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»Ich rebelliere, also sind wir!«

Die Gegenwart der rassistischen Vergangenheit in der Psychiatrie.
Über Andreas Heinz' überaus lesenswerte Rekonstruktion

»
Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte«


von
Wolfgang Bock
 

Auf Großer Fahrt auf dem Meer der Diskurse
Kenntnisreich durchsegelt Andreas Heinz, der amtierende Direktor der psychiatrischen Klinik an der Charité in Berlin, das Meer der psychopathologischen Diskurse. Als Landfeste für seine Passage auf solch hoher See dienen ihm zwei Vorworte Jean-Paul Sartres – das eine klarer, das andere im Nebel. Auf der einen Seite finden wir Sartres Einführung zum Buch des Sozialistischen Patientenkollektiv Heidelberg (SPK) von 1972 mit dem Titel Die Krankheit zur Waffe machen, welches auf den revoltierenden Diskurs der Kranken und den Klassenkampf zurückgreift. Auf der anderen Seite steht Sartre Anmerkung von 1961 zum Werk des postkolonialen Psychiaters Frantz Fanon mit dem Titel Die Verdammten dieser Erde. Der zweite Text wird allerdings von Heinz nicht explizit genannt, als Gespenst aber geht sein Bild durch das ganze Buch. Zwischen den beiden Polen – der Kolonialmedizin und der Reform der Psychiatrie und ihre jeweiligen Antinomien – bewegt sich unser schreibender Pilot deswegen so sicher durch die verschiedenen Zuströme des Ozeans der Geisteskrankheiten, die diesen Diskurs speisen, weil er sein Schiff nach den Sternen der Revolte ausrichtet. Die entsprechende Parole: „Ich rebelliere, also sind wir!“ übernimmt er aus Albert Camus großen Essay Der Mensch in der Revolte von 1951.

Irren ist menschlich: von der Kolonialisierung zur Psychiatriereform
Wir finden hier also einen französisch getönten Hintergrund der Kämpfe auf den drei Kontinenten mit denjenigen der Patienten einer absoluten Institution Psychiatrie in den Metropolen engführt. Wir erfahren von den kolonialen Verbindungen der Schizophrenie, wenn der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler die Dissoziation des weißen Nervenkranken mit dem Ausweichen des Kolonialisierten vor der Strafe durch den Kolonialherren vergleicht.[1] Die Herrschaft über die Gehirne in den Metropolen durch Kontrolle gegen die vermeintliche Degeneration, so liegt Heinz nahe, erfolge mit derselben Terminologie wie die Unterwerfung der Erde und ihrer Handelswege unter die Herrschaft der Kolonialmächte. Diesen Ansatz verfolgt unser Autor auch auf seiner Reise durch die Geschichte der Psychiatriereform von den drei Kontinenten bis ins Herz der europäischen Zivilisation. Herausgekommen ist dabei nicht allein eine Geschichte dieser Reform. Die Leser verfolgen auch anhand von anschaulichen Beispielen die persönliche Geschichte des Autors durch die Institutionen. Eingestreut in das Buch finden sich persönliche Erinnerungs- und Fallgeschichten, die er beiträgt. Auf diese Weise entsteht ein engagiertes und zugleich persönliches Buch, das die Kämpfe der Kolonien um Befreiung zusammendenkt mit denjenigen, die sich stigmatisiert gegen eine totale Institution wehren.

Deutsche Kolonialmedizin beginnt im Kopf
Heinz macht die Wirklichkeit der Bilder gegenüber den Begriffen stark und verweist gleich zu Beginn unter anderem auf Eugen Bleuler. Damit wird der Kontext der deutschen Kolonie und der Zusammenhang von Vernichtungskriegen und Konzentrationslagern in der Psychiatrie angesprochen. Zugleich geht es um die Begriffsbildung in der Wissenschaft als Einordnung von einem neuen in einen bekannten Kontext. Heinz berichtet von einem Patienten mit einem Tumor zwischen Sehzentrum und Verarbeitung der Sehimpulse, der bei der Betrachtung eines Fußballspiels über eine ganze Weile empirisch einen zweiten Ball im Feld sieht. Diese Leistungen einer artifiziellen Konstruktion der vermeintlich objektiven Realität sind vom Traum und auch von Halluzinationen am Tage her bekannt und so setzen sich hier auch rhizomatisch Verbindungen zu Bilderlehre von Ludwig Klages durch. Zwischen äußerer Wirklichkeit und Erinnerungsbild liegt die proaktive Arbeit des Gehirns. Dessen Referenz vermag durch sprachliches Vorwissen Bilder produzieren und umgekehrt. So viel zum Thema authentische Erinnerungen, auf die ein revanchistischer Ansatz in der Geschichtsdidaktik sich so viel einbildet.[2]

Am spannendsten an diesem Ansatz bleibt Heinz‘ Hinweis auf die koloniale Realität hinter der Hierarchie zwischen ausfallenden Gehirnleistung und dem Verhältnis zum übrigen Körper. Heinz rekurriert kenntnisreich auf die deutsche Verbindung von Kolonialmedizin und ihrer Praxis in Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika – heute Namibia und Tansania – und moderner Nervenheilkunde. Die Kritik an Ausgrenzung und Normierung aber müssen jeweils auf den neuesten Stand gebracht werden. Insofern möchte Heinz die Psychiatriereform und die entsprechenden Ansätze Sartres, aber auch Foucaults Kritik aus Wahnsinn und Gesellschaft weiterführen. Heinz unternimmt das in den fünf Abschnitten seines Buches, die in jeweils drei Kapiteln Meilensteine der Geschichte der Psychiatrie kritisch unter die Lupe nehmen. Die letzten Kapitel sind darin den heute gängigen Therapien wie der Achtsamkeit oder derjenigen gegen die Internetsucht gewidmet.

Der von Degeneration und Dekadenz bedrohte Herrscher
Heinz verweist zunächst also auf den in der offiziellen Debatte kaum noch präsenten Hintergrund einer Verbindung von anthropologisch gedachten Praktiken der deutschen Kolonialregime in Namibia und Tansania der Judenvernichtung. Die Völkermorde an den Stämmen der Herreros und der Maji-maji in Tanganjika besitzen personelle Verbindungen in die NS-Hierarchien. So ist Ernst Heinrich Göring – der Vater des Reichsmarschalls Hermann und der Onkel Matthias‘, des Direktors des Deutschen Instituts für Tiefenpsychologie während der NS-Zeit – der erste kaiserliche Kommissar der Kolonie Deutsch-Südwest Afrika. Zugleich spricht sich Heinz gegen eine einfache Aufrechnung der Kolonialverbrechen und derjenigen gegen die Juden aus, wie sie einen Hintergrund auf der Debatte um die Documenta Fifteen gebildet hatte und seit dem 7. Oktober 2023 als Argumentation (notorisch etwa bei Marsha Gessen) auch in der Auseinandersetzung zwischen Israel und den Palästinensern wiederkehrt.[3] Heinz unterscheidet mit Rückgriff auf entsprechende rassistische Äußerungen Friedrich Nietzsches sowie der schweizerischen und deutschen Psychiater Eugen Bleuler, Emil Kraepelin und Karl Jaspers zwischen der „primitiven Rasse“ der Afrikaner und der höheren, aber „degenerierten“ Rasse der Juden als Angst besetzte Gefahrenquelle für den weißen Mann. Er scheut sich auch nicht, an dieser Stelle den angelsächsischen Diskurs der Degeneration und Zwangssterilisierung in Amerika ebenfalls zu erwähnen.

Heinz geht dafür detailliert der Rezeption Darwins durch Nietzsche nach. Er markiert die Kritik Nietzsches im Zusammenhang mit der „Entartung“: Nicht die Besten überlebten nach Nietzsche in der Geschichte, sondern die schlechtesten. Den Begriff der Entartung habe Nietzsche dem französischen Psychiatriediskurs entnommen und seinen Züchtungsfantasien hinzugefügt. Den Juden gegenüber aber habe Nietzsche sich immer mindestens ambivalent verhalten: Antisemiten wie seinen blonden Schwager Ludwig Bernhard Förster (1843–1889) seien für ihn Strohköpfe. Der Gedanke der „Degeneration“, der hier eine Rolle spielt, stamme von dem englischen Psychiater und Neurologen John Hughlings Jackson (1835-1911). Danach seien die höheren Gehirnfunktionen immer so von solcher Degeneration bedroht wie die Staatenlenker von Aufständen. Die direkte Projektion der Klassenkämpfe und Kolonialverhältnisse auf das Gehirn teilten danach fast alle Psychiater, einschließlich Sigmund Freud und seiner Vorstellung von Rückentwicklung als Regression. Anders aber als die erwähnten Eugen Bleuler, Emil Kraepelin, Carl Gustav Jung oder Karl Jaspers habe Freud auch zu einer Wertschätzung der sogenannten Wilden gefunden, wenn er auch ansonsten für seine Werke wie Totem und Tabu auf entsprechend kontaminiertes Material der zeitgenössischen Anthropologen zurückgegriffen hatte. Wilde, Kinder, psychisch Kranke und hysterische Frauen gelten auch ihm als immerhin dialektische Beispiele für den Primärprozess.

Eine Urgeschichte der Psychiatrie
Heinz stellt die Äußerung Bleulers über die Analogie von Schwarzen und Schizophrenen auch weiter ins Zentrum seiner Überlegungen. Die entsprechende Anekdote aus dessen Buch über die dementia praecox durchzieht damit Andreas Heinz‘ Buch so wie die Fabel über Thales und die thrakische Dienstmagd das Werk Das Lachen der Thrakerin von Hans Blumenberg.[4] So wie Blumenberg eine philosophische Urgeschichte der Theorie schreiben will, so Heinz damit eine koloniale Urgeschichte der Psychiatrie: Innerhalb dieses „Degenerationsszenarios“ wurde Kolonialisierten die Geschichtlichkeit abgesprochen und sie selbst zu einer Art „Tiefkühltruhe der Geschichte“ reduziert, wie Andreas Heinz mit Rückgriff auf eine ähnliche Kritik Achille Mbembes nahelegen will.[5] Auf diese Weise verbindet Heinz das Schicksal der Psychiatriepatienten in den Metropolen immer wieder mit dem der Kolonialisierten auf den drei Kontinenten in einem Geschichtsmodell, das den Kampf gegen die Sklaverei, den Holocaust und die Psychiatrisierung zusammenführt.

»Ein für soziale Kämpfe und Heterogenität offener Krankheitsbegriff«
Die Referenz auf ein Panorama von verschiedenen interkulturellen Krankheitsbegriffen beendet das Buch. Psychische Krankheit wird im Westen anders definiert als im Osten und im globalen Süden. Heinz berichtet von Diskussionen mit Kollegen in Mali und führt an dieser Stelle Frantz Fanon und seine Kritik an der Kolonialisierung auf, zu der Jean-Paul Sartre ebenfalls ein Vorwort beigesteuert hatte. Heinz hält sich allerdings stärker an Mbembe, der zwar formal auf der Linie Fanons argumentiert, in Wirklichkeit aber dessen politische Ambitionen im Sinne einer anderen Negritude renaturalisiert und ad absurdum führt. Das ist nur scheinbar eine andere Debatte.[6]

Was zu beweisen war
Der Autor zeigt sich jedenfalls mit (fast) allen diskursiven Wassern gewaschen, er beherrscht sein ABC von der Anthropologie und der Ethnopsychoanalyse über den autoritären Charakter bis zum medikamentösen psychiatrischen Diskurs. Unwillkürlich fällt dem Leser das Schlagwort von „form follows function“ aus dem Design ein und auch hier beweist der Autor, was zu beweisen war: Geschickt schaltet er von einem Diskurs in den anderen um, vergleicht die Dinge miteinander und bleibt dennoch immer themenzentriert bei dem Zusammenhang von Krankheit und Revolte. Sein dichter Stil erlaubt Heinz so Gegenüberstellungen besondere Art. Sprachlich ist das Buch gerade deshalb zuweilen eine Herausforderung, wenn er in ein barockes Stakkato an sich überbietender soziologischer Begriffe verfällt. Diese sind sich trotz aller Bemühungen um die Diversität kleiner Narrationen im Fahrwasser von Lyotard doch einförmig im Sinne einer „großen Erzählung“ der Soziologie gebildet. Die Vergleichbarkeit von allem mit allem geht möglicherweise auf diese Begriffsbildung zurück.[7] Dagegen wäre darauf hinzuweisen, dass die sogenannte Wirklichkeit der Bilder, die Heinz bereits im ersten Kapitel bemüht, sich dadurch auszeichnet, Anschaulichkeit und Klarheit miteinander zu verbinden. Und oft genug gelingt das dem Autor auch.

Zu diesem Buch greife also jeder, der Interesse an richtungsweisenden Seezeichen auf dem phänomenologischen Meer der Psychiatrie und zugleich im Begriffshimmel der Ideen hat, ebenso wie jemand, dem die Freude am Denken am Herzen liegt. Denn eine dialektische Freude ist es tatsächlich, diese Texte über unerfreuliche Themen wie Normierung und Krankheit, Zwangssterilisation und forensische Unterbringung der Verrückten zu lesen. Hat man einmal den Widerstand gegen die Sprache aufgegeben, dann sprudeln die Quellen vor allem dort, wo sie sowohl der unbedarfte Leser als auch die Leserin sie nicht vermuten.

[1] Die instruktive Stelle über Verrückte, Frauen, Kinder und Wilde bei Bleuler lautet: „Es gibt ein normales autistisches Denken [...], das keine Rücksicht auf die Wirklichkeit zu nehmen braucht und in seiner Richtung von Affekten bestimmt wird. [Manche Frauen] können, wenn sie sich zu sehr vom Traum beherrschen ließen, [in der Ehe] überhaupt keinen Genuß finden, weil es nicht der erwartete ist, sie bleiben frigid, gerade wie Schizophrene gleichgültig bleiben, wenn ihre Wünsche äußerlich in Erfüllung gehen. [...] Wir sehen ferner die ungenügende oder fehlende Unterscheidung von Phantasie und Wirklichkeit bei Unaufmerksamkeit, im Traum und bei Kindern, die die Unwahrheit sagen, ohne wissentlich zu lügen, sowie bei ‚Wilden‘ (dem Neger ist es unverständlich, wie es auffallen kann, wenn er heute mit aller Sicherheit einen Diebstahl leugnet, den er gestern selbst gestanden hat und der auch sonst außer allem Zweifel steht).“ (Eugen Bleuler, Dementia praecox oder die Gruppe aller Schizophrenie, Berlin 1911, S. 305; Heinz, S. 75-76).

[2] Vgl. https://www.glanzundelend.de/Red23/J-L/reinhart_koselleck_geronnene_lava.htm.

[3] https://www.glanzundelend.de/Red22/V-Z/david_van_reybrouck_revolusi_Indonesien.htm und zum unsäglichen Text von Gessen und ihren „Fehlern“ sowie der Verleihung der Hannah-Arendt-Preises am 17.12.2023 in Bremen: https://www.sueddeutsche.de/kultur/masha-gessen-wiki-interview-new-yorker-fehler-1.6320317?reduced=true.

[4] Vgl. Hans Blumenberg, Das Lachen der Thrakerin, Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[5] Vgl. Achille Mbembe, Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin: Suhrkamp 2017.

[6] https://www.glanzundelend.de/Red23/D-F/frantz_fanon.htm.

[7] Zu dem Verfahren der begrifflichen Überbietung in der Soziologie siehe auch Alexandra Schauer: https://www.glanzundelend.de/Red23/S-U/andrea_schauer_mensch_ohne_welt.htm

Artikel online seit 18.12.23
 

Andreas Heinz
Das kolonialisierte Gehirn und die Wege
der Revolte

suhrkamp taschenbuch
Broschur, 324 Seiten
24,00 €
978-3-518-30003-9

Leseprobe & Infos

 

 


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