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Tränen lügen doch

Bov Bjergs dystopischer Slapstick »Der Vorweiner«

Von Gregor Keuschnig

 

Ein bisschen erinnert Bov Bjergs Setting zunächst an Orwells 1984. Da ist von einem "Resteuropa" die Rede (vermutlich ist Deutschland damit gemeint), "normalen Menschen" und der "Niederschicht". Nahezu alle europäischen Länder sind failed states, untergegangen in Überschwemmungen oder Kriegen. Entsprechend sind die Flüchtlingswellen, die in mehreren Rettungsaktionen von Resteuropa (zuletzt von "Zorro Zauderzwerg") im Zaum gehalten werden sollen. Wer kann hält sich einen "Vorweiner", der einzig dazu da ist, seinen "Besitzer" nach dessen Tod anständig und öffentlichkeitswirksam zu betrauern. Dafür lebt er wie ein Familienmitglied, wird bekocht und man müht sich um sein Wohlbefinden. Man kocht ihm sogar sein für andere nahezu ungenießbares Lieblingsgericht. Der Nachteil: Seine Anwesenheit erinnert von nun an ständig an den Tod. Und das, obwohl der Tod aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeblendet wurde. Was sich zunächst in einem Körperkult zeigt, der 70jährige durch entsprechende Operationen einen Körper von 20jährigen verschafft. Friedhöfe sind weitgehend anonymisiert und Beerdigungen werden nur noch online übertragen und heißen Zerstreuungsfeier (im doppelten Sinn). Hier zeigen die Vorweiner dann ihre jahrelang vorbereitete Kunst. Später werden sie dann erben.

Vorweiner werden aus den Flüchtlingen der zerfallenen Staaten rekrutiert; Niederschichtler kommen nicht infrage. Insbesondere die geschätzten Vorweiner aus dem Gebiet um den Golf von Guinea sind knapp und nahezu unbezahlbar. Eine der beiden Hauptfiguren, Anna, eine ehemalige Kunsthistorikerin und Kuratorin, die nach dem überraschenden Freitod ihres Mannes noch einmal aufblühte, ist um die 70 und sucht einen Vorweiner. Sie muss nach langer Suche mit dem Niederländer Jan Vorlieb nehmen. (Kleiner Tipp: Keinen Österreicher nehmen!) Jetzt gibt es für sie noch zwei Wünsche: Kartoffeln ernten und dabei im Sand wühlen (das Ernteresultat ist dürftig) und ein Schwein schlachten und nackt in den toten, ausgenommen Körper einsteigen, um noch einmal neu geboren zu werden. Das Erlebnis ist irgendwie enttäuschend, die Regression will sich nicht so recht einstellen. Am Ende wird sie schließlich feststellen: "Es gibt keine Erlösung". Zwischendurch erwischt Anna ihren Vorweiner, wie er am Telefon um seine verstorbene Mutter trauert, und fast ist die Hölle los.

Annas Tochter, Berta, eine "Klickbeuterin", Verkäuferin frei erfundener Meldungen, die als immergleiche Pointe die Schreie trauernder Personen haben, lebt in Berlin und vergnügt sich mit einem Pizza-Boten aus der Niederschicht. Sie ist für sich Ich-Erzählerin; Annas Erlebnisse werden von einem allwissenden Erzähler übernommen, der den Leser auch über die Gegebenheiten dieses Resteuropa aufklärt. Die Kapitel wechseln zwischen den beiden Hauptpersonen unregelmäßig hin und her.

Bergs Roman ist über weitere Strecken mehr Slapstick und Satire als Dystopie. Die gesellschaftlichen Auswirkungen dieses Resteuropa werden nicht entwickelt. Warum alle Orte außer Berlin den Präfix "Neu" tragen ("Neuhamburg") muss man sich selber zusammenreimen. Eine Identifikation mit Anna und/oder Berta gelingt nicht. Einiges ist wirklich lustig, etwa der Ruin der Schweiz, weil in den Tresoren die Goldfäule die Reserven wertlos machte, Schloß Neuschwanstein als Notaufnahmelager für Flüchtlinge, die exzessive Schilderung vom Sex mit dem Pizza-Karton oder die Anspielungen auf den Betroffenheits- und "Gottesaugen"-Journalismus. Erst am Ende entwickelt sich aus der Satire für einige wenige Seiten eine bitterböse Parabel auf die aktuelle Flüchtlingsproblematik.

Artikel online seit 11.09.23
 

Bov Bjerg
Der Vorweiner
Roman
Ullstein
240 Seiten
24,00 €
9783546100380

 

 


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