel zur IG Metall. (Einem Gerücht zufolge erbte er den Schreibtisch des ehemaligen Vorsitzenden Otto Brenner) In weiten Teilen sind die Texte in der Diktion des Dissertationsmarxismus geschrieben. Ärgerlich sind die mit dem Weihrauchfass operierenden. So stellt ein Autor Krahl in die Reihe mit Marx, Engels und Rosa Luxemburg „ein unglaublicher Revolutionär, vergleichbar nur mit wenigen.“ Im Eppstein Eck haben ihn seine damaligen Genossinnen und Genossen weniger heroisch gesehen.

Mehrere Autoren rechnen sich der sozialrevolutionären Linken zu. Das ist eine Art existentialistische Selbstermächtigung. Man berauscht sich an der Phrase: Klassenkampf statt Realpolitik. Was aber ist, wenn der Klassenkampf mangels Teilnehmer ausfällt? Ist man dann Sozialrevolutionär oder Solipsist?

Artikel online seit 16.08.23
 

Gerber, Meike, Kapfinger Emanuel, Volz, Julian, Hrsg.
Für Hans-Jürgen Krahl
Beiträge zu seinem antiautoritären Marxismus, Wien/Berlin 2022
Mandelbaum Verlag
304 Seiten
18,00 €
978385476-910-1



 

 


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