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Gonzo-Politik und die Odyssee des amerikanischen Traums

Dokumente der Odyssee eines Outlaw-Journalisten,
Hunter S. Thompsons Gonzo-Briefe 1958-1976

Peter V. Brinkemper
 

Diese Briefe aus der Zeit von 1958-1976 enthalten keine geschliffenen Mono- oder Dialoge literarisch stilisierter Persönlichkeiten, die sich fein abheften und binden ließen. Sie wirken oft eher wie eine aufgerissene Krankenakte vor einem alten Ventilator, aus der Pillen-Rezepte und unbezahlte Rechnungen aus Hotelbars, Kneipen und Irrenhäusern der Welt wirbeln. Aber durch welche Texte sind diese Zahlen und Dosierungen gedeckt? Sie zoomen zwischen Bewusstseins-Erweiterung und Verengung. Sie sind von einer rücksichtslosen, gewalttätigen und unbarmherzigen Ehrlichkeit in einem inneren und äußeren Kampf mit geballter Faust, Doppeldaumen, Kaktus und Stilett, eine Haltung, die keinen Verrat kennt, weder gegen sich noch gegen andere. Die schelmische Gratwanderung zwischen Sensibilität, Zielgenauigkeit und Grobianismus, der heiter-pessimistische Alarm dieser Notizen auf der Deadline des Lebens tritt aus dem Untergrund auf die Bühne und walzt mit seinem Amor fati die Aufzeichnungen eines funktionierenden Lohnschreibers oder angepassten Literaten anamorphotisch aus zu den psychedelischen Fladenbroten eines wildgewordenen Mega-Autoren und Ein-Mann-Armee-Patrioten, der sein Markenzeichen Gonzo als Stars-and-Stripes-Jefferson-Ufo um die wüste Welt des untergehenden amerikanischen Imperiums bei der Amtsenthebung von Nixon und dem wenig später verlorenen Vietnam-Krieg sendet, aus einer vernebelten und unzensierten Zeit, »bevor es Metalldetektoren gab, und als man in Flugzeugen noch rauchen durfte«.

Die Briefe sind nicht nur ein explosives Sammelsurium, sondern ein Archiv der offenen Konfrontation im kollektiven Wahnsinn mit dem havarierten American Dream, ein ewiges Auf und Ab, Spuren voller chaotischer Interna aus den Ritzen, Fugen und Kulissen des verachteten Verschönerungs-Betriebs, um ihn mit dem Mut der Verzweiflung auf der Überholspur beim Abbiegen in eine Seitenstraße zum Schleudern zu bringen und das Menschliche aus den allgegenwärtigen Marionetten der Zeitgenossen herauszuquetschen. Wilde versoffene stinkende Wurfsendungen spritzen aus einem heißen, nicht mehr zu unterdrückenden Inneren, landen auf staubigen Bürotischen oder sauberen Autokonsolen und vermelden den heftigen Umbruch auf dem dreckigen Pflaster der un/gehorsamen Zivilgesellschaft. Zahllose Textstellen sind wider Willen erheiternd, beschämend und bestürzend, sie geben preis, stellen bloß, statt distanziert zu berichten und zu kommentieren. Aber die Tragikomik dieses Hinterhof-Einblicks hat nichts vom gefilterten Spartenkanalhumor heutiger Plastik-Zeiten, sie ist der ungezügelte Drive vergangener Tage, der Wille zur permanenten Nichtanpassung und Kompromisslosigkeit, die den Sieg auch im Scheitern erkennt.

Schonungslos ist die Rede von der verwundbaren, aber kampfbereiten Autoren-Seele, auf dem Irrweg von Sucht und Korruption, in Protest und Renitenz gegen die Schranken von Alltag und Politik, aus denen sich das Talent, hinter einem Vorhang von Schulden, Darlehen, Spesen und Honoraren, in offiziellen journalistischen Aufträgen und ernsthaften Buchprojekten langsam in die Öffentlichkeit emporarbeitet, um seinen unverwechselbaren Stil als literarische und politische Geste durchzusetzen – immer an der Grenze der verzweifelten Selbstentblößung, asketischem Rausch und der paranoischen Wut auf soviel Anpassung und Verlogenheit auf der anderen Seite.

Briefe als turbulente Gelegenheitsschreiben und Zufallsdokumente in starren oder bewegten Situationen: Schaurig, peinlich, aggressiv entführen sie in die Werkstatt und das Betriebssystem des Autors, Körper und Psyche, Ekstase und Ernüchterung, als Produktionfaktoren im Getriebe von Journalismus und Politik, Slam Poetry und reflektierter Epik. Ein Stich mit der Nadel in den Bauch und los geht’s. Texte in Speed und Quadrosound. Die Manie des Aufbruchs verfolgt der Ekel der Depression. Die Spracheuphorie kämpft mit dem Konkurs der Bedeutungen. Ein großartiges, unzensiertes Arbeitsjournal, mit Tiraden, Einsichten und Gefährdungen, die ein literarischer und politisierter Autor an der Grenze des Möglichen ausprobiert, um das, was er zu erzählen hat, zu vollem Ausdruck zu treiben.

Die deutsche Edition bei der Edition TIAMAT ist ein Meilenstein.
Sie umfasst zwei Teile: I: 1958-1967. II: 1968-76. Herausgeber ist Douglas Brinkley, Experte zwischen US-Politik, Kultur und Geschichte. Und Hunter S. Thompson (1937-2005) war an beiden Teilen, 1998 und 2001, beteiligt. Für die deutsche Fassung, mit Herz übersetzt von Wolfgang Farkas wurde allerdings eine Auswahl getroffen, zu der man sich später die Komplettierung und ein Namensregister wünscht. Einleitende Textbänder und Anmerkungen erläutern den Kontext.

Der erste Teil dokumentiert streiflichtartig  die frühe Phase der Suche nach der eigenen literarischen Identität und dem Erfolg. Thompsons hat die Schnupperzeit als Sportreporter in Pennsylvania hinter sich. Es folgt sein Creative Writing Studium an der Columbia University, seine kurze Anstellung beim Times Magazine in New York, seine Querelen dort und in weiteren Kurzbeschäftigungen bei Provinzzeitungen. Die Übersiedelung nach Puerto Rico, wieder als Sportredakteur für eine Zeitung, die bald schließt. Dann der Beginn seiner Tätigkeit als Korrespondent für gehobene US-Print-Medien, einer Rolle, die ihn freier und unabhängiger macht. Sein erster Roman »The Rum Diary«, in dem er seine puerto-ricanischen Erlebnisse in einem noch recht linearen Plot literarisch frei verarbeitet, als verkrachter und versoffener Journalist, der am Schluss mit einem Enthüllungscoup zuschlägt. Die Zweifel an diesem Werk bleiben nicht unerwähnt, er bietet es immer wieder an zur Verfilmung, seziert die Möglichkeiten der Verwertung. (Erst 2011 wird es mit Johnny Depp, einem engen Freund, als Hauptdarsteller unter der Regie von Bruce Robinson realisiert, in einer mittelmäßigen Inszenierung, welche die Wucht von Hunter S. Thompsons typischen Texten unterschreitet und auch hinter Terry Gilliams Umsetzung von »Fear and Lothing in Las Vegas«, gleichfalls mit Depp, 1998 zurückbleibt.) Thompsons Rückkehr nach einer Südamerikareise in den Westen der USA, nach Aspen, Colorado sowie Glen Ellen, Kalifornien sowie San Francisco bringt ihn Mitte der 1960er Jahre in den Brennpunkt von Underground und Gegenkultur: die Hell’s Angels (über die er sein erstes erfolgreiches Buch, eine Reportage schreibt), die verblassenden Beatniks (Ginsberg »Howl«) und ihre Nachfolger, die rasch kommerzialisierten Hippies (Summer of Love 1967). In seiner »Big Sur«-Reportage »Der Garten der Agonie« (1961) schaut er bereits hinter die Fassaden. Noch gleitet der Wochendtourismus an den wahren Flüchtlingen und kreativen Eremiten ab. Parallel macht sich Thompson einen Namen als wilder Autor und Lebemann. Er schreibt für das Rolling Stone Magazine (1967 von Jann Wenner gegründet), prägt es maßgeblich stilistisch, inhaltlich und politisch und sichert die Publikation finanziell durch Investoren-Kontakte.

Der zweite Teil bringt, ziemlich parallel zur siebenjährigen Ära Nixons als Präsident (1969-1974), Thompsons Phase als etablierter Autor international gelesener Magazine und Zeitungen. Auch sein großer Roman-Triumph: »Fear and Loathing in Las Vegas: A Savage Journey to the Heart oft he American Dream«, erscheint zuerst in zwei Teilen 1971 im Rolling Stone, um ein Jahr später als Buch publiziert zu werden. Detaillierte Beschreibungen von Drogenkonsum und skurrile Überblendungen von Realismus und Halluzination, Drogen als Mittel des Zugangs zu heiligen amerikanischen Werten und zur Politik, Literatur und journalistische Recherche vor Ort verbinden sich in diesem Werk zu dem exemplarischen Meilenstein des Gonzo: Ein lustvoll-kritischer Abgesang auf den Optimismus des drogenbasierten Underground-Traums eines anderen Amerika. Hunter S. Thompsons Arbeit hat sich längst politisiert und nimmt nationale und internationale Themen in den Blick. Er kandidiert in Aspen, Colorado für den Posten eines Sheriffs, mit den Strategien einer »urbane(n) >>Kultur<< mitten im Hinterland der Rockies«. Er liiert sich dabei mit der »Freak-Plattform«: »Wir sind überhaupt keine Freaks im wörtlichen Sinne. Es ist vielmehr so, dass die verdrehten Realitäten auf dieser Welt, in der wir zu leben versuchen, ein Ausmaß angenommen haben, dass uns nichts anderes übrig bleibt, als uns als Freaks zu fühlen.« Diese Plattform soll auch in dem von ihm journalistisch begleiteten Präsidentschaftswahlkampf 1972 neue alternative Wählerschichten für den politischen Mainstream mobilisieren. In »Fear and Loathing in Las Vegas« lässt er sein Alter-Ego Raoul Duke notieren: »Niemand, der zu jener Zeit in dieser Szene zu Hause war, konnte voraussehen, welche Implikationen es hatte, daß Ginsberg & Kesey mit ihrem Versuch scheiterten, die Hell’s Angels zu überreden, ein Bündnis mit der radikalen Linken von Berkeley einzugehen. Der endgültige Bruch kam dann in Altamont, vier Jahre später«. Die Ausgelassenheit der Gonzo-Strategien gehen einher mit präzisen politischen Analysen eines durch Propaganda und Gewalt verhinderten sozialen Fortschritts.

William Faulkner hatte noch drei Jahre zu leben, als Thompson ihm 1959 aus Cuddebackville, New York höflich schreibt und die Rolle des Schriftstellers als »folgsamem Hund«, die Faulkner angeblich in Bezug auf Robert Frost und Henry Ford benutzt hatte, ablehnt. »Die Rolle, die Aufgabe, die Verpflichtung und in der Tat die einzige Option des Schriftstellers« bestehe »in der >äußeren< Welt darin, so ehrenhaft und trotzig vor Hunger zu sterben wie nur möglich. Genau das habe ich vor, nur scheint der Vorrat an Hühnern in dieser Gegend weitgehend aufgebraucht zu sein, bis ich weiterziehe. Und übrigens, wenn Sie – am Ende dieses Briefs – das brennende Verlangen in sich spüren, mir einmal die Woche einen Scheck zu schicken, fühlen Sie sich bitte frei, es zu tun. Meine Anfälligkeit für Korruption wurde mehrfach auf die Probe gestellt und funktioniert gut. Ich bin in den Catskills der einzige Hühnerdieb und Romanautor unter den Südstaatlern, der einen alten Jaguar fährt, in einer unbeheizten Hütte lebt und den Großteil seins wöchentlichen Arbeitslosengels für Super-Benzin ausgibt.« Geschickt vermischt Thompson die Motive: die an den Südstaaten orientierte agrarische Idylle, das Modernisierungsdefizit und die Armut kollidieren mit Aufsteigerhoffnung und Mobilität, wodurch die Autonomie des Literaten gegenüber der Automobilisten-Lobby wiederum recht unglaubwürdig daherkommt. Reales und literarisches Setting verschwimmen.

Am Tag von John F. Kennedys Ermordung schreibt Thompson an William Kennedy,  seinen Freund aus Puerto Rico und den Autor des mit Jack Nicholson verfilmten Trinkerromans »Ironweed« (1983) über den Tod der Literatur: mindestens in dem Sinne des Abschieds von Fitzgeralds »Gatsby« oder der Kritik am New Journalism eines Norman Mailer oder der neueren Südstaatenliteratur wie bei Eudora Welty. »Dieser Mord hat mich geschockt. Meine Wut hat sich verdreifacht. Ich war kein bisschen drauf vorbereitet, dass jede Hoffnung auf einen Schlag wegbrechen könnte, aber jetzt ist es soweit.« Zu William Kennedys Stil sagt er: »Mit Deinem >Realismus< kannst Du einpacken.«

Bemerkenswert zwischen den vielen Details, die uns die Briefe erschließen, ist die Tatsache, dass die Verhandlungen mit Random House und Ballantine sich auf zwei unterschiedliche und doch miteinander verbundene Sachverhalte beziehen. Einerseits wird das fertige literarische Manuskript zu »The Rum Diary« akzeptiert, soll aber noch umgeschrieben werden. Auffallend ist in diesem Zusammenhang Thompsons Lob für den verfilmten »The Graduate« (Charles Webb, umgesetzt von Mike Nichols), mit der musikalischen Eigenständigkeit einfühlsam auskomponierter Einstellungen und Szenen. Das Reportage-Manuskript »Hell’s Angels« ist fast fertig. Thompson ist »alles nicht ganz geheuer«, da in diesem »480-Seiten-Manuskript« »weniger geändert« wurde als in einem »10-Seiten-Artikel«. Der Spielraum des Schreibens dreht sich um 180 Grad. Die ausgearbeitete Reportage ermöglicht mehr Freiheiten als die Endredaktion des Romans. Aber vorerst fühlt sich Thompson von der Möglichkeit, die Einnahmen aus dem Doppelvertrage erst spät auszuzahlen, förmlich »an die Wand genagelt«.

Thompson lässt sich weder von den Beatniks noch von den Hippies und ihrer Vermarktung in der amerikanischen Mainstreamkultur 1967/68 blenden. Der Merry-Pranksters-Gründer Ken Kesey (»One flew over the Cuckoo’s Nest«) wird als eindrucksvolle Zwischenfigur geachtet. Die Hippies und ihre Ideologie verkörperten »das gleiche beunruhigende Vakuum in der amerikanischen Gesellschaft ..., das vor etwa zehn Jahren schon zur Entstehung der Beatniks geführt hat.« Die Hippies verstehen sich zwar als Aussteiger und beziehen sich doch auf die gleichen »>>amerikanischen Werte<<«, auf die sich auch die angstschürende, industriell-ungemütliche, konservativ-militärische Regierung  berufe. Ein weiteres Projekt mit dem Titel »Der Tod des Amerikanischen Traums« Anfang 1968 beabsichtigt zunächst die reale Enthüllung von führenden US-Militärs, die in Entlarvungsinterviews durch bestimmte Strategien der Selbstdarstellung und breiten Raum für ihre privaten Ansichten und Meinungen authentisch und doch typisch auftreten sollen. Auf dem Nationalkonvent der noch minderheitenfeindlich organisierten Demokraten in Chicago 1968 werden Anti-Vietnamkriegs-Demonstranten brutal niedergeknüppelt und verhaftet. Thompson verarbeitet seine Angst vor den »fiesen Realitäten«: Er habe sich viele Notizen über die verbal und symbolisch aggressiven Demonstranten und die Ausschreitungen gemacht, bei denen die offiziellen Ordnungskräfte die Härte der Hell’s Angels bei weitem übertrafen. »Doch jetzt, mit dem Joint direkt vor mir, war ich selbst an der Reihe ... und wusste, als ich das Ding sah, dass ich ihn rauchen würde; ich war also drauf und dran, eine lausige kleine gottverdammte Marihuanazigarette vor den Augen der Nationalgarde zu rauchen, umstellt von der Polizei ganz Chicagos und allen drei Fernsehsendern – und ein paar Meter weiter stand ein Fotograf von Associated Press.« Ein Brennpunkt des medialen Kriegs mitten im eigenen Land, zwei Jahre vor dem Kent-State-Massaker.

Freundschaftlich versucht Tom Wolfe Thompson für seine erfolgreiche Position des New Journalism und auch für entsprechende Beiträge in einer Sammlung zu begeistern. Dem vielstimmigen Lob zur Publikation von »Fear and Loathing in Las Vegas« schließt sich Wolfe gern an. Aber Thompson verteidigt seinen Gonzo-Stil als etwas einzigartiges, dass er nach keiner Seite, Gruppe oder Schule verraten will. Jim Silberman vom Random House Verlag gesteht er auf Anfrage, beim Schreiben dieses Schlüsselwerkes keine Drogen genommen zu haben. Die rasante Abfolge von Momenteindrücken sei eine primär literarische Konstruktion. Der erste Teil sei »ein sehr bewusster Versuch ..., einen Drogenausraster zu simulieren, was im übrigen immer schwierig ist.« Es ginge ihm gerade um den Zwischenzustand, »wie es ist, im Auftrag eines Magazins unterwegs zu sein, wenn man unter Einfluss der allermerkwürdigsten Drogen steht«. Doch nichts sei frei erfunden, alles beruhe auf Erfahrungen, aktuellen oder früheren. Die Droge und ihre Auswirkungen betone »die mechanische Realität des Gonzo-Journalismus ... oder die totale Subjektivität, die einer unangebrachten Forderung nach Objektivität entgegensteht.« Da der Rolling Stone die fiktive Geschichte in Teil 1 bereits als Wahrheit über den Autor selbst verkauft habe, möchte Thompson diese Version auch für die Entstehung des Textes nicht öffentlich bestreiten. In einem wichtigen Folgedialog mit Silberman betont Thompson, dass »Literatur & sogar Journalismus« nach jeweils eigenen Kriterien, »über & jenseits (und sogar unter) dem verwirrenden Kontext welcher Realität auch immer, die den Akt des Schreibens umgibt.« Doch wendet sich Thompson gegen den literaturimmanent orientierten New Criticism, weil er die Fiktion (und die korrespondierenden Kräfte der Phantasie) auf der Basis der reinen, formalen Literatur zum bildungsbürgerlichen Gespräch über das Geschäft eines individuellen Experten-Künstlers verharmlost habe. Andererseits sei der New Journalism, ob als journalistischer oder als literarischer Begriff, wie ihn auch Tom Wolfe vertrete, nur eine unbestimmte (vielleicht sogar angepasste) Leerformel (die wohl künstlerische und formal journalistische Kriterien und Zielgruppenbezüge gewinnbringend kopple). Journalismus und Literatur befänden sich beide in ihrer jeweiligen traditionellen Bedeutung aktuell in der Sackgasse (»Redaktionsknecht« bzw. künstlerisches »Zirkuspferd«), solange beide Produkte nach alter Manier scheinbar individuell produziert und kapitalistisch kontrolliert würden. Thompson hat die heftige Grenzüberschreitung im Blick, und zwar die publizistisch bezahlte, aber keineswegs domestizierte Transgression der Literatur in einen aggressiv-anstachelnden und erstaunlich progressiv-perzeptiven Journalismus der Entfesselung eines kollektiven Unterbewusstseins. Kerouacs »On the road« und Allen Ginsbergs »Howl« (mit dem Gerichtsprozess wegen angeblicher Obszönität) seien Vorstufen eines solchen agitierenden Eindringens in den journalistischen Raum und in das Bewusstsein der Rezipienten, der Medien, Politik und Öffentlichkeit gewesen. War Hunter S. Thompson nur »Gottes weiße Ratte«, oder das White Rabbit aus dem Matrix Club in Frisco? Ein US-Hiob, letztlich schweigend, um den ramponierten amerikanischen Traum nicht zu verraten, oder ein aus dem Untergrund laut tönender Revolutionär?

Artikel online seit 08.07.15
 

Hunter S. Thompson
Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten

Es war ein brutales Leben, und ich habe es geliebt.
Gonzo-Briefe 1958-1976
Herausgegeben von Douglas Brinkley
Aus dem Englischen von Wolfgang Farkas
Edition Tiamat
Critica Diabolis 222
Hardcover, 607 Seiten,
28.- Euro
978-3-89320-194-5
Leseprobe

Sophie Rois liest aus:
Hunter S. Thompson

»Die Odyssee eines Outlaw-Journalisten - Gonzo-Briefe 1958-1976«


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