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Der »song and dance man«

Teil 2: Zur Rolle der Kontrafaktur in Dylans Songwriting

Ein Essay von Ulrich Breth

Mit der Philosophie des modernen Songs ist noch nicht die Frage nach der Relevanz von Dylans seit den späten 1980er Jahren einsetzendem Spätwerk berührt. Und noch weniger die, wie er selbst gesehen werden will. Dass er sich inzwischen historisch sieht und auf die Rezeption seines Werkes Einfluss nimmt, lässt sich neben den bereits erwähnten »Chronicles« der Edition seiner Bootleg Series entnehmen, die mit der Veröffentlichung von »Fragments. The Time Out Of Mind Sessions (1996 – 1997). The Bootleg Series Vol. 17« im Januar 2023 einen neuen Höhepunkt erreicht hat.

Für viele seiner Kritiker gilt »Time Out Of Mind« als das beste Album, das Dylan seit »Blood On The Tracks« (1974) aufgenommen hat. In ihrer Rezension, die am 29. September 1997 in »USA Today« erschienen ist, bezeichnete die Musikjournalistin Edna Gundersen die Songzeilen des Albums als fesselnde Erinnerungen daran, dass Dylans Inspiration und Einbildungskraft ungebrochen seien. Indes, der Hörer der die Songs des Albums mit denen vergleicht, die er in den 1960er Jahren geschrieben hat, gewinnt den Eindruck, dass Dylans muse and imagination sich inzwischen aus anderen Quellen speist. Einen Eindruck, den Dylan  in einem Interview bestätigt hat, das er dem Fernsehjournalisten Ed Bradley für die CBS 2004 gegeben hat. Auf Bradleys Frage, ob er enttäuscht sei, dass er seine Songs, wie das kurz zuvor erwähnte »It's Alright, Ma (I'm Only Bleeding« nicht mehr aus dem Unterbewußten schreiben könne - Dylan selbst verwendet in diesem Zusammenhang den Ausdruck almost magically written -, antwortete dieser: Well, you can’t do something forever. I did it once, and I can do other things now. But I can't do that. 

Ohne die Einsicht, die Dylan hier formuliert, wäre sein Spätwerk kaum zustande gekommen. Ein entscheidender Einfluß für dieses Spätwerk war Daniel Lanois, der die beiden Alben »Oh Mercy« und »Time Out Of Mind« produziert hat. Zehn Jahre jünger als er, hatte er die Vorstellung, Dylan zunächst allein mit seiner Gitarre ins Studio zu setzen und um ihn herum Soundskulpturen zu erschaffen, die es mit der Magie seiner frühen Songs aufnehmen können sollten. Die Zusammenarbeit war spannungsreich und nicht frei von Konflikten. Dylan hatte oft das Gefühl, Lanois würde seine Songs in eine Richtung drängen, wo sie nicht hingehörten. In den »Chronicles« nimmt die Entstehungsgeschichte von »Oh Mercy« mehr als achtzig Seiten ein; dabei erweist sich Dylan oft als unzuverlässiger Erzähler. Seine Version lässt sich nicht immer durch die gut dokumentierte Sessionographie des Albums belegen. Er arbeitet mit Verdichtungen und Verschiebungen, und das I did it once, and I can do other things now ist bereits hier als organisierendes Prinzip am Werk. Obwohl er sich bewußt ist, was er gemeinsam mit Lanois geleistet hat, vermittelt er gelegentlich den Eindruck eines Mannes, der das Gefühl hat, gescheitert zu sein. Ich war mit einer Ideenkakophonie angereist und hatte unter den wachsenden Augen der Götter alles gegeben, was mir zu Gebote stand. Von Zeit zu Zeit waren wir aneinandergeraten, aber unsere Auseinandersetzungen hatten nie zu erbitterten oder komplizierten Machtkämpfen geführt. Am Ende muß man immer ein paar Abstriche von den eigenen Vorstellungen machen und Kompromisse schließen, und so war es auch gekommen, aber ich war zufrieden mit der Platte und Danny ebenfalls. Ich kann nicht sagen, ob es die Platte war, die wir uns jeweils gewünscht hatten. Die zwischenmenschliche Dynamik spielt eine zu große Rolle, und es ist ohnehin nicht immer das wichtigste im Leben, daß man bekommt, was man sich wünscht. Der Abstand zwischen der Platte, die man sich wünscht, und der Zufriedenheit mit dem Resultat der Zusammenarbeit lässt sich nicht verdecken. Darauf kommt Dylan nochmals zurück, und zwar in der alternativen Form, sich entweder mit dem Ergebnis anzufreunden oder aber es ein weiteres Mal zu versuchen. Zunächst heißt es noch: Man macht das Beste aus den Karten, die einem das Leben austeilt. Wir müssen zusehen, wie wir damit zurechtkommen. Dann richtet sich der Blick des Verfassers der »Chronicles« nach vorn, auf seine Zusammenarbeit mit Lanois für das Album »Time Out Of Mind«: Danny und ich sollten uns zehn Jahre späterr wieder über den Weg laufen und noch einmal gemeinsam zur Sache kommen, mit Pauken und Trompeten. Wir nahmen eine Platte auf und fingen von vorn an, genau da, wo wir aufgehört hatten. Er läßt keinen Zweifel aufkommen, dass »Time Out Of Mind« sein Vorgängeralbum mit Lanois in den Schatten stellen sollte.

Drei der besten Songs haben es bei beiden Produktionen nicht auf das endgültige Album geschafft. Bei »Oh Mercy« war dies »Series of Dreams«, bei »Time Out Of Mind« »Red River Shore« und »Mississippi«, der dann in einer Neuaufnahme auf dem Album »Love And Theft« (2001) zu hören ist. In diesen Fällen war Dylan offenbar der Meinung, dass der Song zu lange im Studio bearbeitet worden war. So zumindest hat es Clinton Heylin, der große Chronist und Kommentator von Dylans Songs, in seinem Band »Still On The Road« im Hinblick auf »Red River Shore« beschrieben. Dort gibt er ein kurzes Gespräch zwischen Dylan und dem Musiker und Produzenten Jim Dickinson wieder. In ihm äußerte Dylan gegenüber Dickinson, der »Girl From The Red River Shore« für das beste Stück hielt, das sie aufgenommen hätten, sie hätten bei der Produktion des Songs alles versucht, außer ein Symphonieorchester zu engagieren. Offensichtlich fürchtete Dylan, dass die Spontaneität der Songs durch einen sich in die Länge ziehenden Produktionsprozeß verloren geht. Im Gegensatz hierzu besteht sein Ideal darin, mit einem fertigen Song und einer eingespielten Band ins Studio zu marschieren, um ihn live möglichst in einem Take aufzunehmen.

So zumindest lässt sich verstehen, dass er in den »Fragments« der definitiven Fassung von »Not Dark Yet« eine als Take 1 bezeichnete Version gegenüberstellt, die mit ihr auffällig kontrastiert. Während sich Dylans Stimme auf Take 1 von der schwungvoll aufspielenden Begleitband mitreißen läßt, als gelte es, noch einmal die Zeiten von »Absolutely Sweet Marie« lebendig werden zu lassen, schafft Lanois in der definitiven Version durch die sorgsame Instrumentierung einen Raum, in dem sich die negative Utopie des Songs als Augenblick des Stillstands der Zeit entfalten kann. I was born here and I'll die here / Against my will/ I know it looks like I'm moving,/ But I'm standing still. Hier zumindest erweist sich Lanois  als der treue Sachwalter des I did it once, and I can do other things now.

Im Gegensatz hierzu liegt das Momentum, wenn man die verschiedenen Fassungen von »Mississippi« vergleicht, auf Dylans Seite. Während sich seine Stimme bei den Aufnahmen, die anlässlich der »Time Out Of Mind«-Sessions am 11. Januar 1997 entstanden sind, in der dem Song von Lanois verordneten Polyrhythmik nicht zurechtfindet, bildet diese Stimme beim Re-recording für »Love And Theft« das Zentrum  in  einem elegant dahindriftenden Meisterwerk.

Was »Red River Shore« zur Ausnahmeerscheinung unter den Songs macht, die Dylan geschrieben hat, ist der Umstand, dass sich an ihm nicht nur die Stichhaltigkeit seines wiedererwachten künstlerischen Selbstbewußtseins (I did it once, and I can do other things now) erweisen, sondern auch zeigen lässt, was es mit der theologisch relevanten Semantik seiner Songs auf sich hat. Dazu soll zum Vergleich sein früher Song »With God On Our Side« (1963) herangezogen werden. 

Ich schließe mich zunächst den Überlegungen Heinrich Deterings über die Bedeutung der biblischen Sprache für Dylans songwriting an, die er unter Hinweis auf die grundlegende Arbeit »Dylan's Vision of Sin« (2003) von Christopher Ricks im Rahmen des Frankfurter Bob Dylan Kongresses 2006 vorgetragen hat, folge aber, was die Relevanz der theologischen Motive in Dylans Songwriting betrifft, einer anderen Spur.         

Zunächst führt er in überzeugender Weise aus, dass Dylan oft in knappen Abbreviaturen weitläufige Zusammenhänge herstellen kann, die auf jüdischen und christlichen Denkmustern, Bildern, Erzählungen beruhen und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass kritisches Bewußtsein (…) bei Dylan über weite Strecken identisch mit religiösem Bewußtsein ist. Im Folgenden unterscheidet er drei Phasen in Dylans musikalischem Schaffen, die durchgängig durch die Ununterscheidbarkeit religiöser und weltlicher Motive seines songwritings bedingt sind. Im Frühwerk, zwischen »When The Ship Comes In« und »The Times They Are A-Changin'« ist die Frage nicht entscheidbar, wo Politik aufhört und Religion beginnt; sie ist eigentlich schon falsch gestellt. In der mittleren Phase ist unentscheidbar, wo die irdische Liebe aufhört und die himmlische beginnt. Im Spätwerk ist unentscheidbar, wo das Traditionszitat aufhört und das Glaubensbekenntnis beginnt. Dabei sind die drei Konversionsalben »Slow Train Coming« (1979), »Saved« (1980) und »Shot Of Love« (1981) der Extremfall, an dem sich der kohärente Zusammenhang jüdischer und christlicher Motive in seinem Songwriting darstellt. Die Eruption der drei christlichen Konversionsalben ist ein ekstatischer, auch exaltierter Höhepunkt in Dylans religiöser Songwelt – aber ein Fremdkörper oder Ausreißer ist sie nicht. Im grellen Licht dieser Phase übersieht man leicht die Kontinuität der Denk- und Schreibmuster, die zu ihr geführt haben und die nach ihr noch bemerkenswert lange dauern.

Die Verschränkung politischer und theologischer Motive in Dylans Songs der 1960er und 1970er Jahre sollte nicht dazu verleiten, sie auf ein religiöses Bewußtsein zurückzuführen, das für die Kontinuität seiner Denk- und Schreibmuster einsteht. Denn die jüdischen und christlichen Denkmuster entnimmt Dylan, wie Detering selbst schreibt, eher den religiösen patterns der amerikanischen Songtradition und den Kostümierungen des Westerns oder des Delta Blues, und nicht einem systematisch betriebenen Bibelstudium. Dort schlägt er die Zitate allenfalls nach. Ihr Zitatcharakter gehört zur Ausdrucksschicht seiner Songs; sie sind nicht Konjekturen einer religiösen Überzeugung, die sich durch sein Werk zieht Vielmehr bietet ihm die biblische Sprachwelt die Möglichkeit, sich im Zeitalter des common man in seinen Songs der Form des erhabenen Sprechens zu versichern. Die Wahrnehmung dieser Sprachform ist ein Geistesgefühl (Kant), das dem common man den Abstand zwischen dem Reich der Ideen und der phänomenalen Welt, also zwischen dem Ideal der Freiheit, wie es in der amerikanischen Verfassung seinen Ausdruck findet, und den Entfremdungserscheinungen der kapitalistischen Warenwelt, fühlbar macht.  

Diese Möglichkeit handhabt er in seinen frühen Songs und seinem Spätwerk in durchaus unterschiedlicher Weise. Demgegenüber unterliegt er in der Zeit, in der er sich zum evangelikal-fundamentalistischen Christentum hingezogen fühlt, einem Metaphernrealismus, der sowohl als Ausdruck einer künstlerischen Krise als auch einer Lebenskrise verstanden werden kann. Er bildet die Zäsur zwischen zwei unterschiedlichen künstlerischen Verfahrensweisen, die sich der Meisterschaft seiner frühen Songs und dem mit dem Beginn seiner sogenannten Never Ending Tour einsetzenden Spätwerk zuordnen lassen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei das Phänomen der Kontrafaktur. Kontrakfakturen sind Lieder mit einer überlieferten Melodie, denen ein neuer Text unterlegt wird. Hierbei wird in der Regel ein geistliches Lied in ein Lied mit weltlichem Gehalt überführt. Bei Dylans Songs verhält es sich nicht selten umgekehrt. Dabei ist er sich der historischen Rolle, die die Kontrafaktur in der Musikgeschichte gespielt hat, durchaus bewußt. In dem bereits erwähnten Interview mit dem Wall Street Journal antwortete er auf die Frage, welcher musikalischen Richtung seine erste Zuneigung galt: Sacred music, church music, ensemble singing. 

Die beiden Songs, an denen der kategorischen Wechsel der theologisch relevanten Semantik von Dylans Songs überprüft werden soll, sind durch einen Abstand von dreieinhalb Jahrzehnten getrennt. Beide sind ungefähr gleichweit von seiner Konversionsphase entfernt. Auch bei ihnen handelt es sich um Kontrafakturen.

»With God On Our Side« geht auf den Song »The Patriot Game « von Dominic Behan zurück, der seinerseits auf der Melodie eines Traditionals beruht, das unter den Titeln »One Morning in May«, »The Bold Grenadier« und »The Nightingale « überliefert ist. Behan, der wie sein familiäres Umfeld Aktivist der IRA war, hat die Melodie des Liebeslieds in charakteristischer Weise verformt und ihr einen Text unterlegt, der den Tod des 20 Jahre alten Freiwilligen Fergal O'Hanlon beim Angriff auf eine nordirische Polizeistation in Brookborough Anfang 1957 zum Anlass nahm, um die Instrumentalisierung des irischen Patriotismus durch die IRA für ihre Rekrutierungszwecke zu kritisieren. In Clinton Heylins erstem Band über die Songs von Bob Dylan »Revolution In The Air« lässt sich nachlesen, dass Dylan Behans Song vermutlich während seines Aufenthalts in London im Dezember 1962/Januar 1963 gehört haben dürfte, und auch, dass Behan sich später über Dylans Aneignung des Songs als Plagiat ereifert haben soll. Ein Vergleich der folgenden Songzeilen verdeutlicht, wie eng sich Dylan mit »With God On Our Side« an Behans »Patriot Game « angelehnt hat.

In der zweiten Strophe in Behans Song heißt es zunächst: My name is O'Hanlon and I'm just gone sixteen/ My home is Monaghan, there I was weaned. Daraus wird Dylan die großartigen Songzeilen machen: Oh my name is nothin'/ My age it means less/ The country I come from/ Is called the Midwest. Während Behan durch die Namens- und Altersangabe eine Stimmung der Authentizität zu schaffen versucht, die die historische Wahrhaftigkeit seines Songvortrags beglaubigen soll, wobei das jugendlichen Alter O'Hanlons das Bild der verführten Unschuld evoziert, erzeugt Dylan mit den Anfangszeilen seines Songs den erhabenen Ton, von dem bereits die Rede war. Sein Name und sein Alter haben keinerlei Bedeutung, da die mythologische Bezeichnung, die er für seine Herkunftsort wählt (The country I come from/ Is called the Midwest), einer anderen Ordnung angehört als der, die in Ausweispapieren zu finden ist.  Bei Behan lauten die beiden folgenden Zeilen: I was taught all my life cruel England to blame/ And so I'm a part of the patriot game. Bei Dylan lauten die ersten vier Zeilen der sechsten Strophe: I've learned to hate Russians/ All through my whole life/ If another war starts/ It's them we must fight. Auch hier überbietet Dylan die Lyriclines seines Vorgängers. An die Stelle der politischen Indoktrination ist ein manichäisches Weltbild getreten, in dem sämtliche Lebensbereiche durch den Kampf gegen das durch die Russians verkörperte Reich des Bösen bestimmt sind.

Während Behans Kritik am patriot game der IRA  den historischen Rahmen der 1950er Jahre nicht verlässt, wendet Dylan ihn ins Grundsätzliche und gibt ihm eine theologische Wendung durch den Anspruch der Machteliten der USA, in kriegerischen und ideologischen Auseinandersetzungen Gott auf ihrer Seite zu haben. Dieser Anspruch wird anhand der Ausrottung eines großen Teils der indianischen Urbevölkerung Nordamerikas, des spanisch-amerikanischen Kriegs und des amerikanischen Bürgerkriegs, des Ersten und Zweiten Weltkriegs problematisiert sowie dem Status der germans, denen, obwohl sie sechs Millionen Juden ermordet haben, vergeben wurde, und die nun zu euphemistisch als Freunde bezeichneten Verbündeten geworden sind, die ebenfalls Gott auf ihrer Seite haben. Er manifestiert sich im Antikommunismus der McCarthy-Ära, der vor dem Hintergrund des Ost-West-Gegensatzes die Welt auf die nächste Katastrophe zutreiben lässt, sowie in der Entgrenzung des Krieges durch den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, bei dem das Schicksal der Menschheit auf dem Spiel steht. Bevor sich Dylan in der Schlußstrophe in die Vorstellung rettet, dass ihr durch einen Akt höherer Gewalt der nächste Krieg erspart bleiben möge (If God's on our side/ He'll stop the next war), hat er die Problematik seines Songs  durch den unmittelbaren Zugriff auf ein zentrales biblisches Bild nochmals radikal zugespitzt und verschärft: Through many dark hour/ I've been thinkin' about this/ That Jesus Christ/ Was betrayed by a kiss/ But I can't think for you/ You'll have to decide/ Whether Judas Iscariot/ Had God on his side.

Judas Iskariot gehört zur Tischgemeinschaft Jesu. Auch wenn er sie vorzeitig verlassen hat, ist er Teil des szenischen Geschehens, in dem der Menschensohn verherrlicht wird. (Joh. 13, 31). Aber damit ist noch nicht die Frage beantwortet, die Dylan an seine Hörer weiterreicht, indem er sie auffordert, sich auf die alte Geschichte einen eigenen Reim zu machen. Weniger als drei Jahre später, am 17. Mai 1966, wird Dylan selbst bei einem Konzert in der Manchester Free Trade Hall als Judas beschimpft werden, weil er vom puristischen Folk zum elektrifizierten Rock 'n' Roll gewechselt ist. Noch Jahrzehnte später beklagte sich Dylan, wie Willi Winkler am 17. Mai 2016 im Spiegel zu berichten wusste, dass ihm an jenem Abend der meistgehasste Name der Menschheitsgeschichte angehängt worden war.

Dylans Rückgriff auf die Figur des Judas Iskariot bleibt widersprüchlich. Diesen Widerspruch übernimmt er, indem er als Erbe in den Traditionszusammenhang der Americana eintritt, in dem die politische und die theologische Sphäre, wie nicht zuletzt die Rede über das Jahrhundert des common man des amerikanischen Vizepräsidenten Henry A. Wallace gezeigt hat, nicht klar voneinander zu unterscheiden sind. Dieser Traditionszusammenhang bildet die mythische Schicht, aus der Dylan Gestalten, Bilder und Erzählungen in seinen Songs ans Licht geholt hat. Sie sind den Bodenschätzen vergleichbar,  die die Bergleute aus Minnesota zutage gefördert haben, denen er in seiner Kindheit und Jugend in Duluth und Hibbing begegnet ist. 

Der Song »Red River Shore«, von dem Dylan während der »Time Ouf Mind«-Sessions im September/ Oktober 1996 und im Januar 1997 mehrere Takes aufgenommen hat, geht auf ein Traditional zurück, das Patt Patterson und Lois Dexter 1930 als Gesangsduett mit Gitarren- und Banjo-Begleitung aufgenommen haben. Er findet sich auch auf der Sammlung »American Ballads and Folk Songs also Cowboy Songs and other Frontier Ballads«  der beiden legendären musikalischen Feldforscher John und Alan Lomax aus dem Jahre 1938; in den 1960er Jahren wurde er vom Norman Luboff Choir, den New Christy Minstrels und dem Kingston Trio eingespielt. In der sentimentalen Country-Ballade geht es um die Liebe eines Cowboys zum Girl vom Red River Shore.  die unerfüllt bleibt, da der Vater des Mädchens, als er von den Hochzeitsplänen der beiden erfährt, ihm eine kleine Armee von vierundzwanzig Männern auf den Hals hetzt. In einer der überlieferten Formen des Songs hat sich die junge Frau in die Arme des Red River geflüchtet (To the Red River's arms in despair she had fled).

Das Traditional vom Red River Shore löst bei Dylan nicht mehr den Impuls aus, es in einem unbewussten Akt neu zu erschaffen. Er verhält sich eher wie ein Restaurator, der Schicht um Schicht seiner Vorlage freilegt. Die Songzeile She wrote me a letter, and she wrote it so kind übernimmt er in der zweiten Strophe von »Not Dark Yet«, einem der Songs, der es im Unterschied zu »Red River Shore« auf das Album »Time Out of Mind« geschafft hat. Er verändert die Metrik des Songs und übernimmt den mit dem gespannten langen Vokal ore am Ende jeder Strophe ausklingenden Reim, der dem Song seinen elegischen Ton verleiht. An einer Stelle nimmt er die in der Vorlage mehrfach verwendete Formulierung auf, in der die Geliebte als the one that I'll always adore bezeichnet wird. Indem das lyrische Ich seine Liebe als Akt der Anbetung bezeichnet, bringt sich in der weltlichen Ballade der latent theologische Hintergrund zur Geltung, dem Dylan die Lizenz für seine Bearbeitung entnimmt, die sich als eine Mischung aus Dekontextualisierung, Montage und Zitat beschreiben lässt.

Er befreit die sentimentale Country-Ballade von ihrem historischen Rahmen und verleiht ihr exemplarischen Charakter, indem er sie als Zeichen für die Ausgesetztheit der menschlichen Existenz deutet. Some of us turn off the lights and we lay/ Up in the moonlight shooting by/ Some of us scare ourselves to death in the dark/ To be where the angels fly. Das Ufer des Red River bezeichnet nicht mehr eine Stelle auf der amerikanischen Landkarte, sondern einen imaginären Ort, der zwischen dem locus amoenus der mittelalterlichen Dichtung und der Zone in  den Filmen Andrei Tarkowskis oszilliert; einen Ort, an dem sich Wünsche erfüllen sollen. Da das Mädchen vom Flussufer namenlos bleibt, fehlt ihr ein Bestimmungsmerkmal der Individuation. Nicht nur etwas von ihrem Herkunfsort, sondern etwas von der Liebe selbst geht auf sie über, zumal sie sich als eine Lehrerin der Liebes- und Lebenskunst erweist. She gave me her best advice when she said/ Go home and lead a quiet life. Für dieses Ideal  eines Lebens in ruhender Kontemplation ist es zu spät, seitdem der Liebende ein Auge auf seine Geliebte geworfen hat. Dieser Augenblick wird als ein Akt der Fesselung beschrieben, durch den er für immer seine Freiheit verliert. Well I knew when I first laid eyes on her/ I could never be free/ One look at her and I knew right away/ She should always be with me. Aus dieser Bindung entsteht seine Berufung zum song and dance man, der in der Tradition des Troubadors in der Gegend umherzieht, um dem Horizont seiner Welt das Liedgut zu entreißen, mit dem er sich den Augenblick der Liebe zu vergegenwärtigen sucht. Well I’m a stranger here in a strange land / But I know this is where I belong/ I ramble and gamble for the one I love/ And the hills will give me a song.

Der Zitatcharakter, den Dylans Spätwerk immer wieder annimmt und ihm den Vorwurf eingehandelt hat, er wiederhole sich selbst oder reproduziere gängige Klischees, ist ein bewußt kalkuliertes Verfahren, das zu den others things gehört, die er sich inzwischem gegenüber seinem intuitiven Songwriting der frühen Jahre angeeignet hat. Wenn er am Anfang von »Red River Shore« seinem Liebesideal das konventionelle Verständnis von Liebesdingen durch die Verfügbarkeit einer Reihe hübscher junger Mädchen illustriert und dabei die Formulierung wählt, Pretty maids all in a row lined up/ Outside my cabin door, zitiert er mit den Worten Pretty maids all in a row nicht nur den Titel eines Films von Roger Vadim und eines Songs der Eagles aus ihrem Album »Hotel California«, sondern charakterisiert zugleich den inzwischen als obsolet empfundenen Lebensstil der Jugend- und Gegenkultur der 1970er Jahre. Die eben zitierten Worte Well I'm a stranger here in a strange land sind nicht nur ein wörtliches Zitat von Exodus 2, Vers 22, wo Moses begründet, weshalb er seinen Sohn, den ihm Zippora, die Tochter des Priesters von Midian geboren hat, Gerschom nennt, sondern der Fremde und das Gefühl der Fremdheit sind, wie die Beispiele Baudelaire und Camus oder die Filme Ingmar Bergmans zeigen, eingeführte Topoi der ästhetischen Moderne, in denen sich Karl Mannheims Utopieverständnis als ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden „Sein“ nicht in Deckung befindet artikuliert.

Die beiden Sätze, die Walter Benjamin seinem Projekt über die Pariser Passagen in programmatischer Absicht vorangestellt hat, lassen sich auch als Charakteristiken für Dylans Spätwerk heranziehen: Diese Arbeit muß die Kunst, ohne Anführungszeichen zu zitieren, zur höchsten Höhe entwickeln. Ihre Theorie hängt aufs engste mit der der Montage zusammen. Diese Montagetechnik gilt insbesondere für die letzte Strophe seines Songs, in der Dylan sein Verständnis der unbezwingbaren Macht der Liebe in einzigartiger Weise pathetisiert. Now I heard of a guy who lived a long time ago/ A man full of sorrow and strife/ That if someone around him died and was dead/ He knew how to bring him on back to life/ Well I don’t know what kind of language he used/ Or if they do that kind of thing anymore/ Sometimes I think nobody ever saw me here at all/ ’Cept the girl from the Red River shore. Da die namenlose Geliebte als die Einzige erscheint, die den Sänger der Strophen hier jemals gesehen hat, ist sie die Einzige, die ihm sein Leben verbürgt. Er ist wie ein Toter, den ihre Liebe ins Leben zurückgeholt hat. Aber diese äußerste Existenzmöglichkeit liegt außerhalb der objektiven Wahrnehmungswelt. Denn als der Sänger die Plätze aufsucht, an denen ihn andere mit seiner Liebsten gesehen hatten, kann sich keiner an die beiden erinnern. Everybody that I talked to had seen us there/ Said they didn’t know who I was talkin’ about. Das einzige Zeugnis, das beglaubigen könnte,  dass die Verheißung aus Hoheslied 8, Vers 6, Liebe stark ist wie der Tod und Leidenschaft unwiderstehlich wie das Totenreich, die Dylan seinem Song implementiert, mehr als ein Trugbild ist, ist die alte Geschichte des man of constant sorrow, der Tote ins Leben zurüchholt. Wenn Clinton Heylin in seinem bereits zitierten Werk über diese Strophe schreibt, in ihr handle es sich um Dylans erste direkte Referenz an Christus in einem Jahrzehnt (his first direct reference to Christ in a decade), weist er dem Song in identifizerender Absicht eine Position zu, die Dylan in seinem Spätwerk hinter sich gelassen hat. Der man full of sorrow and strife hat weniger mit der zeichenhaften Figur zu tun, um die die christliche Auferstehungsreligion kreist, sondern vielmehr mit der mythischen Schicht, die ihr zugrundeliegt. Sich mit dem Tod nicht abzufinden, sondern es mit ihm aufzunehmen, wie die Songzeilen der letzten Strophe insinuieren, ist eine wesentlich andere Haltung, als die, die in der Vergeschichtlichung der Eschatologie zum Ausdruck kommt, derzufolge die entscheidenden Heilsereignisse bereits eingetreten sind. Der Zweifel daran, if they do that kind of thing anymore, lässt sich nicht aus der Welt schaffen. Als Dreh- und Angelpunkt der Strophe erweist sich die Zeile, Well I don’t know what kind of language he used, die sich gewissermaßen in die magische Vorstellung von der Auferweckung der Toten versenkt. Darin kommt eine Einstellung zum Ausdruck, die sich von der nicht ganz zu Ende definierten politischen Theologie seiner frühen Songs kategorial unterscheidet. Denn einerseits hält der Song dem Moment der Magie die Treue und andererseits bringt er unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Vorgang der Auferweckung der Toten ein sprachlicher Vorgang ist. Dieses sprachmagische Verständnis  läuft letztlich darauf hinaus, dass es der song and dance man ist, dessen Songs Gestalten ins Leben ziehen. In diesen Songs artikuliert sich kein religiöses Bewußtseins; sie sind vielmehr Ausdruck einer künstlerischen Verfahrensweise, die sich als inverse Theologie bezeichnen lässt. Eine Theologie der Hoffnung also, die uns nur umwillen der Hoffnungslosen gegeben ist.

Artikel online seit 03.08.23
 

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