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»Vergiss deinen Schmerz«

Ein lesenswertes Werk, das
als Wirtschaftsbuch daherkommt und doch eine Art deutsches Sittengemälde ist:
»Von den Ursprüngen der Deutschland AG zur Neuorientierung börsennotierter Unternehmen.«

Von Peter Kern
 

Das Wort hatte die britische Wirtschaftspresse geprägt und es war keineswegs freundlich gemeint. Die Deutschland AG galt als das Synonym der gegen die ausländische Konkurrenz abgeschotteten Ökonomie, ein Old Boys Club, bestehend aus den drei großen deutschen Universalbanken, den Versicherern und den Industrie- sowie den Handelskonzernen. Diese hießen Preussag, Veba, Horten, Mercedes, Mannesmann und heißen heute TUI, EON, Galeria, Daimler, Vodafone. Hinter der Namensänderung steht ein völlig verändertes Finanzierungsmodell. Die Substanz ist aber ganz unverändert geblieben: Die Verwertung des Kapitals muss dessen Metamorphosen durchlaufen, damit sie gelingt und aus Geld mehr Geld werden kann.

Dieses Buch macht verständlich, was einmal die Stärke der Deutschland AG war. Das Geflecht wechselseitiger Personal- und Kapitalverflechtung ist jedoch kontraproduktiv geworden und deshalb aufgelöst worden. Versteht man Grund und Folgen, bereichert man seinen Begriff der Gegenwart ungemein. Es wird hier nicht nur ökonomische Fachwissenschaft verhandelt, wie die beiden Autoren in ihrem Selbstmissverständnis glauben. Sie liefern, gleichsam gegen ihre Absicht, die Kontur der Gegenwartsgesellschaft, indem sie diese Gesellschaft von ihrer Vorgängerin abheben.

Gäbe es in der deutschen Literatur noch einen Uwe Johnson, wäre die Geschichte der Deutschland AG längst geschrieben. In diese Zeitspanne fallen Begegnungen der besonderen Art. Aus dem ehemaligen Buchenwaldhäftling und KP-Mann Willi Bleicher ist der Bezirksleiter der IG Metall im für die Deutschland AG so gewichtigen Stuttgarter Raum geworden, wo man das Wirtschaftswunder in Form von Automobilen zusammenschraubt. Aus dem ehemaligen SS-Sturmbannführer Hanns Martin Schleyer, der in Böhmen und Mähren Zwangsarbeiter für das Deutsche Reich rekrutierte, ist das Vorstandsmitglied des mit der Produktion von Mercedesmodellen befassten Konzerns geworden, zu dessen Aufgabe es gehört, die Tarife für die Schrauber auszuhandeln. Bleicher und Schleyer sind dazu verdammt, miteinander auszukommen. Schleyer nutzt die Tiefgarage, um ungesehen ins Gewerkschaftshaus zu kommen, wo eine Packung seiner Lieblingszigaretten und ein ihn mit Herr Doktor titulierender Gewerkschaftsboss auf ihn warten. So sah Tarifpolitik einmal aus.

In der Deutschland AG kam den Gewerkschaften ein Stimmrecht zu. Das hat seinen Ursprung in der Novemberrevolution 1918. Aus Angst vor der Sozialisierung schluckten die Ruhrbarone die Kröte, mit den Gewerkschaften einen Tarifvertrag auszuhandeln und ihr verhasstes Gegenüber damit anzuerkennen. Die Nazis schafften den Unternehmern die Gewerkschaften wieder vom Hals, aber nach dem Ende des Naziregimes war die lästige Kröte wieder da. Der IG Metall-Funktionär erzählte, wie die neulich noch Wirtschaftsführer Genannten förmlich um ihn herum scharwenzelten, kannte er doch die Biografien seiner Gegenüber. Die zitterten um ihr Eigentum an den Fabriken, aber mit dem Beginn der 50er Jahre mussten sie nicht mehr zittern Bleichers Erzählungen hatten etwas von Hoffmanns Erzählungen; auch an ihn erging die Aufforderung: „Vergiss Deinen Schmerz.“

Die Genese der Deutschland AG fehlt weitgehend; das Buch setzt erst ein, als die Regeln dieser AG (man spricht heute von der Governance) längst in Geltung waren. Die beiden Autoren beschreiben sehr schön, welchen politischen und ökonomischen Gewinn ein kleiner Personenkreis aus dem korporatistischen Arrangement zog. Eine Bank mit mehr als 25 Prozent Anteilen an einem Konzern sah sich von der Steuerzahlung für seine Dividenden befreit. Wer hatte, dem wurde gegeben. Aber das Matthäus-Prinzip kannte auch seine Kehrseite. Die Beteiligung sollte gehalten werden; wer sie veräußerte, musste über 50 Prozent Steuern zahlen. Wer Vorstandsmitglied einer Bank war, saß als Aufsichtsrat in einer AG und umgekehrt. Bis zu zehn Mandate sammelten die umtriebigen Geschäftsführer. In dem Prinzip des Ankeraktionärs sah die jeweilige Bundesregierung den Garanten ökonomischer Stabilität. Die deutschen Konzerne sicherten sich gute, den ausländischen Konkurrenten versagte Kreditkonditionen. Die draußen vor gehalten wurden, trugen schwer an der liability of outsidership, der Bürde, Außenseiter zu sein, wie man in der angelsächsischen Wirtschaftspresse klagte.

Die Bilanzierungsvorschriften nannte man konservativ. Das war ein Euphemismus für das Buchungsverfahren, erzielte Gewinne in stille Reserven zu verwandeln. Ein Steuersparmodell und gut geeignet, um die Jagd der kleinen Aktionäre nach der großen Dividende einzuhegen. Als ein Kleinaktionär einmal Genaueres wissen will, bekommt er vom Vorstandstisch beschieden: Stille Reserven heißen so, weil darüber Stillschweigen zu wahren ist; eine dem Buch zu entnehmende Anekdote. Bei den Vermögenswerten galt das sogenannte Niedrigwertprinzip, was einer Verschleierung der Vermögensverhältnisse gleich kam. Man hielt große Aktienpakete, rechnete sich aber arm, indem man Rezession und Kurssturz antizipierte. Ein realistische Bild der finanziellen Konstitution eines Konzerns hatten nur die Eingeweihten. Mit einer klugen Bilanzpolitik ließen sich gute Geschäftsjahre verschleiern und schlechte hochjubeln. Die Hauptversammlung der AG war in der Hauptsache dem Verzehr von Schnittchen gewidmet, schreiben die Autoren.

Warum das Ende dieses Schlaraffenlands? Es kam, als es mit dem sogenannten Realsozialismus  zu Ende ging, und die Ökonomien der Sowjetunion und ihrer Satelliten kollabierten. Plötzlich und zum ersten Mal war der Weltmarkt wirklich vorhanden. Die weitere Öffnung Chinas und der lateinamerikanischen Länder hatte den Konzernen der Industrienationen einen Zuwachs von drei Milliarden potentieller Arbeitskräfte und Konsumenten beschert. Die Deutschland AG war zum Hindernis geworden. Denn Fabrikstandorte und Vertriebsgesellschaften aufzubauen, kostete Summen, die das Potential der kreditgebenden Hausbanken überstiegen. Die Notwendigkeit, sich vom gebundenen Kapital zu trennen, wurde für die Banken wie für die Konzerne zur unabweisbaren Pflicht. Das Strickmuster des Modell Deutschlands, Beteiligungen über Kreuz, war anachronistisch geworden.

Als die Regierung Schröder den Unternehmen und den Kreditinstituten im Jahr 2000 erlaubte, sich von den wechselseitigen Beteiligungen zu trennen, ohne dass ihnen für die Veräußerungsgewinne eine müde Mark an Steuern abverlangt wurde, führte Rot-Grün fort, wozu Schwarz-Gelb mit seiner Idee vom schlanken Staat angesetzt hatte. Die Ära von Private Equity, Hedge Fonds und Investmentgesellschaften begann. Einem gewissen Friedrich Merz war die deutsche Geschäftsführung von BlackRock anvertraut, dem das Mehrfache des deutschen Haushaltsbudgets verwaltenden, weltweit größten Fonds. Der Startschuss für eine ökonomische Periode war erfolgt, an deren Ende der Titel des Exportweltmeisters zu erringen war.

Auf dem Weg zum Titelgewinn hatte das deutsche Management einen radikalen Wandel durchzumachen. Es musste sein 1968 hinter sich bringen. Worin bestand der Wandel? Thomas Hutzschenreuter und Sebastian Jans zählen auf: Die Vorstände mussten für die Transparenz ihres Geschäftes sorgen; denn ohne Transparenz kein Interesse der Investoren. Der US-amerikanische Standard der Bilanzierung zwecks realistischen Unternehmensbilds war ihnen nun abverlangt; denn wer investiert, tut dies nicht ins Blaue hinein. Der Anlegerschutz für die Investmentfonds war zu verbessern.  Die Quote des Eigenkapitals war zu erhöhen; im alten System lag sie oft unter 20 Prozent. Die feste Vergütung wurde auf etwa 30 Prozent abgestrippt, der große Batzen wird seither nach Maßgabe des Geschäftserfolgs als Bonus oder Aktienoption ausgezahlt.

Den Wind des Wandels verstärkte damals das erstmals zuverlässig vorhandene Informations- und Telekommunikations-System (ITK), das stabile Internet und der Mobilfunk per Satellit also. Eine Fabrik in der ungarischen Tiefebene ließ sich nun von Oberschwaben aus steuern. Hier waren beispielsweise die Entwickler eines Autokonzerns am Werk, nach deren Zeichnungen das neue Modell in der Pusta zu fertigen war. ITK - den drei Buchstaben, kam damals eine beinahe mythische Bedeutung zu. Auch der Alltag kennt laut Roland Barthes seine Mythen.

Einer Frage gehen die Autoren, beide Lehrstuhlinhaber für strategisches Management, nicht nach; sie liegt außerhalb ihres wissenschaftlichen Departements: Warum fiel die Renovierung des Modell Deutschlands der rot-grünen Regierung  und nicht den schwarz-gelben Vorgängern zu? Helmut Kohl war der König der Strippenzieher. Aber die Strippen, denen seine Partei die stärkste Unterstützung verdankte (Stichwort Parteispendenskandal), dünnten damals aus. Zu den neuen ökonomischen Herren fehlte Kohl der Kontakt, den die SPD mit den sogenannten Finanzmarktförderungsgesetzen herzustellen wusste. Die Steuer auf Börsenumsätze fiel, und das Ansehen der SPD in Finanzkreisen stieg. Gerhard Schröder avancierte zum Genossen der Bosse, einen Titel, den er sich nicht ungern gefallen ließ.

Das Resümee des Buchs gerät ziemlich mau. Private Equity und Investmentfonds sind gekommen, um zu bleiben; man hat es geahnt. Ein wirklicher Ausblick fehlt. Die Deutschland AG hat doch eine schöpferische Zerstörung à la Schumpeter erfahren und internationalisiert geht es weiter. Was dem Buch abgeht, ist die Sicht auf die gegenwärtige Industriepolitik. Das FDP-Element in der aktuellen Regierung trägt diesen Staatsinterventionismus mit, obwohl er dem offiziell gepredigten Liberalismus völlig widerspricht. Die SPD und die Grünen versuchen, einen Strukturumbruch industriepolitisch zu moderieren, der in seiner Wucht dem Ende der Montanindustrie gleich kommt, die einmal eine ganze Epoche geprägt hatte.

In der politischen Öffentlichkeit fehlt eine Debatte, die das mit dieser Industriepolitik auftretende Demokratiedefizit skandalisiert. Konzerne der Chipindustrie wie Intel und Infineon bekommen gegenwärtig die Hälfte ihrer Investitionen mit Bürgergeld, genannt Steuern, gesponsort. Kann es da angehen, dass der als politischer Souverän beschworenen Bürgerschaft Sitz und Stimme in den Gremien dieser Konzerne verweigert wird? Wer Geld gibt, bekommt Anteile und die mit den Anteilen verbundenen Mitspracherechte; so funktioniert das Privatrecht. Dieses Recht kann nicht übergangen werden, ausgerechnet dann, wenn der Demos der Geldgeber ist. Der Wirtschaftsminister erklärt, die Milliarden dienten dem guten, grünen Zweck; eine arg dürftige Auskunft.

Es ist eine runderneuerte Deutschland AG entstanden, und jemand muss die Kraft aufbringen, das Interesse der Gesellschaft zur Geltung zu bringen, sonst bleibt den Gesellschaftsmitgliedern die Bürde des Außenseiters aufgehalst. Nur, wer ist dieser Jemand? (Eine linke Partei gibt es ja nur dem Namen nach). Die Vorsitzende des DGB, Frau Fahimi, hat neulich den Hut in den Ring geworfen. Den Gewerkschaften ist alle Unterstützung zu wünschen, bei ihrem Versuch, die Mitsprache der von Lohnzahlung abhängigen Bevölkerungsmehrheit zur Geltung zu bringen. Alles Quatsch, sagen die Apologeten. Wer klug ist, lebt nicht vom Lohn, sondern von der Börse und ist mit seinem ETF, dem Exchange Trade Funds, Miteigentümer der Deutschland AG. So lautet der zeitgemäße Mythos des Alltags.   

Artikel online seit 26.06.23
 

Thomas Hutzschenreuter, Sebastian Jans
Eigentum, Governance und Strategie
Von den Ursprüngen der Deutschland AG zur Neuorientierung börsennotierter Unternehmen
De Gruyter
Berlin/Boston 2022
292 Seiten
34,95 Euro.

 

 


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