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Das ontologische Gerippe des Realen

Mit seinem opulenten Werk
»Die Formen des Sichtbaren«
entwickelt der französische Anthropologe
Philippe Descola
eine
Art Menschheitsgeschichte des Bildes.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Was ist ein Bild, und wie ändert sich das Bild, das wir uns von der Welt machen? Was wird überhaupt sichtbar, und welche Formen nimmt die Sichtbarkeit an? Welches Bild hat der Mensch letztlich von sich selbst?
Mit diesen Fragen setzt sich Philippe Descola, emeritierter Professor für Anthropologie am Collège de France, in seinem Buch
»Die Formen des Sichtbaren« eindringlich auseinander.
Er möchte auf den knapp 800 Seiten den Nachweis erbringen, »dass die Regeln der visuellen Vorstellungsgabe genauso anspruchsvoll und logisch artikuliert sind wie die der sprachlichen Vorstellungskraft.«
Zu diesem Zweck betrachtet er verschiedene Figurationen von Welterschaffungssystemen, als die er ikonische Bilder liest, und präsentiert insgesamt vier Identifikationsmodi resp. zentrale Formen der Darstellung.

a) Da ist zunächst der Animismus, die beseelte Welt, die oftmals durch die Darstellung verschiedenster Tiermasken charakterisiert ist. Dem Animismus wohnt gewissermaßen ein Handlungscharakter der Bilder inne. Er ist geleitet von der Erkenntnis, dass sich »am Rande der Welt« noch andere Welten entfalten können.

b) Der Totemismus (wie er vor allem bei den australischen Aborigines anzutreffen ist) ist geprägt von Bildern, die wie Wappen funktionieren und die Zusammengehörigkeit von Menschen, Tieren und Pflanzen in einer über Generationen hinweg weitervererbten Totemklasse betonen.

c) Der Analogismus rekurriert auf die Herstellung von Zusammenhängen scheinbar disparater Dinge, mithin auf Korrespondenznetzwerke von Dingen und Objekten in der Welt.

d) Als Naturalismus definiert Descola schließlich die figurative Darstellung, die die westliche Welt seit dem Mittelalter prägt, indem sie insbesondere auf die Hervorhebung geistiger Differenzen abhebt. Anders als die westliche Welt glaubt, ist dieser Identifikationsmodus jedoch eher die Ausnahme von der Regel.

Descola analysiert vor diesem Hintergrund verschiedene Epochen und Kulturen von der Steinzeit bis heute, und betreibt Bildanalysen abseits der Debatten, was eigentlich Kunst ist. Insofern handelt es sich tatsächlich vielmehr um eine Anthropologie der Bilder, wie der Untertitel festhält.
Diese Anthropologie ist geprägt von der Suche nach (universellen) Figurationen. Als Figuration versteht Descola eine Bildgebung, »mittels derer ein beliebiger Gegenstand infolge einer plastischen Darstellung, Situierung oder Ornamentierung zum ikonischen Zeichen eines Wesens oder Vorgangs gemacht wird, die es diesem Gegenstand erlaubt, wiedererkennbare Qualitäten des Referenten heraufzubeschwören, auf den er sich bezieht, und gleichzeitig unter bestimmten Umständen und in den Augen bestimmter Personen eine Form von unabhängigem Handeln zu erlangen.« Eine Figuration gebe insofern »das ontologische Gerippe des Realen« zu erkennen und kann über eine Grammatik der Bilder entschlüsselt werden.
Mit diesem Vorgehen verwirft Descola bekannte Denktraditionen und Analyseschemata, die um Debatten über Künstler, Werk und Intention kreisen, wobei die Identifikationsmodi nicht als neues Interpretationsraster missverstanden werden sollten, mit Hilfe derer sich von nun an Bilder lesen ließen. Es geht in erster Linie um die Frage nach dem Standort der Beobachtung.

Descola hat sich über lange Jahre mit dieser Frage auseinandergesetzt und eine überbordende Fülle an Material zusammengetragen. Das Buch ist eine Art Menschheitsgeschichte des Bildes und wird die Kunstgeschichte vielleicht auf den Kopf stellen. Einfach zu lesen ist es jedoch nicht.

Artikel online seit 06.11.23
 

Philippe Descola
Die Formen des Sichtbaren
Eine Anthropologie der Bilder
Aus dem Französischen von Christine Pries
Suhrkamp Wissenschaft
783 Seiten
68,00 €
978-3-518-58799-7

Leseprobe & Infos

 

 

 

 


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