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Der Felsen von Sirilund

Gabriele Haefs gelungene Neuübersetzung von »Benoni« zeigt Knut Hamsuns
literarische Qualitäten auch abseits seiner bekannten Werke.

Von Lothar Struck
 

Siebzig Jahre nach seinem Tod dürfen nun Texte von Knut Hamsun frei publiziert werden. Dies ist der Anlass, dass es nun vermehrt neue Übersetzungen von Hamsuns Romanen gibt. Den Anfang machte Ulrich Sonnenbergs großartige Neuübertragung von Hunger. Jetzt liegt im Kröner-Verlag Gabriele Haefs Übersetzung von Benoni vor. Schachspieler kennen Benoni als Bezeichnung für eine Eröffnungsvariante. Es ist allerdings auch ein (seltener) Vorname, kommt aus dem Hebräischen und bedeutet "Sohn des Leides". Ob Knut Hamsun dies wusste, als er seinen Helden Benoni Hartvigsen 1908 erschuf, ist ungewiss.

Der Roman spielt Ende des 19. Jahrhunderts in Nordnorwegen, im "Nordland"; die fiktive Gemeinde mit ihrem Hauptort heißt Sirilund. Benoni wird als "starker und energischer Bursche" vorgestellt; ein Fischer, der auch die Vertrauensstellungen eines Post- und Gerichtsboten ausübt. Der allwissende Erzähler wechselt zuweilen aus dramaturgischen Gründen zwischen Präsens und Präteritum und wendet sich phasenweise in außergewöhnlichen Momenten dem Leser wie in einer Moritat zu. Benoni wird ohne Genealogie eingeführt; weder erfährt man etwas über seine Eltern und Familie noch über seine Kindheit und Jugend. Der Roman kapriziert sich ausschließlich auf die Ereignisse der kommenden Jahre.

Alles beginnt mit einer eher zufälligen Begegnung Benonis mit Rosa Barfod, der Tochter des "hochangesehenen" Pastors. Die beiden kommen in einen starken Regen, Benoni leiht Rosa seinen Pullover, als der "Lappe Gilbert" vorbeikommt, der im weiteren Verlauf des Romans so etwas wie ein Gerüchteverbreiter wird. Rasch geht um, dass Benoni und Rosa ein Paar seien. Der Fischer ist geschmeichelt, prahlt sogar noch damit, wird jedoch per Gerichtsbeschluss, den der Vater erwirkt hat, gezwungen, zu widersprechen. Zu allem Überfluss muss er, so will es der Brauch, diesen Beschluss in seiner Eigenschaft als Gerichtsbote auch noch selber vorlesen. Als er dies unterlässt, verliert er die Vertrauenspositionen.

Aber ein gewisser Ferdinand Mack wird auf Benoni aufmerksam. Er ist nicht nur der Besitzer des einzigen Ladens im Dorf und der größte Arbeitgeber für die Fischer, sondern übernimmt auch andere Funktionen in der Gemeinde, etwa die einer Bank. Mack schickt den demütigen Benoni zur traditionellen Route zu den Heringsrouten der Lofoten. Zunächst droht ein Fiasko, aber es dreht sich, und Benoni macht einen großen Fang. Die 5.000 Taler Ertrag überlässt er leihweise gegen einem Wechsel dem Kaufmann Mack. Benoni gilt nun als reich, man beginnt, ihn mit dem Nachnamen Hartvigsen anzureden; etwas, was er genießt. Von nun an bangt der Leser (zusammen mit Benoni) um die Seriosität von Mack. Als Benoni die Wechselschuld offiziell verlesen lassen will, weil sie sonst nicht gilt, möchte Mack dies verhindern. Aber Benoni ist listig, gibt an, das Dokument verlegt zu haben, während es in Wirklichkeit bereits in der Gemeinde liegt und schließlich öffentlich verkündet wird, was kurz das Verhältnis zwischen der beiden untereinander trübt.

Benoni gilt nun als vermögend und erhält die Zustimmung sich mit Rosa zu verloben. Auffallend ist Rosas Zurückhaltung. Benoni richtet sich ein großes Haus ein; nichts lässt er aus, damit es seine zukünftige Frau schön und gemütlich hat. Von Mack kauft er sogar ein Klavier und Silberbesteck. Aber dann wird publik, dass Mack bei seinem Bruder mit 18.000 Talern hoch verschuldet ist. Wie soll er ihm bei dieser Schuldenlast zum versprochenen Zeitpunkt das Geld zurückzahlen? Mack verharmlost die Schuld, erbittet allerdings Aufschub von Benoni. Der hat kaum eine andere Wahl und verzagt, schreibt die Forderung schon ab und bemerkt erneut einen gravierenden Ansehensverlust, denn niemand glaubt mehr an Macks Zahlungsfähigkeit.

Als dann noch Nikolai Arentsen, der Sohn des Küsters, aus der Großstadt zurückkommt, brauen sich weitere dunkle Wolken über Benoni zusammen. Nikolai hat sein Jura-Studium beendet, eröffnet eine Art Kanzlei als Prokurator, erteilt juristische Ratschläge und ermuntert die Dorfbewohner zu prozessieren und ihn dabei als Rechtsbeistand einzusetzen. Aber er war auch der ehemalige Verlobte von Rosa. Wie nicht anders zu erwarten, bemüht er sich mit seiner frechen Art erneut um sie. Als Benoni erfolglos von einer Fischereitour zurückkehrt, wird er vor vollendete Tatsachen gestellt: Nikolai und Rosa heiraten. Er ist auf dem Tiefpunkt, wähnt sich verarmt und man macht sich lächerlich über ihn, weil er nun alleine in einem Haus wohnt mit all den für Rosa zugekauften Dingen. 

Aber Hamsun ist hier der "gute" Erzähler; das Glück wendet sich nach einigen Volten zu Gunsten von Benoni, der mit Schläue und Geschick am Ende zu finanziellem Reichtum kommt und endlich den gewünschten Status erhält. Aber Benoni bleibt bescheiden, gibt sich großzügig. Nikolai, der einst so großspurig aufgetretene Anwalt, verliert einen Prozess nach dem anderen, beginnt das Trinken. Er hat kein Einkommen mehr; seine Bewerbung als Fischereirichter wird abgelehnt. Die Ehe zwischen ihm und Rosa existiert nur noch auf dem Papier. Das Verhältnis zwischen Benoni und Rosa bleibt bis zum Schluss indifferent. Am Ende kommt Macks Tochter Edvarda zurück; der finnische Baron, mit dem sie verheiratet war, ist verstorben. Hamsun weist hier bereits auf Rosa hin, jener Fortsetzungsroman aus der Perspektive des Studenten, Zeichners und vorübergehend sesshaft gewordenen Wanderers Parelius. Auch dieser Roman soll im nächsten Jahre von Gabriele Haefs neu übersetzt im Kröner-Verlag erscheinen.

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Natürlich stellt sich immer die Frage nach der Notwendigkeit einer Neuübersetzung. Die größte Verbreitung in deutscher Sprache dürfte Benoni in der von Julius Sandmeier revidierten Übertragung von Pauline Klaiber-Gottschau haben. Vergleicht man die Versionen, dann hat Haefs behutsame, aber für den heutigen Sprachgebrauch durchaus naheliegende Veränderungen vorgenommen. So wurde aus dem "Kirchspiel" das Dorf oder, wo es passend erscheint, die Gemeinde. Benonis "Haarpelz" ist nun eine "Mähne", er leidet "Kummer" statt "Gram". Aus dem "Schiffer" wurde ein "Kapitän", der "Mundvorrat" wurde als "Fladenbrot" identifiziert und aus dem "starken und festen Kerl" wurde ein "starker und fester Bursche". Beide übernehmen allerdings die Apostrophierung von Benoni als "Teufelskerl" und Haefs setzt interessanterweise noch ein "Erfolgsmensch" hinzu.  

Haefs greift gelegentlich zu Fach- und Lokaltermini, die dann im Glossar erklärt werden. So wird aus "Großnetz" ein "Ringwadennetz", das "Hochseeboot" ist ein "Börteboot" und der "Gemeindewald" nennt sich jetzt "Allmendewald", was dem Duktus Hamsuns vermutlich näher kommt und den Leser konsequenter in die erzählte Zeit einbindet, wozu im übrigen auch das stimmungsvolle Cover, ein Bild von Adelsteen Normann, beiträgt.

Häufig setzt Haefs die Tätigkeiten der Protagonisten als Familiennamen. So gibt einen "Steen Ladenschwengel" (bei Klaiber-Gottschau ist er ohne Nachnamen und wird "Gehilfe Steen" genannt), und Benonis Freund, Svend Johan Kjeldsen, ist umgangssprachlich "Svend Wächter" (statt Wächter Svend). Villads Bryggemand, eine Nebenfigur, ist "Villads Schauermann" (Schauermann ist eine Bezeichnung für einen Hafenarbeiter, während Bryggemand mit Brauer übersetzt werden könnte) und aus Ole Menneske wird, passend, "Ole Mensch".

Manche Stilblüte wurde geglättet. So "drückte [Benoni] sich bescheiden und verstohlen an eine Wand"; vorher "glitt er demütig und ganz schief durchs Zimmer an eine Wand hin". Und nach Macks Ansprache "wurde [er] wieder ein wenig zu einem Mann" (vorher "fing an sich wieder zu ermannen"). Nur manchmal erscheint die alte Übersetzung etwas präziser, etwa wenn es von Benoni heißt, er sei "im Lesen und Schreiben gut bewandert". Haefs schwächt es ab; hier ist der Held "des Lesens und Schreibens kundig." Es ist auch ein Unterschied, ob Benoni "flink" oder "umsichtig" (Haefs) genannt wird. Der des Originals unkundige Leser muss hier der Übersetzerin vertrauen.

Haefs Version wird insgesamt eingängiger, ohne dass sie die Sprache Hamsuns beschädigt oder dem aktuellen Zeitgeist opfert. Leider beschäftigt sie sich in ihrem Nachwort zu stark mit der Frage nach Hamsuns Sympathien zum Nationalsozialismus und weniger mit dem eigentlichen Roman.

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Vom Anfang des 20. Jahrhunderts an schrieb Hamsun in rascher Folge Romane, die das Volksleben im Nordland zum Thema hatten. Die Hauptfiguren waren Suchende, Wanderer – wie es einst auch Hamsun selbst gewesen war. Benoni und die im gleichen Jahr erschienene Fortsetzung Rosa, die nahtlos an den Vorgänger anknüpft, gelten als "Übergangswerke"; Hamsun hatte die literarische Moderne überwunden, aber noch gibt es nicht die antimodernen und antikapitalistischen Affekte, wie sie in Segen der Erde 1917 deutlich werden. In Benoni profitiert die Hauptfigur von dem, was man hierzulande Bauernschläue nennt. Die Figur des Rechtsanwalt Nikolai, die als Einbruch der Moderne interpretiert werden kann, scheitert noch; nicht zuletzt an den noch festen Institutionen. Die Unterschiede der beiden Protagonisten zeigen sich bei Hamsun schon bei den Haaren: Während der studierte Nikolai mit Halbglatze und Haarkranz geschildert wird, betont der Erzähler mehrmals Benonis üppige "Mähne".

Der Roman konzentriert sich auf das Verhältnis von Benoni und Mack und die Ehe von Rosa mit ihrem Nikolai. Die strengen Hierarchien haben noch Bestand. Die Anpassung daran gibt Benoni ein Aufstiegsversprechen; er kauft im richtigen Moment einen von vielen als wertlos bezeichneten Felsen, der nicht nur Erz, sondern auch Silber enthält. Ausgerechnet die am meisten desillusionierteste Person, der Leuchtturmwärter, erkennt den Wert und Benoni ergreift instinktiv die Chance. Eigentlich nur als Dörrplatz für die Fische eingekauft, durchschaut er das Potential und verhandelt geschickt mit den in Kaufabsichten angereisten, sich unhöflich gebärdenden Engländern. Gleichzeitig bleibt er bei sich, verliert nicht die Bodenhaftung.

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Als Vorbild für den Kaufmann Mack wird allgemein Erasmus Zahl (1826-1900) genannt, der im Handelsposten Kjerringøy lebte. Der Ort hatte einst topografische Gemeinsamkeiten mit Hamsuns Sirilund. Zahl soll Hamsun mehrfach finanziell unterstützt haben; er taucht auch vorher schon in Romanen von Hamsun auf, beispielsweise in Pan. In Benoni ist das Bild der Figur nicht durchgängig positiv. Zeitweilig hat man den Eindruck, er sei ein windiger Anlagebetrüger. Aber schließlich akzeptiert er, dass Benoni seine Einnahmen aus dem Verkauf des Felsen bei einer Bank anlegt. Der Verkauf des Felsens ist im übrigen ein Geschäft, bei dem Mack keine Federführung hatte; er erfuhr davon erst später. Die beiden werden jetzt gleichberechtigte Partner. Wie dies weitergeht, zeigt sich in Rosa.

Benoni zählt nicht zu den fünf Werken, die noch bei Ullstein (aus Zeiten des List-Verlags) lieferbar sind (Hunger, Victoria, Segen der Erde, Mysterien, Auf überwachsenen Pfaden). Gabriele Haefs neue Übertragung von Benoni zeigt, dass die literarische Qualitäten Hamsuns nicht auf diese Werke beschränkt bleiben. Und so freut man sich schon auf die "neue" Rosa.

Artikel online seit 06.2.23
 

Knut Hamsun
Benoni
Roman
Neu übersetzt von Gabriele Haefs,
Kröner
1. Auflage, 288 Seiten, Halbleinen mit Lesebändchen,
978-3-520-62601-1

 

 


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