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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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»Wirklichkeitskontrolle«

Ein
»Gruß aus dem Zeitalter der Gleichmachung«

Von Gregor Keuschnig


In George Orwells Roman »1984« gibt es im Wahrheitsministerium, das sich dem Leser durch die Sicht auf den Protagonisten Winston Smith langsam erschließt, eine Figur mit dem Namen Ampleforth. Er ist ein »verträumter« Mensch mit »stark behaarten Ohren«. Seine Aufgabe besteht darin, geänderte Texte von Gedichten hin zu »‘endgültigen Fassungen’« zu erstellen. Er besaß bei aller Untüchtigkeit, die ihm attestiert wird, immer­hin das Talent, »mit Reimen und Versmaßen zu jonglieren«. Derart verändert konnten Gedichte, die »ideologisch anstößig« geworden waren, in den Gedichtsammlungen beibehalten werden. Mit Zeitungen und allen anderen literarischen Texten verfuhr man ähnlich: Sie waren einem »dauernden Umwandlungsprozeß« unterzogen. »Auch Bücher wurden immer wieder aus dem Verkehr gezogen und neu geschrieben und ohne jeden Hinweis auf die vorgenommenen Veränderungen neu aufgelegt.«

Bei Orwell heißt das »Wirklichkeitskontrolle«. Winston führt ein Tagebuch, welches er vor den allgegenwärtigen Apparturen der Überwachung verstecken muss. Winston will dieser Kontrolle etwas entgegensetzen. Dabei ist das Führen des Tagebuchs eigentlich sinnlos, da es niemand jemals lesen wird. Der »Gruß aus dem Zeitalter der Gleichmachung«, den er dort eines Tages niederschreibt, wird mit größter Wahrscheinlichkeit verhallen – oder sogar bestraft werden.

Orwell schrieb seine Dystopie bekanntermaßen um 1948. 1951 veröffentlichte Ray Bradbury die Erzählung »Der Feuerwehrmann«, aus der zwei Jahre später der Roman »Fahrenheit 451« hervorging. Bei Bradbury werden die Bücher nicht mehr umgeschrieben und der jeweiligen Ideologie angepasst. Sie werden verboten und von Feuerwehrleuten mit Flammenwerfern vernichtet. Die vereinzelten Widerständler gegen diese Tyrannei sind diejenigen, die sie auswendig lernen, bevor sie vernichtet werden.
In beiden fiktiven Geschichten (aber nicht nur in diesen) gibt es einen emphatischen Glauben an die Wirkung des geschriebenen, freien Wortes. Daher muss es von den jeweiligen Machthabern wenn nicht unterdrückt, so doch mindestens im Sinne des Systems manipuliert werden.

Orwells Wahrheitsministerium ist dabei zum Inbegriff eines im verborgenen agierenden manipulativen Propagandaapparates geworden. Anatol Stefanowitsch ist zweifellos nicht für einen solchen Apparat tätig. Er ist Sprachforscher, was man seinen Artikeln ansieht. Er beschäftigt sich in seinem Aufsatz »Pippi Langstrumpf, Negerprinzessin und Übersetzungsproblem« mit Passagen aus Astrid Lindgrens Büchern »Pippi Langstrumpf geht an Bord« und »Pippi in Taka-Tuka-Land«.

Blyton, Lindgren, die Bibel…

Konkret geht es um die Passagen von Pippi Langstrumpf im Taka-Tuka-Land in denen von »Negern« in allen möglichen Variationen die Rede ist (bspw. »Negerprinzessin«, »Negerkönig«). Pippi Langstrumpfs Faszination für die fremde Kultur geht soweit, dass sie sich mit Schuhcreme anmalt, um genauso auszusehen wie die Einwohner dieses Landes. Stefanowitsch kamen »im Jahr 2004 im Kontext eines Kinderbuchs« diese Ausdrücke »nicht mehr angemessen vor«. So hat er das »Wort ‘Neger’ durchgängig durch ‘Südsee- bzw. Südseeinsulaner ersetzt’«.

Die Problematik ist nicht ganz neu. Wolfgang Benz, Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismus-Forschung, macht gar »kolonialrassistische« Ressentiments in Lindgrens Büchern aus. Und so will die Stadt Bonn die Bibliotheksbestände der inkriminierten Bücher sukzessive durch Neuauflagen ersetzen. Hier wird dann »Negerkönig« mit »Südseekönig« übersetzt. Andere Sprachaktivisten arbeiten an einer »Positivliste«, in der nur noch Ausgaben von Kinderbüchern aufgeführt werden, die in »aktueller Sprache« verfasst sind.

Das erinnert an die Auseinandersetzungen um Enid Blyton aus den 60er und 70er Jahren in Grossbritannien. Blyton, die Schöpferin u. a. der »Hanni und Nanni«-Bücher, wurde »Sexismus und Rassismus vorgeworfen«, auch deshalb, »weil in ihren Büchern immerzu Mädchen die Hausarbeit machen und ihre Bösewichte stets zu sinistrem südländischem Aussehen neigen«, wie Susanne Gaschke in der ZEIT 2006 feststellte. Das Resultat der »Bemühungen« der »Logoklasten« laut Gaschke:

Blytons britische Verlage haben vor der Welle politischer Korrektheit in den angelsächsischen Ländern kapituliert: In den »Fünf-Freunde«- Büchern müssen jetzt auch Jungen putzen; böse Lehrerinnen ohrfeigen nicht mehr, sondern standpauken; »queer« heißt jetzt »odd« (queer kann in moderner Umgangssprache neben merkwürdig auch homosexuell heißen); die Kinder »Fanny« und »Dick« wurden umgetauft in »Franny« und »Rick«, weil die alten Namen im heutigen Slang als Bezeichnungen für die Geschlechts­organe verstanden werden könnten. Barbara Stoney, Blytons Biografin, sieht die Umschreibeaktivitäten mit Sorge: »Fangen wir demnächst an, Jane Austen zu modernisieren? Oder Dickens?«.

Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Besonders eifrige Wortstürmer werden beispiels­weise bei Shakespeares »Othello« oder dem »Kaufmann von Venedig« Vorbehalte anmelden. In den USA ist es längst gang und gäbe, »unpassende« Literatur aus dem Unterrichtskanon zu entfernen. Dies betrifft nicht nur Biologiebücher, die kreationistischen Glaubenskriegern ein Dorn im Auge sind; es kann durchaus auch Conan Doyles Sherlock Holmes treffen. In dem Buch »Eine Studie in Scharlachrot« werden Mormonen, wie Stefanowitsch sich ausdrückt, »extrem negativ« dargestellt. Die Entscheidung des »School Board« (ob man das will oder nicht: es ist eine Art Schulbehörde), das Buch von der »Lektüreliste der sechsten Klasse zu streichen und durch ‘The Hound of the Baskervilles ‘ (’Der Hund der Baskervilles’) zu ersetzen« begrüsst Stefanowitsch. Alleine: wer bestimmt, wo die »negative« Bezeichnung beginnt? Welche Kriterien wurden angelegt? Könnte dies nicht gerade auch ein Thema des Schulunterrichts sein? Und wie sieht es mit dem »Tagebuch der Anne Frank« aus, welches ebenfalls mindestens teilweise indiziert wurde? (Es gibt, wie eine Mitteilung der Lokalzeitung aus dem Januar 2010 berichtet, zwei Versionen des Buches.) Und in Deutschland gibt es seit einigen Jahren die »Bibel in gerechter Sprache», in der »Jüngerinnen und Jünger« »auf der Höhe der derzeitigen Forschung« agieren.

Wortstürmers Schwung

Einmal in Schwung gekommen, geht Stefanowitsch bei Pippi Langstrumpf noch weiter. Er ist mit den Umschreibeaktivitäten des Oetinger-Verlags, der die Lindgren-Bücher verlegt, nicht zufrieden. Zwar habe dieser »versucht…alle Wörter zu vermeiden, die überhaupt eine Klassifikation von Menschen nach ihrer Hautfarbe vornehmen«, aber die »schwarze Hautfarbe« würde beibehalten. In der Tat sind die vorgenommenen Änderungen, die Stefanowitsch in seinem Blog-Beitrag aufführt, lächerlich. Zumal wenn man voraussetzt, dass die hier verwendeten Bezeichnungen pejorativ und demzufolge rassistisch sind. Stefanowitsch ficht das nicht an: Für ihn ist nicht nur das Wort »an sich« negativ und diskriminierend – sei es nun »Negerkönig« oder »Südseekönig«. Generell ist es – seiner Lesart nach – schon diskriminierend, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe als solche beschrieben werden. Dabei interessiert ihn der Kontext gar nicht. Dass sich Pippi Langstrumpf mit Schuhcreme einreibt, um wie ein »Neger« (oder, korrekterweise, wie eine »Negerin«) zu diesen Einheimischen aufzuschließen, sich ihnen sozusagen anzu­verwandeln – wenn auch auf eine abstruse, eben kindliche Art und Weise – passt nicht in sein Weltbild.

Schließlich kommt er ins philosophieren: »Das Problem an dieser Passage (und an den Büchern insgesamt) ist tatsächlich gar nicht die Sprache. Es ist die Idee, dass es sinnvoll ist, Menschen nach ihrer Hautfarbe zu kategorisieren…dass man Hautfarben mit der Ein­färbung durch Schuhcreme vergleichen kann.« Nimmt die Heldin tatsächlich eine Katego­risierung nach »erwachsenen« Kriterien vor? Oder ist es ein naiv-kindliches Nivellieren durch Anverwandlung – das glatte Gegenteil dessen, was er unterstellt? Schließlich will Pippi Langstrumpf nicht die »Neger« mit Schuhcreme weiß malen – dies hätte man als rassistischen Ausfall werten können (und dann mit einigem Recht).

In einem Beitrag drei Tage später hat sich Stefanowitsch dann endgültig dazu entschlossen, den Daumen nach unten zu strecken: »Pippi, geh von Bord« posaunt er mit großer Geste und plädiert dafür, die Bücher Lindgrens einzustampfen: »Verlage könnten aufhören, sie nachzudrucken und sie könnten stattdessen neuen Autor/innen und neuen Geschichten eine Chance geben, bessere Geschichten zu schreiben. Und Konsument/innen könnten aufhören, sie ihren Kindern vorzulesen. Es ist ja nicht so, als ob eine Welt ohne Pippi Langstrumpf unvorstellbar oder eine literarische Dystopie wäre. Pippis fünfzehn Minuten Ruhm dauern jetzt schon sechzig Jahre. Schicken wir sie doch einfach in den wohlverdienten Ruhestand.«

Die Sprache ist also nicht mehr das Thema. Sie wird nur instrumentalisiert. Tatsächlich geht um eine Gesinnungsbeurteilung. Dabei geht man besonders perfide vor: Man unterstellt dem Autor / der Autorin eine Gesinnung, die man dann in ihre Texte hineininterpretiert. So wird aus dem servilen Mitarbeiter des Wahrheitsministeriums der Feuerwehrmann mit (virtuellem) Flammenwerfer. Das macht natürlich vor Astrid Lindgren nicht halt. Auch vor Harriet Beecher Stowe und Mark Twain wird gewarnt:

Man könne »‘Die Abenteuer des Huckleberry Finn’ und ‘Onkel Toms Hütte’ jungen Menschen« nicht »einfach kommentarlos zum Lesen in die Hand drücken…Beide Bücher, besonders ‘Onkel Toms Hütte’, erfordern ein umfassendes Hintergrundwissen über die Geschichte der Sklaverei in den USA und über amerikanische Sozialgeschichte allgemein, über die Absichten, das Leben und die Ideenwelt der Autor/innen und möglicherweise sogar über bestimmte literarische Konventionen.« Am Ende wird gnädig konzediert: »Onkel Toms Hütte« »sollte im Druck bleiben, aber nur noch in wissenschaftlich aufbereiteter Form.«

Totalitärer Geist

Diese paternalistischen Anwandlungen sind in Deutschland nicht neu. Schon in den 70er Jahren blendete das ZDF in der für kurze Zeit sogar abgesetzten »Schweinchen Dick«-Zeichentrickserie Warnhinweise ein, weil einigen Politikern die Filme zu brutal waren. Wenn der Wolf auf der Jagd nach »Roadrunner« von einem Felsblock erschlagen wurde oder hunderte Meter in die Tiefe stürzte, kam der entsprechende pädagogische Hinweis aus dem Hintergrund, dass es sich um einen Film handele, der nichts mit der Wirklichkeit zu tun habe. Vermutlich ist es dieser Maßnahme ja zu verdanken, dass die Zahl der Amokläufe in Deutschland relativ gering geblieben ist. Freilich hätte ich mir damals vielleicht noch erklärend gewünscht, dass es keine rosaroten Panther gibt und die auch nicht sprechen können.

Der Geist, der aus dieser fürsorglich verbrämten Bevormundung spricht, ist seinem Wesen nach totalitär. Er entmündigt den potentiellen Leser und spricht ihm a priori die Reflexionsfähigkeit ab. Stattdessen wollen diese Propheten des Zeitgeists fast zwanghaft eine Welt errichten, wie sie ihnen gefällt (paradoxerweise wie Pippi Langstrumpf). Alles, was dieser Sicht auch nur scheinbar entgegensteht, wird entweder verändert oder entfernt. Differenz wird grundsätzlich nicht als belebendes Element gesehen, sie wird schlichtweg geleugnet. Die gegebenen Begründungen für das Vorgehen sind dabei eher tautologischer Natur: Es ist so, weil sie sagen, dass es so ist.

Dabei sind Bücher unter Umständen nur der Anfang. Derart kann man irgandwann die Ausstrahlung von Filmen verbieten, in denen geraucht wird. Später die, in den getrunken wird. Und noch später jene, in den Fleisch gegessen wird. Und was ist mit den Rap-Texten, die vor rassistischen Äußerungen nur so wimmeln?

Nein, Stefanowitsch et. al. haben nichts mit »Ampleforth« gemein. Dieser wird nämlich als »milde« und »untüchtig« geschildert und verrichtet seine Aufgabe nicht aus Neigung, sondern eher mechanisch und ohne Leidenschaft. Die Logoklasten von heute sind von missionarischem Eifer beseelt. Ihnen geht es nicht um ein bedächtiges Verwenden von sprachlichen Mitteln. Sie üben keine Sprachkritik – sie verbannen. Wie schon immer in solchen Fällen behauptet geschieht dies zum Nutzen aller. Gemeinsamkeiten entdeckt man unweigerlich mit den mittelalterlichen Index-Kongregationen. Der Unterschied besteht darin, dass die Verfechter des Index Angst vor der Zukunft hatten. Die heutigen Logoklasten haben eine geradezu panische Angst vor den vermeintlichen Geistern der Ver­gangenheit, die sie mit teilweise futuristischem Furor bekämpfen.

Man sollte sich hüten, diese Formen übermotivierter LTI-Lektüre als Randphänomen besserwisserischer Wissenschaftler abzutun. Mit ihren Attitüden beanspruchen die Wortstürmer längst eine Definitionsmacht. Sie bestimmen nicht nur, wer wann was lesen darf, sondern auch, wer – wie in diesem Fall – als »Rassist« gilt (hier kann wahlweise jede andere Signatur eingesetzt werden). Wer nicht für sie ist, ist gegen sie. (Man lese die Kommentare auf Stefanowitschs Blog.) Längst beanspruchen ihre restriktiven Auslegungen Geltung bis in den Tagesjournalismus hinein.

Als Logoklasten sind sie fast naturgemäß gezwungen, zu vereinfachen, weil ihre Welt am Ende nur noch »richtig« und »falsch« kennt; »gut« und »böse«. Der Kollateralschaden ihres Handelns besteht darin, dass bei potentiellen Lesern eine Sensorik für die Feinheiten von Sprache (und deren manipulative Wirkung) gar nicht mehr entstehen kann. Ähnlich wie übertriebene Hygiene (insbesondere bei Kindern) zu Schädigungen des Immunsystems führt. Diese Sorgen als »Anti-PC-Hysterie« abzuqualifizieren, gehört zu ihrer Strategie. Für den Hysteriker ist die Kritik des anderen immer Hysterie.

Ampleforth endet übrigens in »1984« wie Winston Smith im Gefängnis. Seine Verfehlung: Er hatte das Wort »Gott« in einer Gedichtzeile Kiplings stehen lassen. »Ich konnte nicht anders!«, sagt er zu Winston. Er hatte einfach kein anderes Wort gefunden, dass sich auf »Trott« reimt.


Anmerkung des Setzers: Ein Sinti-Roma-Schnitzel möchte ich bitte nie vorgesetzt bekommen. HD

 

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