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Artikel online seit 05.01.13

Vom Geben und Nehmen

Teil 1 von Ulrich Seidls Paradies-Trilogie: »Liebe«

Von
Georg Seeßlen




 

Wer sich in einen Ulrich Seidl-Film begibt, muß wissen, was ihn erwartet: Es wird sehr intim, sehr körperlich, sehr traurig, sehr komisch, sehr böse, sehr zärtlich; es wird peinlich, vielleicht sogar peinigend. Aber dafür gelangt man auch an einen Ort, an dem man noch nicht war. Im Inneren von Alltag und sexueller Ökonomie ganz normaler Menschen. Und das erste, was man da drin entdeckt, das ist, daß eigentlich gar nichts »normal« ist in dieser Welt.

Es gibt drei Dinge, die in Ulrich Seidls Filme das Peinliche oder gar Peinigende, das unangenehm berührend Intime und die Offenbarung des Grotesken und Korrupten im Alltag abfedern: Zum ersten ein ungemeiner Gestaltungswillen – jede Einstellung ist ungeachtet des Schrecklichen, das sie zeigt, auf eine besondere Weise schön. Es ist ein klares Tableau, eine sprechende räumliche Anordnung. Die ungeschminkte Realität zeigt sich in einem Rahmen reiner Kunst. Keinen Gedanken gibt es da an den gewöhnlichen Voyeurismus des medialen Alltags. Das Ungeschönte entfaltet sich in schönen Bildern. Zum zweiten gibt es da einen sehr wohl dosierten Humor. Keiner, der erst heraus gekitzelt werden müßte oder der sich der satirischen Übertreibung verdankte, schon gar kein Lachen der Überheblichkeit, sondern ein Humor, der das Komische, das die Tragödien des Lebens grundiert, einfach nicht verbirgt. Und am Ende ist, zum dritten, in Ulrich Seidls Filmen, so hart und direkt sie uns auch angehen mögen, doch eine große Menschenliebe und eine Neugier auf die Verhältnisse, in denen man so lebt und leidet, am Werk. Die Schwäche des einzelnen ist nicht der Punkt, den man denunzieren will, sie ist das Tor, das in das Innere führt. Denn es sind Menschen auf der Suche nach dem Glück, nach Befreiung, nach Liebe. Unglücklicherweise führt die Befreiung des einen nur zur Unterdrückung des anderen, unglücklicherweise lauert hinter jedem Gefängnis, das man verläßt, schon das nächste.
Jeder Film der »Paradies«-Trilogie, »Glaube« (2011), »Liebe« und »Hoffnung« (er wird bei den Berliner Filmfestspielen uraufgeführt) beginnt mit der Schilderung eines weiblichen Gefängnisses: ein Hotel-Resort (»Glaube«), eine kleine Mietwohnung in »Liebe«, und in »Hoffnung« wird es ein Diätcamp für übergewichtige Teenager sein. Der darauf folgende Versuch eines Ausbruchs macht den Zusammenhang zwischen Sexualität und Macht deutlich. Man wird kaum unterscheiden können, was schwerer wiegt, das sinnliche oder das moralische Scheitern. Ein Happy End nämlich können wir in einem Seidl-Film nicht erwarten.

Teresa, alleinerziehende Mutter einer schon übergewichtigen, schon phlegmatischen Tochter, macht sich auf, das Glück in Afrika zu suchen. Dort, in Kenia, gibt es die Beachboys, junge afrikanische Männer, die sich weiße Sugarmamas suchen, die dafür bezahlen, daß sie sich noch einmal begehrt fühlen dürfen. Der Film zeigt mehrere Begegnungen Teresas mit Beachboys. Beim ersten Mal sind ihre Hemmungen noch zu groß, beim zweiten Mal verwechselt sie den Deal mit so etwas wie Liebe, beim dritten Mal hat sie schon die Regeln des Gebens und Nehmens gelernt, und am Ende hat sich Teresas Sehnsucht nach Liebe in ein kolonialistisches sexuelles Spiel verwandelt. Doch je roher ihr Verhalten als Sextouristin wird, desto ferner rückt ihr Traum. Nicht einmal die Verwandlung eines Opfers in eine Täterin ist wirklich gelungen. Näher noch als in ihren verzweifelten Liebeskämpfen sind wir am Ende Teresa in ihren Tränen.

Zweimal zeigt Seidl sehr anschaulich, was da abläuft. Am ersten Tag füttert Teresa ein Kapuzineräffchen auf der Terrasse ihres Resort-Bungalows, und jedesmal, wenn sie es mit der Kamera festhalten will, ist es schon wieder mit seiner Beute verschwunden. Und mittendrin, als Teresas Verhalten von der Sehnsucht nach Liebe zum Verlangen nach sexueller Dienstleistung umgekippt ist, sehen wir die Damen aus Wien um ein Krokodilbecken stehen, fasziniert und erregt, wo die Tiere nach Fleischbrocken schnappen, die man ihnen hinhält.

Seidl denunziert weder die eine noch die andere Seite. Zwei Jahre lang hat er im Milieu der kenianischen Beachboys recherchiert, und einige von ihnen dafür gewonnen, ihre Rolle auch im Film zu spielen. Wir verstehen die Beweggründe auf beiden Seiten nur zu gut; wo das emotionale auf das materielle Elend stößt, kann nur neue Ausbeutung und neue Gewalt entstehen. Und obwohl Teresa – mit bewundernswertem Mut von Margarethe Tiesel verkörpert – eine ausgedachte Figur mit einer ausgedachten Geschichte ist, ist »Paradies: Liebe« doch auch ein Dokumentarfilm. Nicht bloß einer über Sextourismus in Kenia. Sondern über die Suche nach einer neuen Sprache der Liebe in der globalisierten sexuellen Ökonomie. Georg Seeßlen
 



Paradies: Liebe

Regie: Ulrich Seidl,
A/D/F 2012, 120 Min.
mit Margarete Tiesel, Peter Kazungu, Inge Maux, Dunja Sowinetz, Helen Brugat
Drama
Start: 3.1.2013

 


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