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Das Walross und der Zimmermann |
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Ein kannibalistischer Kapitalismus
Eine totale Institution »Dieses Buch zeichnet dieses gewaltige Geflecht aus Dysfunktion und Beherrschung nach. Es erweitert unseren Blick auf den Kapitalismus um die außerökonomischen Zutaten des Kapital-Speisezettels und fasst alle Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte der gegenwärtigen Situation in einem einzigen analytischen Rahmen zusammen. In diesem Rahmen bedeutet strukturelle Ungerechtigkeit Klassenausbeutung, aber auch Geschlechterherrschaft und rassistische/imperialistische Unterdrückung — beides nicht zufällige Nebenprodukte einer Gesellschaftsordnung, die die soziale Reproduktion der Warenproduktion unterordnet und eine rassifizierte Expropriation verlangt, um die profitable Exploitation zu garantieren. So gesehen, führen die Widersprüche des Systems nicht nur zu Wirtschaftskrisen, sondern auch zu Krisen in den Bereichen Care, Ökologie und Politik, die heute in voller Blüte stehen, und zwar dank der langen Periode unternehmerischer Völlerei, die als Neoliberalismus bekannt ist.« (S.13) Gegen diesen Tatbestand, dass der Kapitalismus durch die Kommodifizierung als die Umwandlung von Boden, Luft, Arbeit und Geld in Waren sowie durch den gegenteiligen Prozess einer Verweigerung von Warenform für die Reproduktionsarbeit seine Grundlagen vernichtet, lässt sich kaum etwas vorbringen, es sei denn, man ist völlig ideologisch erblindet. Der menschenfresserische Kontext ist nun weniger in Afrika als in Lateinamerika beheimatet. Dort beginnen und enden alle Diskussionen unter Linken traditionell mit der Voraussetzung, dass der Kapitalismus an allem schuld sei, was auf der Welt Böses geschähe, einschließlich der Sphären der ehemaligen Sowjetunion und Chinas.[3] Was den ökonomischen Zusammenhang des Kapitalismus als Produktion in diesem Sinne zunächst erweitert, stattet ihn zugleich auch mit Attributen eines Schicksalszwangs aus.
Sind zwei Karls besser als einer?
Kritische Theorie für die junge Generation der Aktivisten?
Über die Ökonomie hinaus?
Kapitalismuskritik als Summe und Bricolage. [1] Das Gedicht, das Alice von den Zwillingen Tweedledum and Tweedledee hört, taucht auch in Walt Disneys Zeichentrickfilm Alice im Wunderland von 1951 auf. [2] „Alles in allem bietet die Kannibalismus-Metapher mehrere vielversprechende Ansätze für eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Sie lädt uns dazu ein, diese Gesellschaft als eine institutionalisierte Fressorgie zu betrachten, deren Hauptgericht wir selbst sind.“ (S. 11). [3] Allerdings fehlen in Frasers Analyse der Metapher des sich selbst auffressenden Ouroboros weitere Zusammenhänge des Kannibalismus: einmal die Kannibalischen Regime, die in der Diskussion um Trotzki im engeren Sinne für Hitlers und Stalins Regime stehen; und zum zweiten die Dialektisierung der Anthropophagie, wie sie von linken Theoretikern um Oswaldo Andrade in ihrem Anthropophagischen Manifest 1928 vorgenommen wurde. Vgl. Helmut Dahmer, Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalistischen Regime und https://www.ufrgs.br/cdrom/oandrade/oandrade.pdf; letzter Zugruff am 05.06.2023. [4] Vgl. Fraser, „Warum zwei Karls besser sind als einer: Mit Polanyi und Marx zu einer Kritischen Theorie zeitgenössischer Krisen“, in: Kritische Theorie der Politik, herausgegeben von Ulf Bobmann und Paul Sörensen, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 63-83. [5] Karl Polanyi, Die große Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Wie weitere von Polanyi inspirierte Analysen aussehen, demonstriert der Band Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin: Suhrkamp 2017. [6] Fraser fasst ihre Bemühungen zusammen: „Wir haben es hier — mit Karl Marx gesprochen — mit vier »Widersprüchen des Kapitalismus« zu tun — dem ökologischen, dem sozialen, dem politischen und dem rassistischen/imperialistischen —, von denen jeder einer Gattung der Kannibalisierung entspricht und eine »Krisentendenz« verkörpert. Im Gegensatz zu den von Marx hervorgehobenen Krisentendenzen sind diese jedoch nicht auf innere Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft zurückzuführen. Sie beruhen vielmehr auf den Widersprüchen zwischen dem Wirtschaftssystem und seinen Rahmenbedingungen — zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, Wirtschaft und Gemeinwesen, Ausbeutung und Enteignung. Wie wir gesehen haben, führen sie zu einem breiten Spektrum sozialer Kämpfe in der kapitalistischen Gesellschaft: nicht nur zu Klassenkämpfen im engeren Sinn auf der Ebene der Produktion, sondern auch zu Grenzkämpfen um Ökologie, soziale Reproduktion, politische Macht und Enteignung. Als Reaktion auf die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Krisentendenzen sind diese Kämpfe für unsere erweiterte Sicht des Kapitalismus als institutionalisierte Gesellschaftsordnung unabdingbar.“ (S. 52) [7] „Wir haben uns auf das bezogen, was wir für die drei grundlegenden Fakten des Bewußtseins des westlichen Menschen ansehen: das Wissen um den Tod, das Wissen um die Freiheit und das Wissen um die Gesellschaft. Das erste wurde, nach der jüdischen Legende, in der Geschichte des Alten Testaments geoffenbart. Das zweite wurde durch die Entdeckung der Einzigartigkeit des Individuums geoffenbart, wie sie in den im Neuen Testament festgehaltenen Lehren Jesu zum Ausdruck kommt. Die dritte Offenbarung erfuhren wir durch das Leben in einer industriellen Gesellschaft. […] Sie ist das konstitutive Bewußtseinselement des modernen Menschen.“ (Polanyi 1944, S. 342-343).
Artikel online seit 08.06.23 |
Nancy Fraser
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