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Bücher & Themen Artikel online seit 05.01.13 |
Reise
zum Kern des Menschseins Von Peter V. Brinkemper
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Die Frage nach der Zukunft des Kinos erhält in der teuersten deutschen Großproduktion aller Zeiten: dem Film »Cloud Atlas«, 2012, ein mehrdeutiges Gesicht. Nicht allein angesichts der 102 Mio. Produktionskosten (doppelt so viel wie die bisherige Nummer 1, Tykwers »Das Parfum«). Auch nicht wegen der mageren 66 Mio. Dollar Einspielergebnisse in zehn Wochen. »Cloud Atlas« behauptet eine Art altmeisterlichen Alles-Könner-Hyper-Realismus, der mit einem prominenten und hoch engagierten Schauspielerensemble, mehrfach besetzt in sechs Geschichten, sämtliche Gattungen plündert, um in den Kern des Menschseins, zwischen Intellekt und Gefühl, Historie und Gegenwart, Wissenschaft und Leben, einzudringen. In der permanent hin-und-her-springenden Parallelmontage der verschiedenen Stories und im dauernden Echtzeit-Schnitt einer absoluten Gegenwart wird eine TV-förmige Präsenz von Bedeutungs-Schnipseln erzeugt, die der Syntax des zugrundeliegenden Romans und der Logik des Kinos nicht ganz gerecht wird. Die Struktur des Romans
Auf der Basis von David
Mitchells gleichnamigem Roman, »Cloud Atlas« (Sceptre, London 2004), in
deutscher Übertragung von Volker Oldenburg: »Der Wolkenatlas« (Rowohlt 2006),
haben Tom Tykwer und die Wachowski-Geschwister Lana (ehemals Larry) und Andy ein
dreistündiges Kino-Epos intendiert. Im Roman werden die fünf verschiedenen
Geschichten, ein See-Tagebuch 1849, briefliche Künstlerkonfessionen 1936, ein
Nuklearwirtschaftskrimi 1973, die burlesk-reflexive Epik eines
Verlegermartyriums 2012, die katechetische Befragung eines futurischen Klons
2144 präsentiert (die angegebenen Jahresdaten beziehen sich auf den Film). Der Roman überlässt dem geduldigen Leser, bei aller Tendenz zum Entertainment, durch ein System von Leerstellen und Leitmotiven die synthetische Leistung, das verschachtelte Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und möglicher Zukunft in und zwischen den Geschichten selbstständig zu begreifen und zusammenzufassen. Vielleicht gaukelt Mitchell eine schlüssige Synthese zwischen den Komponenten auch nur vor. Im Film wird die Richtung dieser Synthese, bei aller anfänglichen Verwirrung, bis ins kleinste Detail vorgegeben: Verschiedene, asynchrone Phasen oder individuellen Bruchstücke aus dem Bogen einer großen Weltepoche werden eindeutig aufeinander bezogen. Der vage Spielraum im Horizont des zivilisatorischen Aufstiegs und Verfalls der Menschheit wird so verhandelt, als ob die Figuren als geklonte Larven und natürliches Gewürm durch den unübersichtlichen Blätterwald des Drehbuchs zwischen irdischer Metamorphose und metaphysischer Seelenwanderung kriechen. Simultanschnitt und Flow im Film Die motivischen Resonanzen des Romans werden im Film überboten: durch ein simultan sich entwickelndes Gewebe der kompletten Figuren- und Handlungsebenen, basierend auf einem prominenten, in allen Stories präsenten Mehrfachdarsteller-Team, das dem Zuschauer eine dramatische oder symbolische Ko-Präsenz aller sechs Erzählstränge und in ihrer konkreten Entwicklungen und Verzweigungen zumutet. Tykwer inszenierte, deutlich subtiler und ausgefeilter, die bündigeren Plots 1936, 1973 und 2012, während die Wachowskis die stärker randständigen, teils diffuseren Geschichten 1849, 2144 und 2321 plakativ, im Sinne ihres bekannten Popcorn-Dialog-Stils umsetzten. Am Horizont dieser unmöglichen »Verfilmung« eines »unverfilmbaren« Romans taucht der Produktionsfaktor einer neuen Leichtigkeit auf: Der Film wurde, vor allem durch die Teilung in Teams, in nur 60 Tagen an europäischen Schauplätzen abgedreht. In der Parallelmontage, für deren Schnitt Alexander Berner verantwortlich zeichnet, werden nicht nur unterschiedliche Erzählebenen, sondern auch verschiedene Regiestile vermischt. Der erste Schnitt folgte einem eher strukturellen Drehbuch (das zwischen Kontinuität und möglicher Unterbrechung für alle Geschichten auf dem Papier unterschied). Daraufhin wurde in zehnwöchiger Team-Arbeit (noch ohne CGI) mit der Regie und in Rücksprache mit dem Buchautor durch mosaikförmige Umstellung, Bündelung und Kürzung immer weiter, direkt am visuellen Material, modifiziert. Berner: »I view the script as the ‘color palette’ and the edit is where you ‘mix the paint.’« »Our main focus was to make sure we maintained the right emotional bow within a scene, even though we might start the action in one era and carry it forward into another. It was important to be able to tell these six stories as one big movie with one big emotional thought.” Digitale Illusionen des analogen Retro Auf diese Weise schlagen die drei Filmemacher in ihrem Überbietungskino auch Verbindungen zu ihren formalen Kino-Experimenten: »Lola rennt« (1998) und »Matrix« (Teil 1 von insgesamt drei Teilen, 1999). »Lola rennt« enthielt bereits eine dreifache Variation einer comicartigen Geschichte mit jeweils anderen Wende- und Höhepunkten. Mit »Matrix« wurde die Differenzierung und Synthese von virtuellem und realem Handlungsraum im digitalen Kino auf ein neues Level gehoben. Beide Werke bewegten sich jenseits der linearen Narrativik des älteren realistischen Erzählkinos zwischen technologischer Progression und psychologischer Regression. Der oft naive Genuss und Zugriff des klassischen Hollywood-Films (old and new) bestand darin, die Studiobühnen und Außenlocations, den Auftritt der Stars, der Darsteller und Statisten in genre-gerechten Geschichten und Inszenierungen auszubalancieren, die eine materiell greifbare Manifestation dessen enthielten, was Helden- und Schurkentum, Handlung, Drama, Konflikt, Katastrophe und Versöhnung bedeuten konnten. Kino war nicht nur Traumfabrik, sondern auch theatralisches Handwerk vor den Objektiven der Aufzeichnungsmaschinerie, sogar und erst recht in Cinemascope und Cinerama, um eine einleuchtende narrative Kontinuität in Raum und Zeit, ein plastisches Und-Dann, auch dort, wo es zunächst nicht erwartbar gewesen wäre, herzustellen. Diese Formen der narrativen oder imaginären Kontinuität im Rahmen von Drehbuch, Roman-Vorlagen, Bühnenstücken und daraus sich entwickelnden filmischen Erzählklischees stießen natürlicherweise in den immer weitergehenden Möglichkeiten der Aufnahmetechnik, Bildgestaltung und Schnitt- und Montagekunst nicht nur auf unterstützende, sondern auch auf rivalisierende Faktoren. Das filmische Drama, die logische Syntax der Abfolge und Beschleunigung der Bilder und Schnitte im Sinne eines irreversiblen Fortschritts der Handlung, kollidierte mit der rein filmischen Oper, dem triumphalen Jetzt, dem inneren und äußeren Arioso und Furioso, der fortlaufenden Präsenz von Ausdruck und Figur, Szene und Situation als paradigmatischer Metaphorik und Typologie. Eben deshalb waren Tykwers und Wachowskis Modelle »Lola rennt« und »Matrix« von hoher Relevanz, weil sie den narrativen Konsequentialismus der Story zugunsten einer starken paradigmatischen Neukontrollierung der Handlungselemente, Aktions- und Bild-Räume zwischen Realfilm und Trickfilm sowie raumzeitlicher Überdehnung oder Kontraktion (Bullet-Time, Motion Capture) aus den Angeln zu heben drohten. Sie setzten dabei nicht auf die Flüchtigkeit des dokumentarischen Kinos oder die Spontaneität einer Novelle Vague, sondern strebten neue Einprägungs- und zyklische Ewigkeitswerte zwischen Comic, Manga und Kino an. Nicht zufällig hatten beide: »Lola rennt« und »Matrix«, drei Versionen, Varianten oder Folgen (bei »Lola rennt« in einem Film). Von mancher Seite wurde in der Künstlichkeit der Inszenierung der Tod des bisherigen Handlungskinos diagnostiziert. Um so merkwürdiger mutet der Retro-Ton in den aktuellen Verlautbarungen der Regie-Troika an, den guten alten Kinofilm mit seiner leinwandgerechten Großbild-Epik für das neue digitale Jahrhundert gegenüber der Bildverschredderung flüchtiger Kinoproduktionen durch die Formate: TV, Mobile und PC retten zu wollen. Es könnte ja auch umgekehrt sein: dass jeder Versuch, mit digitalen Mitteln die analogen Kino-Wertschöpfungen und den Kompromiss großer Erzähl-Bögen und malerischer Prospekte restituieren zu wollen, daran scheitert, dass es sich hierbei nur um unzulängliche Rekonstruktionen einer vergangenen Epoche und um eine längst zerbrochene Ästhetik von Bild und Ton handelt. Heute gilt nur noch der seinerseits im Datenstau zum Still und GIF (Graphics Interchange Format) mutierte anticineastische, stumm um seine eigene Raum-Zeit-Achse eiernde Pseudo-Video-Clip als kleinste mikrologische Unter-Erzähl-Einheit, eine Art Antimaterie des alten cineastischen Universums und des beschaulichen Ur-TV. Mitchells narrativer Globalismus - Tykwers musikalischer Furor Diese medialen Einwände gelten auch für die erzählerische Symmetrie des »Cloud Atlas«-Romans und ihre delikate cineastische Adaption. Schon auf der literarischen Ebene stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit und Kontinuität der einzelnen Geschichten sowie ihrer möglichen »sinnstiftenden« Verbindung. David Mitchell wurde bei allem Lob zu seiner polyhistorischen und globalisierenden Vielseitigkeit keineswegs von Kritik verschont, mit dem indifferenten Tagebuch- und Protokollstil seiner Protagonisten und dem weiträumigen Datierungsraster alles und jedes in ein nur unzulängliches, oft mechanisch-unverbindliches Narrativ zu pressen. Ab der ersten Zeile neigten Mitchells Konstruktionen in Inhalt und Gehalt zum pulverisierenden Historismus, Ethnozentrismus und zum futurischen Pessimismus mit dem allzu behäbig tröstenden Human-Touch einer zur Seelenwanderung hochstilisierten zaghaften Leitmotivik. Die filmische Umsetzung versucht die experimentelle Zergliederung der einzelnen Stories in zahllose Elemente und ihre leitmotivische Quer-Verwebung im absoluten filmischen Simultanschnitt immer weiter zu treiben und dabei die Balance der sechs Geschichten zu wahren. Dahinter steckt auch Tykwers musikalischer Furor, seine Begeisterung für und seine kompositorische Rekonstruktion von Robert Frobishers »Wolkenatlas-Sextett«. In dieser Art von bestenfalls Mahlerschem Zwölfton-Infarkt-Klang läge eine Antwort, vielleicht sogar die Überbietung von Nolans »Inception«. Im alten Realismus und sogar noch im Kausalitäts-Umsturz von »Memento« gibt es eine gewisse robuste Trägheit der Bildwelten und Erzähleinheiten, denen kein musikalischer, philosophischer oder filmischer »Kick« von außen beliebige Rettungsmanöver kreuz und quer zu allen Ebenen entlocken kann, so zauberhaft das angestrebte Fluidum einer gänzlich frei auskomponierten Erzählung gegenüber dem Erzählten auf den ersten und zweiten Blick auch wirken mag. Von daher kann es sein, dass Thomas Manns »raunende Beschwörung des Imperfekts« ausgerechnet in den drei Stunden von »Cloud Atlas« in das Rauschen einer Entropie übergeht, die letztlich weder narrativ getaktet noch symbolisch überformt werden kann.
Braucht das Narrative also
doch bestimmte epische und cineastische Vorstellungen einer realen Wirkung und
Wechselwirkung: ein notwendiges Und-dann, ein Währenddessen, ein Zugleich-Sein,
ein kraftvolles Aufeinander-Einwirken und nicht nur ein
hypothetisch-kosmisch-märchenhaftes Irgendwie, Irgendwann und Wenn...?
Vielleicht ist dies die paradoxe Quintessenz des Nietzscheanischen Willens zur
Macht, auf den Mitchell in seinem dystopischen Epochen-Roman, in humanistischer
Form geläutert, rekurriert. Der Wille zur Macht, nicht als Willkür einer nur
persönlichen Entweltlichung, getarnt mit dem allzu beliebten Flow der digitalen
Bilder, oder einer endlosen ökonomischen Serialisierung, die die Lücken der
Geschichte mit Pre- und Sequels vollstopft, sondern als transsubjektiver Motor
exakt vorgestellter, beobachteter und erkannter sozialer Mikro-Prozesse. Dabei
spielt die Umwertung dessen, was man einmal als Grundlage, Wert, Substanz,
Jenseits und Ewigkeit ansah, eine prominente Rolle, im realen Prozess des
objektiven Werdens und Sterbens – in einem Nihilismus des distanzierenden
Zuschauens auf den Lebensfluss, keineswegs geboren aus grenzenloser Gier und aus
der fortdauernden Form-Schwäche einer seichten Lebenslüge, sondern als Wille zu
einer Kunst, die das Ineinander von lebendigem Augenblick und der
Vergänglichkeit schmerzlich und beglückend in einem darstellt. Beinhaltet David
Mitchells »Cloud Atlas« außer in der Lust am mannigfachen diarischen Fabulieren
(durch seine Figurenhüllen hindurch) noch eine andere Botschaft? Die naive
Stärke eines sich selbst genügenden Gegenwärtigsein, einer reflexiven
Vergegenwärtigung, einer Hoffnung auf eine höhere Genesis oder Ewigkeit
eröffnende Wiedergeburt, das sind Themen, von denen auch das Kino von Zeit zu
Zeit, wie im brachialen Tribalismus und im szientifischen Videoblog von »Avatar«,
in exzessiverer Form zu träumen versucht. Darum geht es, in moderaterer Weise,
auch in »Cloud Atlas«: um die Suche nach dem Lebensfaden und um ein Stück
wohliger Trauerarbeit am zugigen Kamin der Zeit, um das testamentarische
Unterwegssein in der eigenen Psyche und in fremden Seelen, solange die Erde sich
noch für die Menschheit dreht. |
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