Der amerikanische Schrifsteller Philip
Roth sagte über Céline: »Mein Proust in Frankreich, das ist Céline!
Er ist wirklich ein sehr großer Schriftsteller. Auch wenn sein
Antisemitismus ihn zu einer widerwärtigen, unerträglichen Gestalt
macht. Um ihn zu lesen, muß ich mein jüdisches Bewußtsein abschalten,
aber das tue ich, denn der Antisemitismus ist nicht der Kern seiner
Romane (...) Céline ist ein großer Befreier.«
Hätte Louis-Ferdinand Céline, der mit bürgerlichem Namen Destouches
hieß, sich durch seine rassistischen Haßtiraden, antisemitischen
Pamphlete wie z. B. »Judenverschwörung in Frankreich« und seine
Kollabroation mit den deutschen Besatzern, nicht selbst desavouiert,
man könnte ihn als einen der großen Solitäre der
Literaturgeschichte des letzten Jahrhunderts feiern.
Als einen brachialen Befreier der französischen
Literatur von einer proustchen Hochsprache, als nihilistischen Vorreiter
eines Existentialismus par excellence, lange vor Camus, Sartre und
Genet.
Ferdinand
Bardamu ist Célines literarisches alter ego. Ein Icherzähler, der uns
auf einen Höllentrip durch das mitnimmt, was allgemein leichthin und
stolz Zivilisation genannt wird. Céline selbst verglich seine
Schreibweise mit der Musikalität des Jazz: »Ich will nicht erzählen, ich
will fühlen machen«. Und das gelingt ihm mit in der Beschreibung der
odysseehaften Reise seines Taugenichts derart eindringlich, daß man das Buch in
seinen Händen vergißt, und sich in einen expressionistischen
Alptraum versetzt fühlt.
Aus den Schützengräben des Großen Krieges geht es über eine
psychiatrische Anstalt in die Gluthitze der französischen Kolonien nach
Afrika. Vom schmutzigsten Arsch der Welt mit
einem Sklavenschiff dann rüber nach Amerika, wo Bardamu sich zuerst als Spezialist
für die Flohstatistiken der Einwanderungsbehörde verdingt, bevor es
ihn in die Eingeweide des Kapitalismus, nach Detroit, direkt in die Fabrik Henry
Fords verschlägt.
»Alles zitterte in dem rießigen Gebäude, man
selber wurde ebenfalls von den Füßen bis zu den Ohren von dem Zittern
befallen, es brandete von den Fenstern und dem Boden und all dem Metall
auf uns ein, stoßweise, vibrierend von oben bis unten. Man wurde selber
zur Maschine, so sehr erbebte das eigene Fleisch in diesem enormen
wütenden Getöse, das einem durch und durch ging und sich um den Kopf
legte und dann weiter nach unten schoß und in die Eingeweide fuhr und
von da aus wieder nach oben in die Augen, in kurzen, rasend schnellen
Stößen, ohne Ende, unermüdlich.«
Zurück aus dem Herz der Finsternis
und den Eingeweiden des Kapitals, bringt Bardamu sein Medizinstudium zu
Ende und läßt sich in einer der trostlosen Banlieues von Paris als
Arzt nieder. Als Arzt für die Armen, der sich keine Illusionen mehr über
das Leben macht und weiß, daß es aus dieser
Hölle kein Entkommen gibt und keine Hoffnung, nirgends ...
»Eines Tages will man immer weniger über die Sachen reden, die einem
wirklich am Herzen liegen, und wenn mans muß, braucht es eine
Riesenüberwindung. Man hat die Nase voll, sich immer schwafeln zu hören
... Man kürzt ab ... Man verzichtet ... Seit dreißig Jahren schwafelt
man schon ... Man legt keinen Wert mehr darauf, Recht zu haben. Man
verliert sogar die Lust, den kleinen Platz zu behaupten, den man sich
zwischen den Genüssen erobert hat ... Man ist von sich selber angewidert
... es reicht jetzt, ein bisschen was zu fressen, es sich ein bisschen
warm zu machen und so viel zu schlafen, wies nur geht auf dem Weg durchs
Nichts. (...) Man ist nichts mehr als eine alte Laterne voll
Erinnerungen, an einer Straßenecke, wo schon fast niemand mehr
vorbeikommt.«
Kurzweil statt Konzentration
Célines Parforceritt auch als Hörspiel.
Lesen oder Hören,
das ist die Frage.
Funktioniert diese Reise auch als Hörspiel? Ulrich Lampen hat
den Versuch gewagt, und setzte
das Meisterwerk 2008 für den Bayerischen Rundfunk
mit 17
Schauspielern in Szene. »Es ist ein Buch, das man in seiner elementaren
Sprachlust laut lesen möchte – uns so kommt es in der Hörspielform zu
sich selbst,« meinte die FAZ.
»Unterlegt
und durchbrochen von Akkordeonklängen, Stöhnen, Maschinenlärm und
musikalischen Bruchstücken wird diese Produktion des Bayerischen
Rundfunks sicher zu den Höhepunkten bei den Hörspiel-Neuerscheinungen
2008 zählen«, mutmaßte das Magazin
hörBücher.
Doch obwohl Ulrich Lampen bei
seiner sehr ambitionierten Regiearbeit darauf geachtet hat, Célines
Stil, Form und Sprache zu folgen, und »nichts leichtfertig in Szenen zu
überführen, um eine triviale Verhörspielung zu ermöglichen« geht beim
Hören der Zauber des Textes verloren. Die vortragenden Stimmen haben Bardamu
hörbar nicht verinnerlicht, sie sagen seinen Text in der guten alten
Schulfunkmanier, ohne ihn zu meinen, man hört ihnen die Bemütheit an.
Der magische Sog, der sich beim Lesen des Buches automatisch einstellt,
hatte keine Chance, sich zu entwickeln, weil die Collagetechnik (Text,
Musik, Geräusche, etc.) keine wirkliche Konzetration auf das Gehörte
zulassen. Es bleibt bei einer zwar durchaus unterhaltsamen Beschallung
des Hörers, die jedoch den tatsächlichen Schrecken, die abgrundtiefe
Verlorenheit in keiner Sekunde erfahrbar machen. Das Wesentliche dieses
Buches verliert sich in einem diffusen Klangraum, weil es nur im Raum
des Lesens existieren kann, nur in der Einsamkeit des Lesers mit dem
Text.
Das Medium Hörspiel hat ohne Zweifel seine eigenen Qualitäten, aber es
hat auch seine Grenzen. An sie ist man mit dieser Produktion der
»Reise ans Ende der Nacht«
gestoßen.
Artikel aktualisiert 12.10.23
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Bücherliste:
Louis-Ferdinand Céline
Reise ans Ende der Nacht
Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
670 Seiten,
Rowohlt, 34,00
€
978-3-498-00926-7
Tod auf Kredit
Roman
deutsch von Werner Bökenkamp
448 S., Tb,
rororo, € 8,50
3-499-15597-4
Norden
Roman
deutsch von Werner
Bökenkamp
384 S., Tb,
rororo,
€ 6,50
3-499-15499-4
Guignol's Band
Roman
deutsch von Werner Bökenkamp
320 S., HC,
Rowohlt,
€ 24,00 /
3-498-00867-6
Guignol's
Band II
Roman
deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
Rowohlt 672 S., HC,
€ 34,00
3-498-00887-0
Von einem Schloß zum andern
Roman
Rororo
deutsch von Werner Bökenkamp
352 S., Tb,
€ 7,50 / sFr 13,50
3-499-14964-8
Louis-Ferdinand
CÉLINE
FORTSCHRITT und andere Texte für Bühne
und Film
aus dem Französischen von Katarina Hock,
Merlin Verlag,
260 S. kart.,
€ 16,40, 3-926112-57-3
Louis-Ferdinand
CÉLINE
BRIEFE UND ERSTE SCHRIFTEN AUS AFRIKA 1916 -
1917
zahlr. Fotos, ca. 200 S. broschiert,
Merlin Verlag
€ 16,40
ISBN 3-926112-80-8
Louis-Ferdinand
CÉLINE,
DIE KIRCHE
Komödie in fünf Akten
Merlin Theater
aus dem Französischen von Gerhard Heller
184 S. kart., € 12,-,
3-87536-009-5
Lucette Destouches;
Véronique Robert
Mein Leben mit Céline
Aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.
Mit einem Nachwort von Franziska Meier.
Piper Verlag,
128 S.,
€ 14,90
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