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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Transatlantische Vorurteile

Was wir über die Amis wissen müssen.

Von Michael Knoll

Jedes Jahr entfernen sich Europa und Amerika um zwei Zentimeter. Geologisch gesehen. Was die politische Kultur in den USA und Europa angeht, so scheint es, wird dieser Abstand Jahr um Jahr deutlich größer. Nach den verlorenen Präsidentschaften von George W. Bush hatte die Welt vor vier Jahren geglaubt und gehofft, dass mit Barack Obama der Vertreter eines anderer Amerika die Macht ergreift. Für Europa ist es so gekommen – aber auch hier hat der aktuelle US-amerikanische Präsident die in ihn gesteckten Hoffnungen nicht gänzlich erfüllt und die Ernüchterung hat sich auch auf diesem Kontinent breit gemacht. Für noch größere Ernüchterung hat die Präsidentschaft Obamas aber in den USA gesorgt. Oder sind wir genauer, nicht um Ernüchterung geht es, sondern um Enttäuschung und radikale Ablehnung. Noch genauer um Hass.

Warum dies so ist, geht Christoph von Marschall in seinem Buch „Was ist mit den Amis los? Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben“ nach. Als Korrespondent für den Berliner „Tagesspiegel“ berichtet er seit 2005 aus den USA. Unter den deutschen Journalisten gilt er als der Entdecker von Barack Obama. Während bei den Vorwahlen der Demokraten im Jahr 2008 die meisten auf Hillary Clinton gesetzt hatten, erkannte Marschall das Potential des jetzigen Präsidenten und lernte ihn näher kennen. Und so kommt es, dass Marschall bisher der einzige deutsche Journalist ist, dem Barack Obama ein Interview gegeben hat. Auf die Bilder, die ihn mit dem Präsidenten samt Gattinnen zeigen, ist er mächtig stolz.

Mit mehr als sechs Jahren Leben in den USA und dem aufmerksamen Blick eines Korrespondenten beschäftigt sich Marschall mit der Frage, was Amerikaner und Europäer trennt, aber auch verbindet. Er entlarvt Klischees und Stereotype, versucht Verständnis für das andere, für uns so fremde Denken der US-Amerikaner zu wecken und schildert doch seine Sorge über die mentale Auseinanderentwicklung der beiden Kontinente. „Das allgemeine Wissen übereinander nimmt ab, die Verwunderung über den Partner auf der anderen Seite des Atlantiks wächst. Europäer tun sich schwer, die politischen Dynamiken in den USA, die Reaktionen auf die Wirtschaftskrise, den Umgang mit Energie, Todesstrafe und Waffenrecht zu verstehen. Umgekehrt ist die Berichterstattung über die Eurokrise in US-Medien auf erschreckend niedrigem Niveau.“ (S.258)

Doch wie kommt es zu diesen Verwunderungen über den Partner auf der anderen Seite des Atlantiks? Warum haben sich die beiden Kontinente mental auseinander entwickelt? Schließlich werden beide Kontinente religiös durch das Christentum geprägt, politisch von der Aufklärung und den Gedanken der Bürgergesellschaft. Hier wie dort herrschen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit mit beinahe identischen Grundrechten und eine kapitalistische Wirtschaftsordnung. Und dennoch ist der Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Realitäten ein anderer. Marschall nennt zu Beginn schon wichtige Gründe dafür. Raum und Ressourcen sind in Europa begrenzter, umgekehrt scheinen sie in den USA noch lange nicht erschöpft. Nur ein kleines Beispiel: Der US-Staat Montana ist ein wenig größer als die Bundesrepublik Deutschland, allerdings leben dort lediglich 990.000 Menschen. Zum Vergleich: Im am dünnsten besiedelten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern leben mit 1.636.000 Menschen mehr Einwohnern als in Montana.

Was Deutsche am meisten an den USA verstört, ist wohl die Spannung zwischen hypermodernen und vormodernen Elementen. Noch sind die USA die größte und modernste Volkswirtschaft der Erde sowie der größte Markt. Sie sind führend in der Militärindustrie, Spitzenmedizin und in den Neuen Medien. Gleichzeitig ist sie sozial bis heute segregiert durch unsichtbare Mauern aus Herkunft, Bildung und Einkommen mit Unterschieden, die, so Marschall, „krasser ins Auge fallen“ als hier zu Lande. Vielleicht gilt dies im Vergleich zu Deutschland, vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir in Europa eine nationale Brille aufhaben. Oder wissen wir in Deutschland, wie es in Estland, Rumänien, Griechenland oder in Portugal konkret aussieht? Auf die sichtbaren Grenzen, die wir in Europa im Moment wieder einziehen zwischen Ost und West, zwischen Nord- und Südländern, zwischen wirtschaftlich potenten Regionen in Europa und „europäischen Entwicklungsländern“, zwischen Hart- und Weichwährungsländern können wir nur bedingt stolz sein.

Auf einen wesentlichen politischen Unterschied verweist Marschall: Die unterschiedliche Bewertung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität. Verdeutlicht wird dies am Beispiel der Gesundheitsversicherung. Für uns Deutsche ist ObamaCare ein großer gesellschaftlicher Erfolg. Für uns ist die Versicherungspflicht eine Selbstverständlichkeit. Ohne Versicherung besteht die Gefahr, sich gesundheitlich selbst zu schädigen oder sich und die eigene Familie finanziell zu ruinieren. Wir verteilen daher dieses Risiko auf die Versicherungsgemeinschaft. Die Idee einer solidarischen Risikoverteilung ist auch für Amerikaner nachvollziehbar. Fraglich ist für sie aber, warum eine Pflicht bestehen soll, sich zu versichern. US-Amerikaner verstehen dies als staatlich verordneter Zwang, sie wollen gerne selbst die Frage beantworten, ob sie ein Risiko eingehen oder nicht. Amerikaner, so Marschall, „wollen keine Vollkasko-Mentalität. Sie betrachten den Staat mit mehr Argwohn als die Deutschen und setzten weit größeres Vertrauen in die Privatinitiative.“ (S.67) Kurzum: Freiwillige Versicherung – ja, gerne. Gesetzliche Pflicht – nein, danke. Leider macht dieser Wille zur Freiheit das US-Gesundheitssystem nicht besser. Er ist ungefähr doppelt so teuer wie das deutsche System, an dem es ja ebenfalls hier und dort krankt.

Auch wenn der Autor gerade dem deutschen Gesundheitssystem eine Überlegenheit gegenüber der amerikanischen Alternative konzediert, so begeistert ihn dennoch die staatskritische Einstellung der US-Bewohner und ihren Hang zur Privatinitiative. Zu recht. Zwar ist der Staat für etliches die Lösung, aber eben nicht für alles. Und wer regelmäßig Kontakt mit deutschen Behörden hat, sollte dieser Gedankengang eigentlich sympathisch sein. Aber anscheinend leben wir Deutschen gerne mit der und in der Untertanen-Mentalität des Staates.

Allerdings kippt die gesunde staatskritische Einstellung zurzeit in den USA in ein Extrem. Die Tea Party Bewegung zeigt deutlich, was passiert, wenn der Staat bei allem als Problem gesehen wird. Dies führt zu absurden Forderungen wie „Cut Taxes – Not Defense“, als könnte sich der US-amerikanische Staat seine immens teure Armee ohne Steuergelder leisten. Auch die Bewältigung der Wirtschaftskrise seit dem Zusammenbruch der Lehman Bank hat die USA vor allem dem mutigen Eingreifen der Regierung zu verdanken. So zum Beispiel bei den Automobil-Unternehmen wie Chrysler, General Motors und Ford. Diese Rettung war so erfolgreich, dass ein bekennender Republikaner wie Clint Eastwood, sehr zum Ärger seiner Parteifreunde, Werbung für Chrysler macht. Nein, der Staat ist weder für alles die Lösung noch bei allem das Problem, weder hier noch dort.

In punkto gesellschaftspolitischem Engagement können wir Deutschen von den Amerikanern dagegen einiges lernen. Die deutsche Annahme, Amerikaner seien politisch desinteressiert, ist nicht zu halten. Widerlegt wird diese These mit jedem neuen Wahljahr, auch in diesem Jahr. In den USA sind es eben nicht die Parteigremien, die über das politische Personal entscheidet, sondern die Bürgerinnen und Bürger. Wer die aktuellen Vorwahlen in den USA verfolgt, wird von Straw Polls, Caucasus, Primarys etc. lesen. Alles bürgernahe Veranstaltungen, bei denen die Kandidaten der Parteien die Nähe zur Bevölkerung suchen und letztlich über sich entscheiden lassen. Unterstützt werden sie von Hunderttausenden, ja Millionen freiwilligen Helfern. Sie tun dies ohne Bezahlung, aber mit der Begründung: „Dies gehört zu unserer Demokratie“. Und es wird von Arbeitgebern und Universitäten positiv bewertet, egal welche Partei unterstützt wurde. Das persönliche Engagement ist entscheidend. „Insofern“, so schreibt der Autor, „wirkt die amerikanische Demokratie lebendiger als die deutsche – auch wenn am Ende ein geringerer Prozentsatz der Bürger an der Hauptwahl teilnimmt.“ (S.159)

Christoph von Marschall ist ein lesenswertes Buch gelungen. Er erklärt die unterschiedlichen Denkweisen von Amerikanern und Europäern vor dem Hintergrund ihrer Geschichte. Vor dem Hintergrund ihrer historischen Erfahrungen, ihrer gesellschaftlichen, religiösen und politischen Sozialisation, ihrer Alltagserfahrungen. Europa und die USA stehen zugleich vor enormen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen. Vieles, was uns an den Amerikanern verstört, ist der Verunsicherung der Amerikaner geschuldet, vor allem der der weißen Mittelschicht. Sie kämpft um ihre soziale Stellung, ökonomisch wie gesellschaftlich. Leider zeigt sie im Gewand der Tea Party Bewegung uns ihr hässliches Gesicht. Verunsichert sind auch die Europäer – die Inseln der Glückseligen auf unserem Kontinent sind überschaubar geworden. Wie wirken die nationalistischen Fratzen der europäischen Staaten im Moment auf die US-Amerikaner? Sind wir wirklich der progressive, friedensliebende und solidarische Kontinent, den wir immer beschwören? Insofern erfahren wir in Marschalls Buch nicht nur viel über die Amis, sondern auch über uns selbst.
 







Christoph von Marschall
Was ist mit den Amis los?
Warum sie an Barack Obama hassen, was wir lieben

Verlag Herder
260 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-451-30575-7
€ 18,99

 


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