Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik                                           Impressum & Datenschutz

 

Home   Belletristik   Literatur & Betrieb  Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie  


 









Das Walross und der Zimmermann

Oder: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt.
Über Nancy Frasers kapitalismuskritische
Diagnose »Der Allesfresser«.

Von Wolfgang Bock

 

Ein kannibalistischer Kapitalismus
In Lewis Carrolls Buch Alice hinter den Spiegeln von 1871, das aus einer Reihe skurriler Anspielungen mit handfestem sexuellem Hintergrund besteht, gibt es eine besondere doppeldeutige misogyne Episode. Ein Walross und ein Zimmermann laden darin eine Reihe von jungen Austern zum Essen ein und bereiten alles dafür vor, einschließlich der Beruhigung der Gouvernante. Erst am Ende wird deutlich, wer hier verzehrt werden soll: es sind die Essensgäste selbst.[1] In Nancy Frasers Buch geht es ebenfalls um einen Kapitalismus, der seine eigenen Grundlagen der sozialen und ökologischen Reproduktion vertilgt. Und auch sie interpretiert in ihrer Analyse die besondere Härte, die sich zwischen seinen formellen und informellen Seiten abspielt.[2]

Eine totale Institution
Fraser betrachtet den Kapitalismus als absolute Institution: er sei nicht nur eine rationale Wirtschafts- sondern eine irrationale Gesellschaftsordnung, auf dessen immanente Widersprüche und Krisen die verschiedenen sozialen Kämpfe unserer Zeit zurückzuführen wären:

»Dieses Buch zeichnet dieses gewaltige Geflecht aus Dysfunktion und Beherrschung nach. Es erweitert unseren Blick auf den Kapitalismus um die außerökonomischen Zutaten des Kapital-Speisezettels und fasst alle Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte der gegenwärtigen Situation in einem einzigen analytischen Rahmen zusammen. In diesem Rahmen bedeutet strukturelle Ungerechtigkeit Klassenausbeutung, aber auch Geschlechterherrschaft und rassistische/imperialistische Unterdrückung — beides nicht zufällige Nebenprodukte einer Gesellschaftsordnung, die die soziale Reproduktion der Warenproduktion unterordnet und eine rassifizierte Expropriation verlangt, um die profitable Exploitation zu garantieren. So gesehen, führen die Widersprüche des Systems nicht nur zu Wirtschaftskrisen, sondern auch zu Krisen in den Bereichen Care, Ökologie und Politik, die heute in voller Blüte stehen, und zwar dank der langen Periode unternehmerischer Völlerei, die als Neoliberalismus bekannt ist.« (S.13)

Gegen diesen Tatbestand, dass der Kapitalismus durch die Kommodifizierung als die Umwandlung von Boden, Luft, Arbeit und Geld in Waren sowie durch den gegenteiligen Prozess einer Verweigerung von Warenform für die Reproduktionsarbeit seine Grundlagen vernichtet, lässt sich kaum etwas vorbringen, es sei denn, man ist völlig ideologisch erblindet. Der menschenfresserische Kontext ist nun weniger in Afrika als in Lateinamerika beheimatet. Dort beginnen und enden alle Diskussionen unter Linken traditionell mit der Voraussetzung, dass der Kapitalismus an allem schuld sei, was auf der Welt Böses geschähe, einschließlich der Sphären der ehemaligen Sowjetunion und Chinas.[3] Was den ökonomischen Zusammenhang des Kapitalismus als Produktion in diesem Sinne zunächst erweitert, stattet ihn zugleich auch mit Attributen eines Schicksalszwangs aus.

Sind zwei Karls besser als einer?
Für ihre Theorie geht Nancy Fraser neben Karl Marx vor allem auf Karl Polanyi zurück. Die sich ergänzenden Ansätze der „beiden Karls“ bilden die Grundlage ihres Denkens.[4] Fraser verdankt der Theorie von Letzterem allerdings mehr, als sie angibt. Der Ökonom Polanyi (1886-1964) stammt aus einer jüdischen Budapester Familie. Er engagierte sich für die kurze ungarische Räterepublik von Béla Kun und geht nach ihrem Ende nach Wien. 1935 flieht er nach England und analysiert dort die historische Entstehung von Warenform und Ausweitung des Marktes vor der Industrialisierung bei Adam Smith und David Ricardo. Anders als Marx und Engels verfolgt Poliany reformatorische politische Ansätze und fällt durch seinen unorthodoxen Schreib- und Analysestil auf. Zu diesem gehört eine Politikauffassung, die sich gegen die englische Revolution Cromwells für die maßvollen Maßnahmen der Tudors und Stuarts ebenso erwärmt wie für die Bündnispolitik Bismarcks vor dem Ersten Weltkrieg. Die Ausweitung seiner Analyse auch auf die religiösen Seiten des Liberalismus, macht seine Kritik in England und den USA attraktiv. Polanyi gehört bis heute zu den wichtigsten Autoren in der Sozialisation der US-amerikanischen Linken und hat auch bei Fraser seine Spuren hinterlassen.[5]

Kritische Theorie für die junge Generation der Aktivisten?
In ihrem ersten Kapitel, das das Programm des ganzen Buches in nuce enthält, konstatiert Fraser eine Renaissance des Kapitalismus als Denkgegenstand in der Szene junger AktivistInnen gegen die Umweltkrise oder die sexuelle und rassistische Diskriminierung. Diese kennten zugleich dessen Bedingungen nicht mehr. Fraser wird Ihnen allerdings entgegenkommen und den Kapitalismusbegriff von Marx in ihre Richtung erweitern: Neben den klassischen marxistischen Merkmalen des Kapitalismus fokussiert Nancy Fraser sich auf das Verhältnis von aktueller Warenproduktion und darin immer wieder stattfindender ursprünglicher Akkumulation. Indem Fraser nun auch die hinter den Widersprüchen des Kapitals liegende soziale Sphäre thematisiert, verschiebt sie Marx‘ Auseinandersetzung der Klassen hin zum Ansatz von Karl Polenyi. Sie will folglich den Kapitalismus nicht nur als ein Wirtschafts-, sondern zugleich als ein Gesellschaftssystem betrachten. Das kann in der Weise, wie sie es tut, hilfreich sein, es kann aber auch schaden; denn das tut auch Karl Marx bereits ohne Karl Polanyi. Frasers Akzentuierung richtet freilich das Augenmerk nochmals auf die Kosten der Reproduktion. Damit wird der traditionelle Klassenkampf Marxens auf das Lumpenproletariat und alle anderen sozialen Kämpfe ausgeweitet.

Ihr Programm skizziert Fraser also im ersten Kapitel und dekliniert es in den folgenden für die Felder Rassismus, Reproduktionsarbeit, Wirtschaft und Politik und die Folgen für einen neuen Sozialismusbegriff durch. Ein Epilog zur Corona-Krise schließt das Buch ab. Hervorzuheben ist das ausführliche vierte Kapitel zum Umgang mit der Ökologie und der Klimakrise. Auf der Line Polanyis entwickelt sie auch einen anderen Politikbegriff als Marx. Dieser ist reformistischer ausgerichtet und anschlussfähiger zu dem, was sich als sozialdemokratische Wendung in der Kritischen Theorie unter Jürgen Habermas und seiner Analyse der Lebenswelt abgespielt hat. Daher stammt auch die Nähe Nancy Frasers zu Seyla Benhabib, Rahel Jaeggi oder Axel Honneth, die sie alle selbst in ihrer Danksagung angibt.

Über die Ökonomie hinaus?
Marx beschreibe also nur die „Vordergrundgeschichte der Ökonomie“, zu der die primitive oder ursprüngliche Akkumulation die Voraussetzungen bilde. Das sei ein historischer Zusammenhang, aber zugleich auch ein aktueller, nämlich als sich wiederholende Geschichte des Raubs und der Enteignung als Exploitation und Expropriation. Das „schmutzige Geheimnis des Kapitals“ bestehe sowohl in der Nichtentlohnung eines Teils der Arbeitszeit der Arbeiter als auch derjenigen, die diese überhaupt ermögliche. Anders also als etwa Georg Lukács, dem es auf den Verdinglichungsaspekt des Kapitalismus ankommt, sieht Fraser dessen Besonderheit darin, die ihn strukturierenden sozialen Beziehung so zu behandeln, als ob sie wirtschaftliche wären.[6]

Kapitalismuskritik als Summe und Bricolage.
Was sich Frasers synthetisierendem Blick als Zugewinn in einer Summe darstellt, führt allerdings zugleich zu einer Schwäche in Bezug auf die Trennschärfe der reklamierten Analyse. So entsteht die Schimäre einer Ganzheitlichkeit eines politischen Kampfes gegen den Kapitalismus, der damit umgekehrt zu einem religiösen Schicksalszwang essenzialisiert wird. Auch diese Folge zeigt sich bereits bei Karl Polanyi. In der Schlussapotheose seines Buches will er die Menschheitsentwicklung in drei Phasen einteilen: die des Kampfes gegen den Tod (Altes Testament), die der Erkenntnis der wirtschaftlichen Freiheit (Neues Testament) und die der Konsequenzen aus der Massengesellschaft, die eine Regulierung dieser Verhältnisse fordert.[7] Das bildet einen heilsgeschichtliche Spannungsbogen, auf dem auch Nancy Frasers Politikvorstellung aufgespannt sind. Die hier zum Vorschein kommende Fortschrittsvorstellung ist optimistisch und ähnelt nicht zufällig der des Neukantianismus. Zugleich lässt sich das Sammelsurium seines Buches als eine Art Steinbruch der Kritik des Liberalismus und der fundamentalistischen Markthörigkeit nutzen. Von beidem strahlt etwas auf Frasers Kapitalismuskritik aus. Diese wird ebenfalls zu einer Art bricolage, einer Bastelanleitung, die sich jeder zusammenstellen kann. Die Trennschärfe aber, die wir in der US-amerikanischen Linken beispielsweise bei Herbert Marcuse oder Frederic Jameson noch finden, wird bei Nancy Fraser tendenziell preisgegeben. Gegen eine solche Hypostasierung hilft die Erkenntnis von Karl Marx, dass der Kapitalismus sowohl eine formelle als auch eine informelle Seite besitzt.

In Nancy Fraser und in Karl Polanyi haben wir uns jeweils ein Anti-Walross und einen Anti-Zimmermann vorzustellen, die sich auf den Weg gemacht haben, ihren Gegenstücken die Suppe zu versalzen und die Autophagie des Kapitalismus aufzuhalten.


[1] Das Gedicht, das Alice von den Zwillingen Tweedledum and Tweedledee hört, taucht auch in Walt Disneys Zeichentrickfilm Alice im Wunderland von 1951 auf.

[2] „Alles in allem bietet die Kannibalismus-Metapher mehrere vielversprechende Ansätze für eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaft. Sie lädt uns dazu ein, diese Gesellschaft als eine institutionalisierte Fressorgie zu betrachten, deren Hauptgericht wir selbst sind.“ (S. 11).

[3] Allerdings fehlen in Frasers Analyse der Metapher des sich selbst auffressenden Ouroboros weitere Zusammenhänge des Kannibalismus: einmal die Kannibalischen Regime, die in der Diskussion um Trotzki im engeren Sinne für Hitlers und Stalins Regime stehen; und zum zweiten die Dialektisierung der Anthropophagie, wie sie von linken Theoretikern um Oswaldo Andrade in ihrem Anthropophagischen Manifest 1928 vorgenommen wurde. Vgl. Helmut Dahmer, Trotzki, die Psychoanalyse und die kannibalistischen Regime  und https://www.ufrgs.br/cdrom/oandrade/oandrade.pdf; letzter Zugruff am 05.06.2023.

[4] Vgl. Fraser, „Warum zwei Karls besser sind als einer: Mit Polanyi und Marx zu einer Kritischen Theorie zeitgenössischer Krisen“, in: Kritische Theorie der Politik, herausgegeben von Ulf Bobmann und Paul Sörensen, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 63-83.

[5] Karl Polanyi, Die große Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978. Wie weitere von Polanyi inspirierte Analysen aussehen, demonstriert der Band Heinrich Geiselberger (Hg.), Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit, Berlin: Suhrkamp 2017.

[6] Fraser fasst ihre Bemühungen zusammen: „Wir haben es hier — mit Karl Marx gesprochen — mit vier »Widersprüchen des Kapitalismus« zu tun — dem ökologischen, dem sozialen, dem politischen und dem rassistischen/imperialistischen —, von denen jeder einer Gattung der Kannibalisierung entspricht und eine »Krisentendenz« verkörpert. Im Gegensatz zu den von Marx hervorgehobenen Krisentendenzen sind diese jedoch nicht auf innere Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft zurückzuführen. Sie beruhen vielmehr auf den Widersprüchen zwischen dem Wirtschaftssystem und seinen Rahmenbedingungen — zwischen Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, Wirtschaft und Gemeinwesen, Ausbeutung und Enteignung. Wie wir gesehen haben, führen sie zu einem breiten Spektrum sozialer Kämpfe in der kapitalistischen Gesellschaft: nicht nur zu Klassenkämpfen im engeren Sinn auf der Ebene der Produktion, sondern auch zu Grenzkämpfen um Ökologie, soziale Reproduktion, politische Macht und Enteignung. Als Reaktion auf die der kapitalistischen Gesellschaft innewohnenden Krisentendenzen sind diese Kämpfe für unsere erweiterte Sicht des Kapitalismus als institutionalisierte Gesellschaftsordnung unabdingbar.“ (S. 52)

[7] „Wir haben uns auf das bezogen, was wir für die drei grundlegenden Fakten des Bewußtseins des westlichen Menschen ansehen: das Wissen um den Tod, das Wissen um die Freiheit und das Wissen um die Gesellschaft. Das erste wurde, nach der jüdischen Legende, in der Geschichte des Alten Testaments geoffenbart. Das zweite wurde durch die Entdeckung der Einzigartigkeit des Individuums geoffenbart, wie sie in den im Neuen Testament festgehaltenen Lehren Jesu zum Ausdruck kommt. Die dritte Offenbarung erfuhren wir durch das Leben in einer industriellen Gesellschaft. […] Sie ist das konstitutive Bewußtseinselement des modernen Menschen.“ (Polanyi 1944, S. 342-343).

Artikel online seit 08.06.23
 

Nancy Fraser
Der Allesfresser
Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt
Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn
edition suhrkamp
Klappenbroschur,
282 Seiten
20,00 €
978-3-518-02983-1

Leseprobe & Infos

 

 


Glanz & Elend
- Magazin für Literatur und Zeitkritik
Home   Literatur   Krimi   Biografien, Briefe & Tagebücher   Politik   Geschichte   Philosophie    Impressum - Mediadaten