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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik
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Glanz&Elend
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Seitwert


Im Dickicht der Euro-Krisen-Diskussion

Jürgen Habermas’ Intervention zu einem politisch gestärkten Europa

Von Peter V. Brinkemper

Die diffuse und kurzatmige Diskussion um Auswege aus der europäischen und weltwirtschaftlichen Dauerkrise hat längst ihr eigenes Dickicht erreicht. Steht nun mit dem in der FAZ (4. August 2012) publizierten Vorschlag von Jürgen Habermas und zwei weiteren Autoren, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger, eine echte intellektuelle Alternative bereit? Oder handelt es sich um einen Wahlkampftrick der SPD? Immerhin geht es um den „Einspruch gegen die Fassadendemokratie“.

Vielleicht steckt dahinter nur eine alte Konzeption in neuer rhetorisch-gemischter Verpackung. Um Kritik und Vision soll es gehen, und um den Schwenk des politischen Blicks auf den großen, neu auszuhandelnden Gesetzes-, Fiskal- und Sozial-Raum Europa, statt der Fixierung auf eine deregulierte, jederzeit spekulativ angreifbare und von Raubtierkapitalisten weiter ausplünderbare Währungs- und Wirtschafts-Zone – mit einer wiederermächtigten Politik, die der Medusa der Finanzspekulation und der globalen Marktdynamik endlich trotzt. Das alt-neue Pastiche, zwischen Soziologie, Politik, Wirtschaftstheorie und Philosophie, enthält zusammengesetzte Rationalitätsvermutungen, die noch zu beweisen sind.

Pressemeldung, Leitartikel, Essay, Parteiprogramm und Realpolitik

Die reduzierte Pressemeldung über Habermas und Co., die ja nicht identisch mit ihren ausführlichen Aussagengeflecht in der FAZ oder mit Habermas’ europäischem Verfassungs-Essay ist, lautet sinngemäß: Man wolle eine vertiefte politische Integration, laut den Medien „mehr Macht für Brüssel“, und zugleich ausgehend von der nationalen Ebene, zuallererst vom wirtschaftspotenten Deutschland aus, den Anstoß zu einem (europäischen) Verfassungskonvent und zu einer großen eurobürgerlichen Volksabstimmung, es gehe zentral um die explizite Abtretung einzelstaatlicher parlamentarischer Funktionen und Haushaltsrechte, damit auf supranationaler Ebene endlich deutlicher politische Handlungsfähigkeit eintrete.

Das klingt so (in dieser verkürzten Form) nicht derart vertrauenerweckend, wie die in ihr eigenes Aussagengebäude verstrickten Autoren es gerne wollen. Auch in Jürgen Habermas’ ausführlichem Suhrkamp-Essay „Zur Verfassung Europas“ vermengen sich philosophische, politologische, juristische, moralische und demokratie- und systemtheoretische Argumentationslinien auf abenteuerliche Weise mit einer schmiegsamen Nähe zur historischen Faktizität des unfertigen europäischen Hauses. Skepsis liegt nahe, und zwar nicht nur für solche, die immer noch national, entweder rein fiskalisch oder primär marktorientiert, denken, und vermeintlich regionale oder staatliche Privilegien, Haushaltspfründe oder die Wirtschaftskraft im eigenen Land, gegenüber den anderen, als fragwürdiger eingestuften Partner-Ökonomien verteidigen.

Fragen über Fragen

Der durch die Pressemeldung simplifizierte Entwurf präpariert und überbietet Sigmar Gabriels sozialdemokratisches Vorhaben, jetzt rasch zur fiskalischen Union vorzupreschen und sich von prominenten Intellektuellen öffentlich parteiprogrammatische Denkvorlagen dazu liefern zu lassen. Der vermutete Hauptwiderspruch dieses Vorschlags scheint darin zu bestehen, dass er doch nur die mal intergouvermentale, mal eurobürokratische erscheinende Struktur in Brüssel zwischen wechselnden Regierungschefs und stabilen Kommissaren politisch und diskursdemokratisch aufzupeppeln scheint, ohne die behauptete Vision wirklich überzeugend zu verdeutlichen. Worin soll der Fortschritt vom Fiskalpakt zur Fiskalunion genau bestehen? Was wird durch eine definitiv vergemeinschaftete Schuldenhaftung anders werden? Inwiefern wird der fiskalische und bürokratische Diskurs der einzelnen Staaten und Parlamente durch die definitive supranationale Zusammenballung von Ressourcen, aber auch der Staats- und Banken-Schulden und der Verantwortlichkeiten, in der Bündelung und im Widerstreit aller erdenklichen Interessen und Einschränkungen ernsthaft übersichtlicher und gestaltbarer angegangen? Worin besteht die Handlungsfähigkeit und Transparenz einer gesamteuropäischen Finanzpolitik? Wird das Prinzip der finanziellen Solidarität überdehnt? Wie soll der intendierte angeblich neue politische Entscheidungsmechanismus aussehen, der gerade mehr demokratische Beteiligung auf Europaebene enthalten soll und über den bisherigen reduzierten Kreislauf von „postdemokratischer“ Lenkung oder Bestrafung von Einzelstaaten sowie der einseitigen Festlegung oder Lockerung von Kriterien der Mitgliedschaft hinausgehen? Könnte eine neue Balance zwischen nationalen Regierungen, Europainstitutionen, Staats- und Unionsbürgern auch der Wirtschaftspolitik den Weg weisen? Oder ist die krisengeschüttelte Wirtschaftspolitik nur ein Vorwand, eine politische Utopie einzufordern, für die keine politikmüde Öffentlichkeit sich weiter einsetzen wird? Inwiefern wird ein erneuertes Steuerungsinstrumentarium auf die globalen Märkte souveräner und angemessener reagieren können? Wie ist mit dem inflationären Leichtsinn einer gelddruckenden EZB umzugehen, die nach dem Modell der US-Notenbank schielt? Was ist bei Habermas unter einer freischwebenden supranationalen Demokratie ohne feste Bundesstaaten, aber zunehmend in bestimmten Kompetenzen entkernten Mitgliedsstaaten genau vorzustellen? Eine Art Euro-Leviathan, eine diskursangereicherte neue Kernvorgabenmaschinerie, eine neue Finanz-Wohngemeinschaft mit einem Dirigismus endlich ohne die scheußlich-giftige Europa-Sparlampe? Liegt dieses von Habermas favorisierte Modell nicht näher an der von ihm so stark angegriffenen Merkelkratie des kleinschrittigen delegitimierenden Zögerns? Das Modell des radikalen Verwaltens von Einnahmen, des Sparens und der Modus der strengen Kontrolle von Ausgaben im kleinen und im großen Maßstab auf einem definierten Territorium ist nur die Kehrseite einer gemeinsamen Währungs-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, die doch ungleich origineller, gestaltungsfreudiger und flexibler sein müsste, und die auch mit den ausgeprägten Regionalismen durchaus zurechtkäme, aber vor allem dem ungebrochenen weltökonomischen Trend der Finanzspekulation und der dynamischen Markttransformation ohne Rücksicht auf eine sinnvolle und soziale Realökonomie vor Ort oder auf ganzen Kontinenten entschiedener begegnen müsste. Eine supranationale Europaregierung oder ein supranationales Europareglement wird unter dem Aspekt der zentralistischen Staatsfinanzendrosselung kaum die erforderliche Gesamtlösung einer hochflexiblen gesamteuropäischen Politik darstellen. Ein krisengereifter Verfassungskonvent und eine Europa-Volksabstimmung (nicht nur in Deutschland) als diskurstheoretischer Unterbau zur Delegation und Ballung von parlamentarischen Haushaltsrechten an eine höhere Europamacht mag weitere Kräfte bündeln, aber denkbar ist auch, dass ein solcher Schritt der institutionellen Umkrempelung nur im Vorhof von dem stecken bleibt, was zu leisten ist, wenn die Krisen- und Finanzdynamik der Globalisierung noch ungeschützter auf ein welt- und wirtschaftspolitisch nicht hinreichend ausgereiftes Europa zugreifen könnten. Schon der alte, primär parlamentarisch institutionalisierte Diskurs einer nationalstaatlichen Politik als Modus demokratischer Diskussion und Abstimmung über territorial verbindliche Gesetze (auch zur staatlichen Finanzierung und Regulierung), aber erst recht die heutige Praxis der herrschenden Politiker, international und primär an und in einzelnen exekutiven Schritten orientiert zu konferieren, sind mit dem fiskalischen Diskurs der übersichtlichen Finanzierung, Verschuldung, Abschreibung und Refinanzierung keineswegs so organisch über Institutionen verbunden, wie es die europakritischen Nationalisten (am Status quo orientiert) und die europa-utopistisch vorpreschenden Supranationalisten (mit ihrem basisdemokratischen Weltbürgersinn) je für sich behaupten. Entsprechend fallen die Reaktionen misstrauischer alter und junger Geisel-Bürger aus, von Berlin, Madrid bis Athen (mit der Sorge um Zukunftschancen und Ersparnisse bis hin zum offenen Widerstand, die erhobenen Kürzungen und Steuern nicht zu zahlen). Die konsequentere Expansion und Stabilisierung des Geltungsbereichs auch einer neuen entschiedeneren Europa-Politik würde auf die veränderte Lage reagieren, führte aber auch zu weiteren Risiken. In gewisser Weise scheint eine Rückkehr zu geradezu spätabsolutistischen Verhältnissen bevorzustehen. Für Habermas und seine Mitstreiter erklärt sich das derzeitige Politikdefizit aus den vergangenen Jahrzehnten der marktfixierten Deregulierung und Privatisierung öffentlicher Vorgaben und Leistungssegmente, aktuell aus der vorrangig rein intergouvermentalen Ratspolitik der Staatschefs unter sich, unterhalb der eingeforderten Ebene eines neu ausbalancierten Zusammenspiels der Europäischen Kommission, ihrer Ressorts und eines gestärkten Europäischen Parlaments, gewählt und interessiert beobachtet von Bürgern, die sich endlich im Spagat zwischen nationaler Staatsbürgerschaft und europäischer Weltbürgerschaft verstünden und einbrächten. Vielleicht ist in dem ewigen deutschen Kampf zwischen Bund und Ländern um Finanzierung und Ausgleich ein Mikro-Modell von dem enthalten, worum es in ganz Europa jetzt finanziell und materiell, auch in expliziter demokratisierten politischen Verhandlungen, gehen müsste. In einer jederzeit zwischen den „Gewalten“ intervenierenden und vermittelnden Politik, zwischen alarmierten Regierungen, flexibilisierten Experten, Beamten und diskursiv angestachelten Institutionen, Parlamenten, Ausschüssen und Gremien, im Kontext einer wachsam okkupierenden und politikkritischen Öffentlichkeit und ihrer weltumspannend vernetzten NGOs. Oikos, Fiskus, Diskurs und Demos sind jederzeit zu trennen und wieder neu zusammenzuführen, auf der regionalen, staatlichen, europäischen und globalen Ebene, um den neuen Politikmodus einzukreisen, nicht aber in einem simplen, „fassadenhaften“ Copy and Paste alter konservativer oder sozialdemokratischer Modelle klar abgrenzbarer Innenpolitiken. So leicht ist eine europäische und internationale Weltinnenpolitik nicht zu haben. Aber das haben Jürgen Habermas und seine Mitstreiter nie behauptet.
 








Jürgen Habermas
Zur Verfassung Europas
Ein Essay
edition suhrkamp
Klappenbroschur
140 Seiten
14,00 €
ISBN: 978-3-518-06214-2



Siehe hierzu auch unseren Beitrag:

Luftschloß ohne Statik
Von
Gregor Keuschnig
Artikel Lesen
Über Jürgen Habermas Essay

»
Zur Verfassung Europas«


 


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