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Im Reich der Bürokraten

Über Hans Magnus Enzensbergers Ein- & Auslassungen »Sanftes Monster Brüssel
oder Die Entmündigung Europas«

Von Gregor Keuschnig

Selten passte ein Titel so präzise zum Duktus des Buches: "Sanftes Monster Brüssel" steht dort in großen, roten Buchstaben. Der Zusatz "oder Die Entmündigung Europas" ist dann schon der Beginn eines Missverständnisses. Muss es nicht heißen "Die Entmündigung der Europäer"? Wie wird "Europa" entmündigt? Was ist das überhaupt - "Europa"?

Sanft und mit feiner Ironie kommt Hans Magnus Enzensberger daher. Wie sollte er auch anders? Ein deutscher Intellektueller, der eine scharfe Schrift gegen "Europa" bzw. die Europäische Union hinlegt - undenkbar. Sofort würden die gängigen Etiketten hervorgeholt. "Europaskeptisch" bedeutet in Deutschland noch mehr als in anderen Ländern rechts, dumpf und antimodernistisch. Wer möchte das schon sein? Das Problem sieht Enzensberger sehr wohl, denn hinter dieser Rhetorik macht er eine Strategie aus, die…gegen jede Kritik immunisieren soll. Wer ihren Plänen widerspricht, wird als Antieuropäer denunziert. Dies erinnere von ferne an die Rhetorik des Senators Joseph McCarthy und des Politbüros der KPdSU. Wenngleich er an anderer Stelle den Vergleich der EU mit totalitären Regimen als abwegig feststellt und somit nivelliert.

Bürokratie und Akronyme

Zunächst preist Enzensberger die lange Friedenszeit und Reisefreiheit, die einem die europäische Vereinigung gebracht habe. Dann widmet er sich der Regulierungsmechanismen, derer sich die EU bedient. Die Beispiele, er anführt, sind die leidlich bekannten. Von der Vereinheitlichung von Traktorsitzen bis zum Euro-Stabilitäts- und Wirtschaftspakt, der ausgehöhlt wurde und inzwischen die Euro-EU zur Transferunion deformierte. Und bei der Schilderung der "Harmonisierung" des EU-Zahlungsverkehrs sitzt Enzensberger spürbar der Schalk im Nacken, etwa wenn er von den zukünftigen 31stelligen Kontonummern der Malteser schwärmt: 414.000 Einwohnern stünden dann 3.100.000.000.000.000.000.000.000.000.000 Kontonummern zur Verfügung. Das alles kann man in 1.400.000 Dokumenten der Rechtsvorschriftensammlung EUR-Lex nachschlagen.

Zwischenzeitlich unterlaufen dem Autor einige erstaunliche Schnitzer. Beispielsweise in Bezug auf die Politik- und Lebensbereiche, die schon alle von der EU dominiert werden sollen. Hier wird die Energiepolitik mit aufgeführt, was unpräzise ist, denn es gibt ja beispielsweise - wie neulich schmerzhaft festgestellt wurde - keine einheitlichen Kriterien zum Betrieb von Atomkraftwerken. Auch wenn Enzensberger herausstellt, dass sich Großbritannien, Norwegen und die Schweiz einer Währungsunion aus ökonomisch-politischen Gründen nicht angeschlossen hätten, ist dies eine Merkwürdigkeit, da Norwegen und die Schweiz als Nicht-Mitglieder der EU gar keine Möglichkeiten einer Teilnahme hätten (die letzten Ablehnungen, der EU beizutreten resultieren aus den Jahren 1994 bzw. 1992). Und auch den Weg hin zur EU, wie üblich mit Abkürzungen gepflastert, ist ungenau skizziert. Nach Enzensberger führte er von der EWG, der EAEC und der EFTA über den EWR und die EWU zur heutigen EU. Er übersieht dabei, dass die Europäische Wirtschaftsunion (EWU; bzw.: Europäische Wirtschafts- und Währungsunion EWWU) keine Zwischenstufe zur EU ist, sondern parallel in ihr existiert (ähnliches gilt von der EAEC, der Europäischen Atomenergiebehörde, die 1957 gleichzeitig mit der EWG mit den gleichen Mitgliedern gegründet wurde).

Mit Wonne stürzt sich Enzensberger auf die Verflechtungen und den einzelnen Institutionen, Organisationen und Organe der EU, die schon in den Bezeichnungen Verwirrung stiften. Etwa wenn von "Europäischen Rat" und dem "Rat der Europäischen Union" die Rede ist - wohl gemerkt: es sind zwei verschiedene Organisationen. Oder vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Gericht der Europäischen Union (EuG). Schließlich gibt es noch den EGMR oder EuGHMR, der allerdings nichts mit der EU zu tun hat. Die Akronyme haben es ihm besonders angetan: FAC, ECOFIN, JHA, COMP, ENVI, EXC, TTE und CAP. Grosses Vergnügen bereitet die Aufdeckung der jeweiligen Anzahl der Generaldirektionen, Generaldirektoren und Direktoren nebst Stimmrechten oder eben nicht. Und so arbeiten 3645 Mitarbeiter des Europäischen Auswärtigen Dienstes an der Errichtung ihres eigenen Gehäuses.

Die Methode Monnet

Reichlich verblüfft scheint er, wenn Robert Menasse in seinem Essay vom Mai 2010 der EU-Bürokratie durchaus Effizienz und Kompetenz attestiert, wenngleich auch er die Beamten in der zweiten Reihe als fachkompetenten Köpfe herausstellt und über den zumeist nur aus Proporzgründen ernannten Kommissare (ein wenig arg künstlich die Aufregung um den "Kommissar"-Begriff, der dann im weiteren Text aus dem französischen kommenden erklärt wird) und Direktoren stellt.

Die feuilletonistische Sanftmut Enzensbergers schreitet in den historischen Exkursen fort. Insbesondere die über den Haager Kongress 1948 und den französischen Politiker Jean Monnet sind leicht eingängig. Die "Methode Monnet" praktiziert die EU bis heute: im Konsens getroffene Eliteentscheidungen. Dem Wahlvolk werden diese Entscheidungen mitgeteilt, wobei die stetig sinkende Beteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die Verantwortlichen in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg nicht besonders zu tangieren scheint. Ungerührt sehen sie dem Schwinden ihrer Legitimationsgrundlage zu. Die Vermutung ist nicht weit hergeholt, daß Ihnen das sogar ins Konzept passt; denn für jede machtbewußte Exekutive ist die Passivität der Bürger ein paradiesischer Zustand. Auch die beteiligten nationalen Regierungen haben daran wenig auszusetzen. Zu Hause behaupten sie achselzuckend, gegen die Brüsseler Beschlüsse hätten sie sich leider nicht durchsetzen können. Umgekehrt kann sich die Kommission darauf berufen, daß sie nur den Absichten der Mitgliedsstaaten folgt. Letzteres konzediert Enzensberger selber: Nicht unwesentlich trügen die einzelnen Mitgliedsstaaten und deren nationalen Interessen zur Bürokratisierung bei. Und schließlich gäbe es noch die Lobbyisten, die wie eine Art unabwendbare Naturkatastrophe betrachtet werden.

Störungen in Form von Rückfragen, Einwänden, Verbesserungen sind vom Apparat per se unerwünscht, was zum das leidlich bekannten "Demokratiedefizit" der EU führt, das er süffisant als chronische und offenbar schwer zu behandelnde Mangelkrankheit kommentiert, die allerdings durchaus beabsichtigt und sozusagen "europa"-immanent sei. Für die Herrschaftsform der Europäischen Union gäbe es kein Vorbild. Ihre Originalität besteht darin, daß sie gewaltlos vorgeht. Sie bewegt sich auf leisen Sohlen. Sie gibt sich erbarmungslos menschenfreundlich. Sie will nur unser Bestes. Wie in gütiger Vormund ist sie besorgt um unsere Gesundheit, unsere Umgangsformen und unsere Moral. Auf keinen Fall rechnet sie damit, daß wir selber wissen, was gut für uns ist; dazu sind wir ihnen in ihren Augen viel zu hilflos und zu unmündig. Deshalb müssen wir gründlich betreut und umerzogen werden. Mangelnde Gewaltenteilung und Demokratiedefizit sind also gewollt; ein vornehmer Ausdruck für die politische Entmündigung der Bürger.

Die Tyrannei des "gütigen Vormunds"

Die beiden Totschlagargumente gegen Kritik lauten "Nationalismus" und "Populismus". Dessen macht sich schuldig, der die Sorgen und Nöte dieses Wahlvolkes wie auch immer artikuliert. Dass in vielen EU-Ländern die Zustimmung zu Protestparteien gegen den Politikstil der "TINA"-Argumentation ("There Is No Alternative") in fast exponentialer Rasanz zunimmt und der Bürger nur noch auf diesem Weg seinen Widerspruch zu artikulieren vermag, thematisiert Enzensberger nicht weiter. Macht er sich gar die Konklusio Menasses zu Eigen? Dieser schrieb: "Ja, die Demokratie: klingt gut, sie organisiert Legitimation – aber wofür? Internationale Konzerne üben Druck auf nationale Regierungen aus, um ihre globalen Interessen durchzusetzen, und die Regierungen machen diese Interessen zu nationalen Anliegen, mit denen sie die supranationale politische Entwicklung torpedieren. Das ist der Punkt, an dem man vielleicht bereit sein müsste zuzugeben, dass es heute ein Fortschritt, ein Befreiungsschritt ist, wenn über die Rahmenbedingungen unseres Lebens eben nicht mehr wesentlich durch Volkswahlen abgestimmt wird." Wer hier glaubt, es handele sich um ein provokantes Gedankenspiel wird bei der weiteren Lektüre widerlegt. Menasse scheint das tatsächlich Ernst zu meinen, wenn er schreibt, "dass die klassische Demokratie, ein Modell, das im 19. Jahrhunderts zur vernünftigen Organisation von Nationalstaaten entwickelt wurde, nicht einfach auf eine supranationale Union umgelegt werden kann, ja sie behindert. Demokratie setzt den gebildeten Citoyen voraus. Wenn dieser gegen die von Massenmedien organisierten Hetzmassen nicht mehr mehrheitsfähig ist, wird Demokratie gemeingefährlich."

So einfach ist das also. Statt der "Fixierung des Menschen in der Erniedrigung durch Trivialkommunikation" (Peter Sloterdijk) durch entsprechende Maßnahmen entgegen zu treten, statt für eine Europäische Union und deren Institutionen und Errungenschaften zu argumentieren, wird der unter Duldung seiner politischen Klasse(n) "aufgehetzte" Bürger für unmündig erklärt. Es sind diese Momente, in denen einem die EU-Befürworter noch mehr Angst machen als die grausigen EU-Gegner.    

Was ist eigentlich eine Europäische Union wert, die ihre Autorität fast ausschließlich durch Drohungen, Denunziationen und Diskussionsverbote aufrecht erhalten kann? Besonders herausragend zeigt sich hier der luxemburgische Premierminister Jean Claude Junker, der Diskussionen als "ungesund" und "uneuropäisch" betrachtet (zu Recht weist Enzensberger darauf hin, dass ein Politiker, der politische Äußerungen beispielsweise als "undeutsch" bezeichnen würde, sofort diskreditiert wäre) und allen Ernstes die Gefahr eines Krieges heraufbeschwört, sollte der Euro auseinanderfallen "Ein Tag Krieg in Europa ist teurer als uns die ganze Euro-Rettungsaktion jemals kosten wird". Hierzu gibt es eine kleine Bemerkung bei Enzensberger zu Überdehnungen von Weltreichen und ein Zitat von Hannah Arendt, die eine "entpersönlichte Übermacht" von in "anonymen Büros" agierenden Bürokratien als "bedrohlicher…als die empörendste Willkür von Tyranneien in der Vergangenheit" ausmachte (sie sagte dies 1975 in einer Rede zu einem Preis, der Enzensberger 2010 verliehen wurde.

Menasse glaubt, die EU sei als "'Friedensprojekt'" für ihren Paternalismus ausreichend legitimiert. Aber dieser Frieden kommt als gemaßregelte Friedhofsruhe daher. Wie verräterisch der Gedanke es entfalte sich vielleicht irgendwann durch die langsame, aber stetige Aushöhlung des Nationalstaates eine Art von neuer Demokratie, die "als Checks and Balances–System zwischen einem echten europäischen Parlament der Regionen und dem aufgeklärten, josephinistischen Beamtenapparat der Kommission" agiert. Es ist eine Schwäche, dass Enzensberger diese These gänzlich unkommentiert lässt, zumal er sich ja mit Menasses Text beschäftigt. So plätschert dieses Büchlein, das man nur irrtümlich einen Essay nennen kann (denn versucht wird hier nichts), dahin und sein Autor schwankt zwischen veritablem Respekt und leiser Entrüstung. Zum Beleg seiner Aufmüpfigkeit gegen Regulierungen aller Art wird die alte Rechtschreibung verwendet (auch Zitate werden entsprechend transformiert). Und am Ende gibt es ein fiktives (Selbst-)Gespräch mit Monsieur *** aus der Kommission und dem Verfasser in der Fattoria del Chianti in der Rue Archimede in Brüssel. Der Leser erfährt, dass der Ossobuco dort vortrefflich sei. Es gibt Leute, denen das etwas zu wenig ist. Gregor Keuschnig

Die kursiv gesetzten Passagen sind Zitate aus dem besprochenen Buch.

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Hans Magnus Enzensberger
Sanftes Monster Brüssel
oder Die Entmündigung Europas

edition suhrkamp
73 Seiten
7,20 €
978-3-518-06172-5

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