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Seitwert


Kulturgeschichte der Scham

Zum Sonderheft 9 des Archivs für Begriffsgeschichte


Von Franz Siepe

Schon am selben Tag, an dem die Streitschrift »Die Panikmacher« von Patrick Bahners erschien, replizierte der vom FAZ-Feuilletonchef mitattackierte Thilo Sarrazin. Kaum überraschend, daß auch das Kopftuch wieder zur Sprache kam: Bahners, so moniert Sarrazin, ignoriere die »Freiheitschancen«, die im schulischen Kopftuchverbot für muslimische Mädchen lägen, und meint dann: »Unterschwellig wird bei Bahners sichtbar, dass ihm die schamhaft und rollengerecht verhüllte islamische Weiblichkeit viel sympathischer ist als das unverhüllte sexuell aufgeladene Chaos abendländischer säkularer Frauenemanzipation. Hier kommt eine heimliche Sehnsucht nach einer verbindlichen Weltordnung jenseits menschlicher Maßstäbe zur Geltung, die das Abendland einfach nicht mehr bieten kann.« (FAZ v. 19.2.2011, S.31)

Sarrazin insinuiert also, wer wie Bahners der Sitte der Verhüllung des weiblichen Haupthaars Verständnis entgegenbringe, tue das insofern illegitimerweise, als das Normengefüge des »Abendlands« sich nicht mehr auf eine transzendente Instanz berufen könne. Nun war einige Monate zuvor (am 29.7.2010) – ebenfalls in der FAZ – unter der Überschrift »Rettet mich vor Alice Schwarzer!« der Leserbrief einer muslimischen Frau abgedruckt worden, die das Kopftuch »freiwillig und aus eigener Überzeugung« trägt: »Ich bin keine unterdrückte oder bemitleidenswerte Frau, der Sie helfen müssen. Zu verlangen, das Tuch abzulegen, können Sie so verstehen, als verlange man von einer Frau, die Bluse aufzuknöpfen.«

Beim besten oder auch bösesten Willen ist nicht zu erkennen, daß die FAZ-Leserin sich »nach einer verbindlichen Weltordnung jenseits menschlicher Maßstäbe« sehnt; vielmehr führt sie das bloße Argument weiblichen Schamgefühls ins Feld. Darüber, ob und inwieweit dieses seinerseits wiederum spezifisch kultureller und/oder religiöser Herkunft ist, läßt sich freilich streiten. Jedenfalls analogisiert die Verfasserin des Leserbriefs den integritätsschützenden Wert der Haarscham mit dem der Brustscham. Und bei dieser handelt es sich um ein allbekanntes Moment der Körper- resp. Sexualscham; um eine transkulturelle Invariante mithin, wie Hans Peter Duerr in seinem fünfbändigen Anti-Norbert-Elias-Opus »Der Mythos vom Zivilisationsprozeß« (bes. Bd. 4) evident machen konnte.

Nichtsdestoweniger befindet sich die FAZ-Leserbriefschreiberin in einer minoritären Position, weshalb sehr fraglich ist, ob ihr schamverteidigendes Argumentum ad hominem (die Entblößung des weiblichen Haupthaars kann als ähnlich entwürdigend empfunden werden wie die Entblößung der weiblichen Brust) hierzulande überhaupt einen Adressaten oder eine Adressatin fand. Offensichtlich wollte sie an einen Common sense appellieren, dessen Existenz jedoch mehr als zweifelhaft sein dürfte, denn: »Eine Frau, deren Scham ihr zur Zierde gereicht, gälte heute als pathologischer Fall«, diagnostiziert der Soziologe Axel T. Paul in seinem Beitrag zum hier zu besprechenden Buch.

Der Sammelband resultiert aus einer interdisziplinären Vortragsreihe zum Thema »Kulturgeschichte der Scham« an der Universität Koblenz des Jahres 2009. Wie die beiden Herausgeber Michaela Bauks und Martin F. Meyer in ihrer Einleitung bemerken, verblüffte Duerrs »Angriff auf Elias« seinerzeit deshalb so sehr, weil er »ausgerechnet aus jenem Milieu kam, dem seine [Elias‘] Thesen den meisten Zuspruch verdankten«.

Dieses »Milieu« der 1970/80er hatte »Über den Prozeß der Zivilisation« (Erstveröffentlichung 1939) in der Tat begeistert aufgenommen. Denn Norbert Elias postulierte die kulturhistorische Bedingtheit und somit die Relativität von Schamstandards und leistete auf diese Weise den Libertinageansprüchen der westlichen postpubertären Protestgeneration willkommene Assistenz.

Axel T. Paul schlägt sich auf Duerrs Seite, indem er Scham als anthropologische Universalie faßt: »Sie ist kein Gefühl, das den Menschen erst anerzogen werden müßte. Man versucht allerdings, sie zu brechen.« Offen läßt der Autor jedoch, wer denn dieses anonyme »Man« sein und von welchem Interesse es geleitet sein könnte. Einer ambitionierten Kulturkritik, die sich eben nicht in einem lauen Lamento über den Sittenverfall im keineswegs nur die »Unterschichten« korrumpierenden Fernsehen erschöpfen will, müßte daran gelegen sein, die wirklichen, leibhaften Profiteure der ubiquitären Schamdestruktion namhaft zu machen. Wie viele Berlusconis gibt es wo? In welchen Sesseln sitzen sie? Wer gibt ihnen die Hand? Wer ißt ihr Brot und singt ihre Lieder?

Tatsächlich: Schon die heidnische Antike kannte die humanisierende, zivilisierende und sozialisierende Potenz der Scham, wie der Koblenzer Philosoph und Kulturwissenschaftler Martin F. Meyer, Mitherausgeber des Sammelbandes und Autor des Aufsatzes »Scham im klassischen griechischen Denken«, herausstellt. So poltert Protagoras in dem nach ihm benannten Dialog Platons, wer unfähig sei, »an Scham und Recht teilzuhaben, den töte man als Pest der Stadt«. Als subjektives Korrelat des objektiven Rechts reicht die »Aidos« erheblich weiter als Körper- und Sexualscham. Sie ist eine von Kognitionen begleitete Emotion mit somatischen Reaktionen (Erröten) auf Normverletzung und Kontrollverlust. Grundsätzlich ist die Scham Gegenstand eines rationalen Urteils: Wir können uns auch »falsch« schämen. Meyer beschließt seinen Text: »Dies bedeutet in erster Linie, sich an diejenigen Normen zu halten, die wir oder die Leute, die wir achten, für bedeutsam halten. Es bedeutet ferner, zu prüfen, ob diese Normen ihrerseits die Achtung verdienen, die wir (oder unsere Freunde) ihnen zubilligen.«

Führte die alttestamentliche Sündenfallgeschichte gemäß Michaela Bauks‘ Exegese (»Nacktheit und Scham in Genesis 2-3«) den Baum der Erkenntnis nicht mit Sexualität bzw. Sexualscham zusammen, rückte dann doch mit dem Kirchenlehrer Augustinus die Geschlechtsscham als Folge der Vertreibung aus dem Paradies ins Zentrum des theologischen Diskurses. Der, so Augustin, »Ungehorsam der Geschlechtsteile« (wer kennte ihn nicht!) ist Strafe für den Ur-Ungehorsam gegen Gott. Vom Würzburger Philosophen Jörn Müller wird dieser Gedanke so auf den Punkt gebracht: »Die Erfahrung der menschlichen Unvollkommenheit, wie sie sich in der Geschlechtsscham bei Augustinus manifestiert, hat sich der Mensch gewissermaßen selbst zuzuschreiben. In diesem Sinne gilt für den postlapsarischen Menschen mehr denn je das Diktum von Jean-Paul Sartre: ‚J’ai honte de ce que je suis‘, oder vor dem Hintergrund der augustinischen Erbsündenlehre präziser formuliert: ‚Ich schäme mich für das, was ich aus mir gemacht habe.‘«

Gleichviel ob die Scham wie in der augustinischen Tradition willens- oder wie bei Thomas von Aquin vernunftwidrige Regungen abwehrt; – die Selbstdistanzierung von der primären Triebabhängigkeit denkt die theologische Anthropologie des Mittelalters »in Kategorien [der] Freiheit von der körperlichen Natur«. Scham zeigt an, daß der Mensch als freies Wesen Verantwortung für das trägt, was er verschuldet.

Als Hüterin von menschlicher Freiheit, Vernunft und Moralität diskutiert Werner Moskopp die Scham bei Kant in einem hochabstrakten Beitrag (»Ein Versuch über die Transzendentalität der Scham) und plädiert am Ende für die Kultivierung des Schamgefühls, die »uns zur Bestätigung der Vernunftbestimmtheit [führt]«.

Wie sinnvoll und schön wäre es gewesen, wenn der Koblenzer evangelische Theologe Jürgen Boomgaarden, der über den Schambegriff bei Sören Kierkegaard referiert, die Gelegenheit beim Schopf gepackt und an der Biographie seines dänischen Gewährsmanns demonstriert hätte, was dessen Hauptcredo war: daß das Theoretisieren aus der Jeweiligkeit der Existenz erwächst. Dem Anspruch der – ohnehin begriffsgeschichtslastigen – Koblenzer Vortragsreihe »Kulturgeschichte der Scham« wäre nicht im mindesten zuwidergehandelt worden, wenn Kierkegaards für den Begriff der Scham einschlägige Schrift »Der Begriff der Angst« im lebensgeschichtlichen Zusammenhang des selig-unseligen Verhältnisses zur Verlobten Regine Olsen verstanden worden wäre. Zwar erklärt Boomgaarden, Kierkegaards änigmatische Wendung: »Mit der Unwissenheit beginnt ein Wissen, dessen erste Bestimmung Unwissenheit ist. Dies ist der Begriff der Scham.«, entfalte erst in der Betrachtung der gesamten Textumgebung ihren Sinn; doch wäre es gut kierkegaardsch gewesen, den textuellen Kontext dann wieder in den individuellen, aus Sexualangst, Schuld und Scham gewebten Leidenskontext zu stellen. So aber fällt der Kierkegaard-Beitrag doch etwas akademisch nüchtern aus, wie auch die ganze Vortragsreihe nicht unbedingt auf Unterhaltsamkeit getrimmt war. (Im Programm des Kolloquiums war übrigens ein Vortrag zum Thema »Nacktheit und Scham in der bildenden Kunst« (von Ludwig Tavernier) angekündigt. Schade, daß er sich in diesem Sammelband nicht findet.)

Der Vollständigkeit halber seien die bisher nicht angesprochenen Aufsätze zumindest schlagwortartig genannt: Rudolf Lüthe begibt sich auf die Spur von »pride« und »humility« bei David Hume. Michael Meyer schreibt über »Scham und Schande in der Frühen Neuzeit Englands« und schließt mit einer Interpretation von Shakespeares »Measure for Measure«. Einen Streifzug durch die französische Philosophie (Rousseau, Montaigne, Sartre) unternimmt Ulrike Bardt. Die in den letzten Jahrzehnten prominent gewordene Dichotomie von Scham- und Schuldkulturen versteht Clemens Albrecht als Diskursderivat des Boasschen ethnologischen Kulturrelativismus. Und Christina-Maria Bammel beleuchtet das Schauspiel (Maske, Person, Rolle) als schamtheoretisches Paradigma.

Von besonderem Gewicht für jedes Nachdenken über das Wesen der Scham ist fraglos ihre phänomenologische Untersuchung im Rahmen der philosophischen Anthropologie Max Schelers. Eduard Zwierlein nimmt Schelers Schrift »Über Scham und Schamgefühl« (1913) in den Blick. Scham ist demnach ein »Humanspezifikum«. Sie reagiert auf den unhintergehbaren Antagonismus von Leben und Geist, Animalität und Personalität. In der Scham »wird sichtbar, daß die Einheit von leiblicher Leidenschaft und Hingabe an den geistigen Wert der Person utopisch ist. In ihr wird sichtbar und objektiviert, daß die beiden Hälften sich nicht in einem harmonischen Gleichgewicht befinden. Vielmehr gleichen sie einem ständig gefährdeten Gleichgewicht, ja, eher noch einem gänzlich unmöglichem Gleichgewicht, einem von Auseinanderbruch stets bedrohten und betroffenen Kampf. Die Scham ist das Innewerden dieser Bruchstellen und Wunden unserer Existenz, die gefühlte Gebrochenheit, Verwundetheit und Fragilität des Selbst.«

Scheler drückte es selbst einmal ganz einfach aus: »Das Schamgefühl ist ein Hinweis darauf, daß unser Sein bestimmt ist für eine höhere Welt als jene der biologischen Ziele.«
 

Michaela Bauks / Martin F. Meyer (Hg.)
Zur Kulturgeschichte der Scham
Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft 9
Felix Meiner Verlag, Hamburg 2011
232 S., 98,00 EUR
ISBN 978-3-7873-1979-4


 


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