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Auf verlorenem Posten

Michel Houellebecqs denkwürdiger Bericht »Einige Monate in meinem Leben«

Von Gregor Keuschnig

Die Dämme sind gebrochen, die Überzeugungsarbeit von Generationen von Literaten, Kritikern, Literaturwissenschaftlern und Lesern ist Makulatur. Die Versicherung, ja: Erkenntnis, dass das namenlose Erzähl-Ich eines Romans oder einer Erzählung nicht identisch ist mit dem Autor, der Autorin wird zusehends pulverisiert. Ende der 1970er Jahre vom französischen Schriftsteller und Literaturprofessor Serge Doubrovsky entdeckt und geprägt, begann es mit dem Genre der Autofiktion. Mit ihm wurde das im autobiographischen Schreiben vorhandene Spannungsverhältnis zwischen Autor und Erzähl-Ich verschoben zu Gunsten der Lesart, dass das "Ich" (nahezu) identisch mit dem Autor ist. Der literarische Akt lag in der Ausgestaltung des Ereigneten. Beispielhaft für autofiktionales Schreibens ist die 2022 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Annie Ernaux. Ihrem letzten Buch Ein junger Mann stellte sie ihr Schreibgesetz voran: "Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt."

Anfangs begrüßte das Feuilleton diesen biographistischen Ansatz, weil es ihm die lästige Suche nach der Literarizität von Prosatexten ersparte. Man brauchte nur die Lebensdaten des Verfassers mit dem Geschriebenen zu vergleichen. Nach dem (nie wirklich relevanten) "Tod des Autors" begann die Dominanz der Verschmelzung zwischen Verfasser und Erzähler, die Herrschaft der Authentizität und des Plots. Die aktuelle Debatte um Identitäten verstärkt den Trend der Autofiktion, obwohl inzwischen längst die meisten Kritiker davon erschöpft sind.

Michel Houellebecq war bisher kein Autor autofiktionalen Schreibens. Zwar gab es vereinzelt Parallelen zwischen ihm und seinen Figuren (Literaturvorlieben oder gesellschaftspolitische Sichtweisen), aber niemand wäre ernsthaft auf die Idee gekommen, beispielsweise den Literaturprofessor François aus Unterwerfung als Alter ego Houellebecqs zu sehen. Mit seinem neuesten Buch mit dem harmlos anmutenden Titel Einige Monate in meinem Leben (Übersetzung von Stephan Kleiner) sieht das alles ganz anders aus. Houellebecq zerstört mit diesem Buch jegliche Distanz zwischen sich und dem Erzähl-Ich, zwischen den tatsächlichen Ereignissen und den Schilderungen im Buch. Er schreibt eine ultimative Nichtfiktion. Dass das Buch keine Genrebezeichnung trägt, ist nur konsequent. Der Untertitel lautet Oktober 2022 – März 2023. Aber ein Tagebuch oder Journal ist es auch nicht. Gegen Ende spricht er selber von einem "Bericht"; aufgeschrieben zwischen dem 31. März und dem 16. April 2023.

Es geht im Wesentlichen um zwei Ereignisse, die Houellebecqs Leben zwischen Herbst 2022 und Frühjahr 2023 bestimmt haben. Zum einen versucht er klarzustellen, dass seine von vielen als provokativ und diskriminierend interpretierten Äußerungen über Muslime im Gespräch mit Michel Onfray in einer Sonderausgabe der Zeitschrift Front Populaire ungenau, ja falsch gewesen wären. Der Eindruck, er hätte die Muslime und/oder den Islam pauschal beleidigen wollen, möchte er korrigieren. Das Gespräch sei nicht gegengelesen worden. Die Schuld für diese missverständlichen Äußerungen gibt sich Houellebecq ausdrücklich selber. Er erwähnt zwei Stellen, zitiert zunächst die umstrittenen Passsagen, um dann seine am Schreibtisch formulierten Korrekturantworten zu geben. Es mündet alles in der Aussage: "Das Problem [in Frankreich] ist nicht der Islam, es ist die Kriminalität." In Anbetracht der aktuellen Ereignisse erscheinen die Äußerungen in einem etwas anderen Licht.

Durch eine Vermittlung des Oberrabbiners kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen Houellebecq und dem Leiter der Großen Moschee von Paris, bei dem er sich schließlich bedankt, "diese Richtigstellung zu akzeptieren". Gleichzeitig attestiert Houellebecq ihm, dass er "ohne Zweifel der gemäßigten Mehrheit" angehöre. Der Satz endet dann doch ironisch, weil er sogar "die Möglichkeit seiner Ermordung durch ein Mitglied der extremistischen Minderheit in Betracht" zieht. Wie auch immer, seine "ewigen Zankereien mit den Muslimen" scheinen beigelegt. Als er dann jedoch wenig später von anderer Seite wieder angegriffen wird und Onfray bittet, die Neuauflage des Magazinbands zu stoppen, da sie die inzwischen revidierten Aussagen weiter enthalten würden, kommt es zum Zerwürfnis zwischen den beiden.

Das zweite Ereignis dominiert die knapp einhundert Seiten. Es geht um den sogenannten "Houellebecq-Porno". Dabei, so lernt der Leser später, sind es eigentlich zwei Filme. Der eine basiert auf einer zweistündigen "sexuellen Begegnung" mit ihm, seiner Frau und einer gewissen Jini van Rooijen, die ihm anfangs als Philosophiestudentin vorgestellt wurde. Sie wünschte, dass die Begegnung gefilmt würde, um, wie es heißt, "ihren Onlyfans-Account mit Material zu versorgen". Houellebecq war am Anfang angetan davon; hielt sie für eine "rechtschaffende Exhibitionistin". Gefilmt wurde von jemanden, den Houellebecq im Buch durchgängig als "Kakerlak" bezeichnet. Dabei handelt es sich um den niederländischen Konzeptvideokünstler Stefan Ruitenbeek, bekannt als Mitstreiter innerhalb des sogenannten KIRAC-Kollektivs ("Keeping It Real Art Critics"), einer Vereinigung von moralpusseligen Kunstaktivisten.

Warum Houellebecq überhaupt auf die Idee eines pornographischen Films mit sich in der Hauptrolle kam, bleibt trotz vieler Exkurse unklar. Man erfährt von einer nicht stattgefundenen Reise nach Marokko, was zur Folge hatte, dass das für ihn zusammengestellte "sexuelle Programm mit verschiedenen marokkanischen Prostituierten" bedauerlicherweise abgesagt werden musste. Er räsoniert über den Unterschied zwischen kommerziellen und amateurhaften Pornos und erläutert, wann er beim Filmen sexueller Tätigkeiten eine Erektion bekommt und wann nicht.

Der zweistündige Dreier verlief im wörtlichen Sinn für ihn eher unbefriedigend. Ausgiebig erzählt Houellebecq über die anscheinend nicht besonders guten sexuellen Fähigkeiten der jungen Frau, die nach seinem Urteil nicht "würdig" sei, das Attribut "Schlampe" zu tragen und die er der Einfachheit halber durchgängig als "die Sau" betitelt. Plötzlich wollte er auch nicht mehr, dass der Film auf Onlyfriends online gestellt würde, weil er herausbekommen hatte, dass der Exhibitionismus der Frau "auf Käuflichkeit" beruhte.

Weitere Unklarheiten folgen. Warum Houellebecq (mit seiner Frau) im Dezember nach Amsterdam fährt und warum er dort einen Vertrag mit KIRAC unterschreibt, der, wie seine niederländische Anwältin später feststellt, einem Tier mehr Rechte einräumen würde als ihm, überrascht – zumal wenn man den Text des Vertrags kennt (er ist abgedruckt). Dennoch lässt er sich abermals auf einen Film ein, diesmal mit einer "nichtssagenden Schönheit", die er "die Pute" nennt. Der Film endet im Fiasko; Houellebecq gelingen nur ein paar Zärtlichkeiten. Man scheidet im Streit: "Beleidigungen wurden ausgetauscht, ohne dass es zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre".

Er entdeckt, dass der Vertrag, den er unterschrieben hat, auch rückwirkend gilt. Als er Honeypot anschaut, ein pornografischer Film der Gruppe mit dem als allgemein rechtslastig eingestuften Philosophen Sid Lukkassen (Autor des kontrovers diskutierten Buches Abendland und Identität), entwickelt sich gegenüber KIRAC ein veritabler Hass. Er fürchtet nun, erpresst oder, ähnlich wie Lukkassen, bloßgestellt zu werden und versucht, die Veröffentlichung des Films mit ihm, die für den 11. März 2023 angekündigt wurde (einen Tag zuvor erschien in den Niederlanden Vernichten) mit gerichtlichen Mitteln zu verhindern. Die Angelegenheit wurde sogar von der New York Times aufgegriffen, was genüsslich auf der Webseite von KIRAC ausgebreitet wird.

Bis zum Ende seiner Notizen scheitert Houellebecq zwei Mal vor Gericht, was natürlich Wasser auf seine Mühlen ist – der Justiz vertraut er weder in Frankreich noch in den Niederlanden; private Rache lehnt er jedoch ab. Das Sarkozy-Wort von den "kleinen Erbsen" (für Richter) wird gelobt. Das passt zum Duktus dieses Buches, den Bezeichnungen für die KIRAC-Protagonisten (der "Kakerlak" wird gegen Schluss zum "menschlichen Scheißhaufen" degradiert), der "Meute der Medienschwachköpfe", ergo den Journalisten (er nennt einige Namen, aber um diese einzuordnen sind Detailkenntnisse französischer Publizistik notwendig), den Biografen (eine "dumme und bösartige Spezies") wie auch der Literaturkritik (Houellebecq rätselt vor allem über Pierre Assoulines "erbitterten Hass" auf ihn). Allenfalls Bernhard-Henri Lévy und, gegen Ende, Gérard Depardieu stehen ihm bei – was immer das auch bedeutet.

Einerseits ist sich Houellebecq bewusst, dass durch dieses Buch die von ihm so verachteten Protagonisten vermutlich "unsterblich" werden. Andererseits beugt er der Intensität des Skandalons durch seine Offenheit vor. Ich muss allerdings bekennen, dass mich die sexuellen Vorlieben und/oder Perversionen von Schriftstellern (und auch anderen Personen) nicht interessieren, vor allem wenn sie wie hier als halbwegs schlechter Schulaufsatz (mit zahlreichen Abschweifungen) ohne jegliche literarische Form daherkommen.

Wie Nektar saugt der Leser aus einigen abseitigen Bemerkungen des Autors Nektar, etwa wenn von John Grisham und Houellebecqs Vorliebe zu dessen Anwaltsthrillern erzählt, Theodor Fontane und Thomas Mann Verehrung entgegengebracht oder über Pablo Picasso, diesen "dauererigierten Kretin" mit seiner "hässlichen Seele", hergezogen wird. Auch seine lose formulierten Gedanken zur Sterbehilfe, die er im Buch durchgängig "Euthanasie" nennt oder sein wie beiläufig hingeschriebenes Bekenntnis zu einer "materialistischen Ontologie" könnten Interesse erzeugen, retten dieses Buch jedoch nicht.

Aus dem hoffnungslosen Romantiker, der in seinen besten Romanen (die Gunnar Decker zutreffend "Unabhängigkeitserklärungen des träumerischen Einzelnen" nannte) gegen den einen unausweichlichen Zeitgeist der Konformität das freie Individuum setzte, ist ein wehleidiger Narzisst geworden, der für seine selbstverschuldeten Dummheiten in Selbstmitleid badend zu versinken droht. Der Höhepunkt dieser Jeremiaden stellt die degoutante Feststellung dar, dass er "zum ersten Mal etwas [erspüre], was mir den Schilderungen von Frauen zu ähneln schien, die Opfer einer Vergewaltigung wurden."

Es bleibt die Hoffnung, dass Einige Monate in meinem Leben ein Ausrutscher war.

Artikel online seit 18.07.23
 

Michel Houellebecq
Einige Monate in meinem Leben
Oktober 2022 – März 2023
Übersetzt von
Stephan Kleiner
Dumont
100 Seiten
20,00 €

978-3-8321-6831-5

 

 


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