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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Theorie als Schwebebahn
 

»Habermas und der
Historische Materialismus
«



V
on Peter V. Brinkemper

»Habermas und der Historische Materialismus« – die gleichnamige fachliche und öffentliche Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal (vom 23. bis 25. März 2012) lockte mit der Möglichkeit, die gegenwärtige Krise des »globalisierten Kapitalismus« mit dem Erklärungsmuster des historischen Materialismus zu deuten, einmal im Sinne klassischer Positionen von Karl Marx und Friedrich Engels, aber auch in ihrer entwicklungslogisch-evolutionären Reformulierung durch Jürgen Habermas und seine Mitarbeiter und Kollegen, u.a. in Frankfurt und Starnberg spätestens seit den 1970er Jahren.

Damit war bereits eine heikle Konstruktion (eine »Schwebebahn«) und eine unendliche Schleife der Reproduktion eingeleitet, die eher um Habermas’  beeindruckend proteisches Gesamtwerk kreiste, zwischen sozialphilosophischer Kommunikationstheorie, Systemkritik und Lebensweltdiagnose, öffentlich-publizistischer Streitlust, Begründung von Ethik, Rechts- und Staatsphilosophie im Lichte universalistischer Diskursbedingungen und nach wie vor gehegter Hoffnungen für die Demokratisierung Europas. Dagegen weniger konkret ging es um den heutigen, weltweit durchgesetzten Kapitalismus und seinen guten alten polemischen Gegenpol, den ökonomiekritischen Marx, oder gar den ökonomisch-deterministischen Marxismus.

Neu-altes Klassenbewusstsein?

Fragen über Fragen: Ist es noch derselbe expansiv-imperiale Kapitalismus, mit dem wir heute konfrontiert sind? Oder geht es, wie in Mitteleuropa, um eine bisher nationalstaatlich, durch Marktwirtschaft und Demokratie gezähmte Wirtschaftsform; aber andererseits um einen besonders perfiden, je nach Deregulierung der National- und Kontinentalökonomien gestaffelten Ausbeutungs- und Aushöhlungs-Vorgang unserer sozialen, politischen und kulturellen Errungenschaften, durch die rasante Entfesselung globaler Finanz-Kapital-Spekulationen und die bisher nur nachschleppenden staatlichen und zwischenstaatlichen politischen Regelungen? Ein Vorgang, den Hauke Brunkhorst als Aufspaltung zwischen Finanzeliten und einer unzufriedenen Bürgergesellschaft mit dem Protestpotential einer zunehmend deklassierten Schicht deutete, wenn mit ungebremster Macht auf unserem Planeten massiver ökologischer, wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Schaden angerichtet wird.

Ist das Paradigma einer europapolitisch affirmativen Diskursethik und einer progressiven nationalen und transnationalen diskursiven Demokratie nach wie vor der gültige Maßstab für die Beteiligung der Öffentlichkeit und neue Formen der effektiven politischen Institutionalisierung? Ist die europäische Institutionalisierung von mehr Demokratie und weniger Bürokratie überhaupt noch realistisch durch eine differenziertere Entscheidungs-Balance zwischen den Stimmen der Bürger, den nationalen Parlamenten und den Straßburger Abgeordneten im Rahmen einer wirklich neuen Verfassung und im Lichte derzeitiger realer Politikprozesse zu leisten? Oder sind Worte wie »Diskurs« und »Demokratie« nicht selbst längst zum Fetisch demoskopischer Massenmedienideologie, zur neuen unpolitischen Geschichtsphilosophie dahinter konvergierender Kapital- und koalierender Politikmächte degeneriert?

Die Differenz der Erkenntnisinteressen – ohne Klasseninteressen?

Die Begriffsklammer im Klappentext zur Veranstaltung war an sich bereits eine Geschichtsklitterung, da Habermas sich in seiner Denkbewegung aus dem in den 1970er Jahren anklingenden, aber nie völlig akzeptierten marxistischen Kategoriensystem, vor allem der Dualität zwischen wahrheitsfähiger materieller Basis und ideologisch-zurechtfälschendem geistigem Überbau, gerade auch der bürgerlichen (ökonomischen) Wissenschaft, herausbewegt hatte, zugunsten einer spekulativen Wissensarchitektonik in »Erkenntnis und Interesse«: Er postulierte die dreifache meta-hermeneutische Differenz der unterhintergehbaren, keineswegs klassenbezogenen Erkenntnisinteressen: das wissenschaftliche Interesse der technisch-strategischen Einsicht, Kontrolle und (industriellen, profitmaximierenden) Verfügung über objektivierbare Prozesse in Natur und Gesellschaft, verbunden mit der positivistischen Spaltung von beobachtendem, konstruierenden, eingreifenden Subjekt und Objekt; das kommunikativ-sprachliche Interesse an Verständigung und politischer Partizipation der Menschen mit dem normativen Ideal freier, gleichberechtigter und solidarischer, vernünftiger und gebildeter Bürger und Ko-Subjekte auf einem uneingeschränkt bewohnbaren Planeten; und das Interesse an gesellschaftlicher Selbst-Aufklärung durch Ideologie-Kritik und demokratisch-reformerische Emanzipation aus bisher undurchschauten Herrschafts-Zwängen, aus Unterdrückung, Verdinglichung, Denkblockaden und Weltbildbeschränkungen, die Fähigkeit also, sich selbst und andere aus dem Status als determiniertes Objekt zum reflexiven Subjekt zu befreien.

Wie fortschrittlich können Theorie- und Sprachspiele sein?

Habermas’ Weg vom spätromantischen Idealismus des Geistwesens über die komplementäre Reflexion im Feld der Anthropologie des plastisch formbaren Mängelwesens Mensch ohne festes Biotop bis hin zur Umformulierung der älteren Kritischen Theorie als gesellschaftstheoretisch-interdisziplinäre Entwicklungslogik mit emanzipatorischen Fluchtpunkten seit den 1970er Jahren ist vor allem eine post-marxistische Antwort auf die Frage nach den Selbstmissverständnissen und dem Selbstaufklärungspotential des Menschen als Gattungswesen auf dem Weg in, oder besser, durch eine ewig unvollendete Moderne. Die Philosophen hatten die Welt genügend interpretiert, die Kapitalisten und Marxisten hinreichend verändert, es kam für Habermas darauf an, die Begriffsverhältnisse fortschrittsermöglichend neu zu konstruieren, um die Theorie- und Sprachspiele möglichst offen für den Progress zu halten. Aber für welchen? Nicht der kompakte dialektische Schein des falschen Bewusstseins in einer von Ideologien überdachten Welt bei Verkennung der an und für sich in Angriff zu nehmenden realen materialistisch-historischen Lage der industriellen Produktion war für ihn der entscheidende Anknüpfungspunkt. Sondern der Versuch, die zunehmende Komplexität und Dezentrierung (Luhmann, Parsons) der Konstruktion moderner Gesellschaften und ihres janusköpfigen Fortschritts in einem differenzierten und hoffentlich immer wieder diskurs- und demokratiefähigen Raster verschiedenartiger Strukturen, Mechanismen, Konfliktmuster, Krisen- und Chancen-Potentiale onto- und phylogenetisch zu reformulieren.

Die plastische Kompaktheit von Marx und Engels – nur Geschichte?

Marx und Engels gingen in ihrem kritischen Ansatz aus vom grundsätzlichen Ideologiecharakter aller geistigen Produktion, von der Religion bis hin zur späten bürgerlichen Kultur und Wissenschaft, inklusive der politischen Ökonomie, und verbanden die Aufhebung des Scheins mit dem radikalen Rekurs auf die materielle Basis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen der industriellen Produktion, als den Ort der wahren Entschlüsselung kapitalistischer Tätigkeit als entfremdender und ausbeutender Massenproduktion von Waren und Leistungen, die profitmaximierend an den wahren Bedürfnissen der Menschen vorbeiproduziert wurden. In dieser Sicht entstanden harte Klassengegensätze mit antagonistisch verteilten Interessen von Unterdrückern und Unterdrückten, wie sie Habermas’ ausgleichend gewaltenteilige Erkenntnis-und-Interessen-Lehre nur noch aufgrund bestimmter Epochenvoraussetzungen annehmen konnte. Der repressive Mechanismus des Systems sollte sich bei Marx in der Sprengkraft der ökonomischen Konzentration und der Revolution der proletarisierten Klasse entladen. Gegen Marx stellte Habermas fest, dass Wissenschaft und Technik selbst gleichzeitig Faktoren des ideologischen Überbaus, aber auch fokussierende Produktivkräfte im Bereich der materiellen Produktion sein könnten. Die Repressivität ihrer Verwendung sei daher nicht zwingend gegeben. Die herrschaftliche Differenz zwischen Basis und Überbau bekam für die Seite der wissenschaftlichen Betrachtung einen über Marx hinausgehenden flexibleren philosophischen Namen: Positivismus, als Gefahr der Wissenschaft, selbst uneingestanden an der Verleugnung, Verschleierung und Verbiegung erkenntnisleitender Interessen und Verhinderung der Chancen zur Aufklärung mitzuarbeiten, zugunsten eines reflexionslosen Daseins zwischen konstitutivem Schein, falschem Bewusstsein und unmittelbarer politisch-praktischer Propaganda und Lüge von Herrschenden und Unterdrückten. Dieser Positivismus konnte selbst hausgemacht, wissenschaftsimmanent, oder letztlich eine Funktion der herrschenden Ideologie und Wirtschaftsform, z.B. des Kapitalismus sein. Damit wurde aber auch der Status der Verblendung, Ausbeutung und Entrechtung als rekonstruierbar, revidierbar und reformierbar betrachtet. Und zwar ganz im Gegensatz zur rein kapitalistischen Affirmation der bestehenden Verhältnisse oder auch im Unterschied zur marxistisch-revolutionären Sanktionierung der Verschärfung von Klassenkonflikten und Strukturkrisen. Diesem Status von verblendetem Halbwissen kann daher sowohl der unreflektierte und demokratie- und wohlfahrts-feindliche klassische Kapitalismus zugeordnet werden, als auch der orthodoxe Marxismus-Leninismus in seiner erstarrten Parteidoktrin, ebenso wie der jüngere »marktfundamentalistische« Neoliberalismus, wie ihn etwa Anthony Giddens charakterisiert hat.

Diskurs, aber bitte nur inklusiv!

Die Wuppertaler Tagung enthielt reichlich interdisziplinären und aktuell-wirtschafts-politischen Sprengstoff, der aber nur mäßig gezündet wurde. Es war hilfreich, wenn William Outhwaite (Newcastle) die »Kontinuitäten und Diskontinuitäten« zwischen Habermas und dem historischen Materialismus herausstellte, oder wenn der Diskursethiker Karl-Otto Apel das Letztbegründungsdefizit in Habermas’ empirisch ausgerichteter Diskurstheorie (Universalpragmatik) in Anlehnung an den Neopragmatismus (Rorty) mit dem Paradigma der transzendentalphilosophischen Reflexion durch Kant und Peirce und der performativen Selbstreflexion von Sprechakten und Geltungsansprüchen in jeder sprachlichen Kommunikation analytisch präzise konfrontierte. Smail Rapic, Gastgeber und Organisator in Wuppertal, hielt sich in einem Beitrag zu Habermas’ Schrift »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus aus dem Jahre 1973« eher philosophiehistorisch an die ältere Kritische Theorie, zugunsten der methodischen Frage, wie rationale Erkenntnis und Kritik der gesellschaftlichen, geistigen und materiellen Verhältnisse den Phänomenen des falschen Bewusstseins und der Ideologie überzeugend beikommen könnten. Nichts zu befürchten hatte Habermas von Referenten wie Stefan Müller-Doohm (»Zivilisierung des globalen Kapitalismus und die Zukunft Europas«) oder Regina Kreide mit ihren forschungsstrategischen Ausführungen zum (entdemokratisierten) Entwicklungsstand des internationalen Rechts angesichts umfassender transnationaler, globaler »Kolonisierungs«-Phänomene (unter dem Motto »Soziale Evolution und Lernblockaden«). Hier führte die Habermas-Community die getreue Dokumentierung, Historisierung und erneute Anwendung ihrer Ansätze eines auch überstaatlich weiter zu institutionalisierenden Diskursprozesses einträchtig-pluralistisch fort.

Elbe versus Habermas: unversöhnlicher Materialismus gegen reformistische Entwicklungslogik

Seltsam fiel das Diskussions-Vermeidungs-Spiel zwischen Jürgen Habermas und Ingo Elbe aus: Elbe, Marxismus-Forscher (Universität Oldenburg), führte diverse Zitate aus Habermas’ Gesamtwerk an, um die »sozialdemokratische Entschärfung« der Marxschen Analyse der kapitalistischen Produktion und ihrer Elemente von ökonomischer Herrschaft, Kapitalbesitz, Arbeit, Mehrwert, Ausbeutung, Entfremdung und Ideologie durch Habermas zu monieren. Man mag das als eine Schablone ansehen. Leider kam es hier, trotz des anschließenden Statements von Habermas, nicht zu einer die Paradigmen komplementär vergleichenden Debatte zu Stichworten wie: Basis-Überbau, Idealisierung und Naturalisierung, Abstrahierung und Konkretisierung der Lebens- und Produktionsverhältnisse; ideologieverdächtiger Szientismus und Positivismus gerade auch am Beispiel der Politik des Neoliberalismus; oder die Entlarvung des aktuellen europäischen Demokratie-Vakuums als Komplement der endlosen Last-Minute-Finanzierungsspiralen für den Kapitalmarkt inklusive der flächendeckenden Geiselnahme der Bankenkunden, Jobinhaber und Sozialleistungsempfänger. Elbes Vorwurf, Marx nicht gerecht zu werden, konterte Habermas mit Elbes Stil, an seine Texte kontextlos, wie mit einer »Suchmaschine« herangegangen zu sein. Es blieb bei diesem kurzen, aber kennzeichnenden Schlagabtausch. Genau dieses abweisende Sich-Vermeiden bezeichnete die Bruchstelle einer Diskussion, die in Großbritannien, Italien oder Frankreich ungleich offensiver, auf politischer oder methodischer Ebene, geführt worden wäre. Ist Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« aus heutiger gesellschaftspolitischer Sicht ein verspätetes Produkt des alten sozialstaatlichen Kompromisses der Bonner Republik, der im Globalisierungssog dahin zu schwinden droht, wenn die Diskursmechanismen sich nicht in neuer Weise überstaatlich etablieren können?
 

Foto by Wolfram Huke
creative commons 3.0












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