Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 

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In der Gegend meiner selbst

Eine virtuelle Ausstellung von Jürgen Nielsen-Sikora

 »Leben heißt aufnehmen. Was man Inspiration nennt, sind nur jene besonderen Momente, in denen die menschliche Wachswalze die passende Nadel trifft.« (Georges Perros)

»Bilder aus der Vergangenheit, die im Kopf abstürzen
wie Flugzeuge aus heiterem Himmel.
«
(Peter Handke, Das Gewicht der Welt)

 
Prolog. Angst, die Kunst sei Zeuge der eigenen Unvollkommenheit. Angst, nicht weit genug in sich selbst eindringen, in den eigenen, schweren Körper hineinblicken zu können, in die Schmerzen, das Leid, die Lust.
In seinen „Noten an den Rand des Lebens“ schrieb Novalis einst, das größte Geheimnis sei der Mensch sich selbst; Literatur sei der Versuch, dieses Geheimnis zu lüften. Aber lässt sich das Geheimnis jemals ganz lüften? Bleibt nicht immer ein Rest, der nicht aufgeht? Ein blinder Fleck in jedem Wort? Welche Literatur taugt schon zur Anthropologie? Welchem Wesen wollte sie denn auf den Grund gehen? Und welches Bild eignet sich für eine Therapie?
Ich würde so gern all meine Zweifel in ein künstliches Koma versetzen …

I Collagen

1 Dreamland. Welcome to my world, Öl/Lwd. 90x120cm (2018)



Ende 2017: James Rosenquist, kürzlich verstorben, ist mit einer Werkschau im Kölner Museum Ludwig zu sehen: „Eintauchen ins Bild“ – collagenhafte, an gewaltige, zerrissene Plakate erinnernde Wandgemälde vermitteln einmal mehr das Interesse des Amerikaners an gesellschaftlichen und politischen Ereignissen seiner Zeit. Szenen überlappen sich, erzählen Geschichten neu. Bilder von Hochtechnologiewaffen kombiniert mit jenen des amerikanischen Alltagskonsums umschließen den Betrachter und ziehen ihn ins Bild. Die Sogwirkung hält auch nach Verlassen der Ausstellungsräume an.

Ich bin kein großer Freund von Museen, auch nicht der Pop-Art. Aber wir konnten unsere Kinder überzeugen, mitzukommen. Das muss als Argument genügen. Der eigens eingerichtete Raum, in dem alle eigene Collagen aus Zeitungsschnipseln herstellen können, stößt auf großen Zuspruch. Wieder zuhause kramen wir in alten Kunstzeitschriften und Nachrichten-Magazinen, um die begonnene Arbeit fortzusetzen. Das Ergebnis ist diese Collage: zufällige Fundstücke, die mein Unterbewusstsein triggern, Szenen der Zeit, neu kombiniert zu einer eigenen Geschichte. Die Satzfetzen suche ich hingegen sehr behutsam aus und überlege, welche Phrasen zu den Bildern passen, besser: mit den Bildern einen Dialog führen könnten.

In den kommenden Wochen setze ich mich daran, die Szene auf Leinwand zu übertragen und gebe ihr den Titel: „Dreamland. Welcome to my world“, wie es in einzelnen Schlagzeilen, die ich verwendet habe, zu lesen ist.

Warum ziehen mich gerade diese Szenen in den Bann? Straßenschlachten, Merkel, Petry, der Papst? Ein Fisch, Buddha, Losungen des Ersten Weltkriegs (Das Unterbewusstsein im Kriege)? Gleich daneben Stuckrad-Barre, Fußballstadien, Verschwörungsmeinungen …

2 Some artist never comes back, Öl/Lwd. 60x80cm (2020)

 Frühjahr 2020: Am Wegesrand ein Stapel alter ART-Ausgaben, von denen ich so viele ich tragen kann mit nach Hause nehme. Einige Zeitschriften stammen aus den 80er und 90er Jahren. Damals begeisterte ich mich für Keith Haring. In einer Strophe des Simon&Garfunkel-Songs „Sound of silence“ heißt es doch: „The words of the prophet are written on the subway walls …“ Ein Lied der 60er Jahre, das ich aber immer irgendwie auf Haring bezog. Nun stoße ich in den ART-Ausgaben abermals auf viele seiner Graffiti und subway drawings. Sie kommunizieren mit Bildern von Andy Warhol, Cindy Sherman und Plakaten der letzten Documenta.

Jetzt, mitten im April-Lockdown, liegt die Kunst am Boden. Keine Ausstellung, keine Konzerte. Das kulturelle Leben liegt brach und niemand aus Politik und Wirtschaft kümmert sich ernsthaft. Doch Kunst ist die Seele der Gesellschaft. Ohne sie sind wir wie Zombies.

Ich schreibe den Titel um: „Some artist never comes back“. Denn diese Zeit werden viele Künstler nicht überstehen. Ist uns das wirklich gleichgültig? Zählt nur noch das, was klare, eindeutige Wahrheiten und exakte Zahlen hervorbringt? Märkte, Statistiken, Maßzahlen, Kaskaden von Gleichungen und Berechnungen, die Kultur und Hermeneutik in ein Sudoku-Raster pressen? Am Ende steht dann die heilige Tortengrafik, da die Sache in irgendeiner Form kartiert, quantifizier- und bezifferbar sein muss. „Zur Hölle …“

3 Wer sind wir?, Öl/Lwd. 70x100cm (2019)

Irgendwann zur Jahresmitte 2019. Eine Ai Weiwei-Ausstellung in Düsseldorf. Im K20 werden zwei raumfüllende Arbeiten gezeigt: „Sunflower Seeds“ und „Straight“.

Rund 60 Millionen aus Porzellan gefertigte Sonnenblumenkerne liegen auf dem Boden angehäuft auf rund 650 qm2. Sie spielen auf Chinas Propaganda und die Unterdrückung individueller Freiheit an: Mao wollte einst, dass sich das chinesische Volk am Großen Vorsitzenden ausrichte, wie die Sonnenblume an der Sonne.

Die andere monumentale Arbeit erinnert an das Erdbeben in Sichuan im Jahre 2008, bei dem 70000 Menschen, darunter 5000 Schulkinder, starben. Ai Weiwei hat über 160 Tonnen Stahl, der aus dem Schutt geborgen wurde, von Betonresten befreien und geradebiegen lassen. Die Stahlträger sind in Transportkisten zu einer Landschaft arrangiert und korrespondieren formal mit der Tapete, auf der die Namen der gut 5000 verstorbenen Kinder zu lesen sind.

Einmal mehr stellt sich mir die Frage, wer wir eigentlich sind. Als ich, wieder zu Hause, erneut in alten Zeitschriften blättere, stoße ich auf die bemerkenswerte Aussage einer jungen Frau: „Manchmal träume ich davon, nirgends Mitglied, Versicherte, Kundin zu sein. Ich müsste keine Beiträge zahlen und Ordner voll Unterlagen heften, keine Papierstapel sortieren. Ohne Papier wäre ich ein neuer Mensch.“

Bilder schießen mir nun unaufhaltsam durch den Kopf. Ist das noch ein einzelner Mensch, der all diese Bilder zusammendenkt? Cohen, Yücel, die bezaubernde Diane Kruger in Reizwäsche, Ai Weiwei. Und der Jet von Donald Trump rast selbstmörderisch in einen weit aufgerissenen Mund. Die Katastrophe als Sex-Event. Wer bin ich bloß? Für immer Sohn, schwach, permanent im Rückwärtsgang …

4 Das Chaos im Kopf, Öl/Lwd. 80x120cm (2019)

Im Nirgendwo des Jahres 2019: Immer Ich Ich Ich, von Schlagworten taub, abgestumpft, voller Neid und Selbsthass, apokalyptisch gestimmt und auf der verzweifelten Suche nach irgendeiner Identität. All diese Wüteriche, von denen Adorno als den Bandenführern ihrer selbst sprach, und die ihrem Unbewussten den Befehl erteilen, dreinzuschlagen. Aus ihren Augen leuchtet „die Genugtuung ... für die vielen zu sprechen“, die sie selber sind.

Die neuen Medien operieren wie die Volksversammlung im alten Athen. Doch statt auf eine Tonscherbe schreiben alle in die Kommentarspalten von Facebook oder twittern die Namen derer, die sie verbannen möchten, in die Welt hinaus. Während in diesem digitalen Scherbengericht einige heute schon in der Welt von morgen leben, haben sich andere erneut in die dunkelsten Ecken einer Welt von vorgestern zurückgezogen.

Traumbild: Permanent hämmern diese Stimmen im Kopf; Stimmen, „ins Grün der Wasserfläche geritzt“, Wortgeröll, das sich dem Echo neigende Ohr. Ich will mich in mich selbst vergraben wie van Goghs „Alter Mann in Trauer“.

Ein Bild des Wahnsinns, für mich aber auch eines der Hoffnung, weil sich die Selbstzweifel, die aufkommen, in eine Ordnung bringen lassen. Ich kann sie bändigen, ins Bild eintauchen

Im Zentrum: Baselitz vor einer roten Frauensilhouette. Er fasst sich an den Kopf, und ich lege ihm meine Frage in den Mund: „Was ist nur mit mir los?“

5 Aufbruch ins Ungewisse, Öl/Lwd. 60x120cm (2018/9)

Herbst 2018. Zu Besuch bei der Buchhändlerin. Ein wildes Durcheinander von Bildbänden, Gemälde überall an der Wand (die Mutter war Malerin), ein wenig verwinkelt ist die Stube, gleich unter dem Dach mit einem kleinen Balkon zum Hinterhof. Der Aufstieg führt über knarzende Treppenstufen.

Der Mann der Buchhändlerin braut in der Küche etwas zusammen, mit großer Leidenschaft, wortgewaltig, die Buchstaben wirbeln hinter dem Schnauzbart durch den Mund wie Lottokugeln während der Samstagziehung. Dann setzt er Kaffee auf. Im dunklen Grund der Tasse lauern Geschichten aus 1001 Nacht.

Ich nehme einige Bände zum Jugendstil mit. Erneut entsteht aus den Bildern, die ich darin finde, eine eigene Szene, die um die Lebensphasen kreist. Erinnerungen an die eigene Jugend werden plötzlich wach. Blicke ich heute mit Abstand auf diese Jahre zurück, so sind viele Sorgen von damals kaum nachvollziehbar.

Die Generation, die (wie meine eigenen Kinder) den Kalten Krieg nicht mehr aus eigener Erinnerung kennt und den Fall der Mauer nur aus Erzählungen, TV-Dokumentationen und Schulbüchern, wird mit der damals verspürten „Angst vor Deutschland“, noch mit den „vagen Befürchtungen“ oder der „Traurigkeit“ Patrick Süskinds nichts anfangen können. Oder kehrt diese Angst gerade zurück?

Die Unsicherheiten des Jahres 1990, die eigenen und die der Gesellschaft, gehören doch der Vergangenheit an? Ich erinnere mich wieder an Süskinds gileadischen Phantomschmerz, den der Abriss der Mauer bei ihm hinterlassen hat: „… wenn ich daran denke, dass es den faden, kleinen, ungeliebten, praktischen Staat Bundesrepublik Deutschland, in dem ich groß geworden bin, künftig nicht mehr geben wird ...“ – Dieser Tage erneut ein Aufbruch ins Ungewisse. Kleine Teufel im Kopf, von Akkordeon-Stücken begleitet …

6 Hungry, Öl/Lwd. 60x80cm (2018)

Zugegeben: Ein eigenartiges Bild, entstanden Ende 2018 – Eastwood, Dylan, Rambo, Penck und wieder Haring – unter Verwendung einer alten Zeichnung von mir aus den 1990er Jahren und einer Komposition von Miro, dessen Werke ich überhaupt nicht mag, weil sie so plakativ sind, die aber, wie ich finde, als Hintergrundszenen eine gute Wirkung entfalten. Zudem ein Zitat aus der Art brut. Und der Obdachlose mit dem Hinweis, dass er Hunger habe – einzige Schriftsprache in dieser Collage.

Mir fällt es schwer, Kontext und Intention im Nachgang zu rekonstruieren. Möglich, dass der Entwurf im Rausch entstanden ist. Den Hintergrund bildeten wohl universitäre Diskurse über Heldentum und Vorbilder, die ich mit einem Kollegen geführt habe.

Der Held symbolisierte ja seit alters her ein Ideal und galt als Personifikation des Tugendhaften. In der Antike diente er, wie etwa in der Ilias und der Odyssee Homers dargestellt, als Vorbild der moralisch legitimierten Handlungsweise des Menschen. Autorisiert wurde er durch den Glauben an eine göttliche Ordnung der Welt, aus der eine Ordnung der (politischen) Gemeinschaft abgeleitet war. Der Held entsprang der kulturellen Imaginationskraft dieser Gemeinschaft und war Symbolfigur antiker Tugenden wie der Tapferkeit oder der Gerechtigkeit.

Die Legitimationskraft dieser Ordnung ist längst verloren. An ihre Stelle sind im Mittelalter zunächst die Ritter, in der Moderne dann der militante Heroismus der Frontsoldaten, nach 1945 schließlich zahlreiche, stark divergierende Quellen der Autorisierung getreten, die die Symbolfigur des Helden transformiert und zur Projektionsfläche moralisch getränkter und affektiv aufgeladener Diskurse gemacht haben, auf der heute soziale Konflikte, kulturelle Spannungen und politische Überzeugungen ausgetragen und medial inszeniert werden …

7 Zerglühtes Land, Öl/Lwd. 110x90cm (2019)

Juni 2019, Schauspielhaus Köln. Im Depot 2 zeigt Stephan Bachmann Wajdi Mouawads Stück „Vögel“ mit der großartigen Lola Klamroth in der Hauptrolle. Thema des Stücks ist die Geschichte eines deutschen Juden aus Berlin, Student der Genetik, der eine Kommilitonin, Amerikanerin arabischer Herkunft und Doktorandin, mit Wahrscheinlichkeitsrechnungen über das Leben und die Liebe erobert. Der Vater ist gegen die Beziehung. Die jungen Studenten entfliehen daraufhin der Familie, doch während einer Forschungsreise nach Israel wird der junge Mann bei einem Terroranschlag schwer verletzt. Im Krankenhaus kehren die alten Konflikte zurück: Fragen nach religiöser, kultureller, nationaler Zugehörigkeit, die wie ein Schwarm Unglücksvögel über Familie und Gesellschaft kreisen.

Der Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat vor einiger Zeit ein viel diskutiertes Buch mit dem Titel „Die Vereindeutigung der Welt“ vorgelegt. Darin beklagt er den Verlust von Vielfalt und die Zurückdrängung des Unangepassten. Glattgeschliffene Diskurse und sinnlose Debatten, getragen vom Unwillen, Vielfalt in all ihren Erscheinungsformen zu ertragen, sind die Folge. Die Welt sei zwar, so Bauer, voll von Ambiguität, die gesellschaftlichen Phänomene deutungsoffen, doch die Menschen seien intolerant gegenüber dieser Offenheit und Vagheit. Dinge müssen stattdessen eindeutig, messbar, unterscheidbar und klar sein: Kontrolle und Reglementierung statt Phantasie, Rassismus und Talkshow statt humaner Liberalität. Widersprüchlichkeiten halten wir kaum mehr aus, Zweideutigkeiten sind uns suspekt, Zögerlichkeit wird als Charakterschwäche interpretiert. Rigorismus und Fundamentalismus, Wahrheitsobsession und Reinheitsstreben sind für Bauer die Wesenszüge dieser neuartigen Intoleranz.

Auf den Ruinen argumentativer Diskurse gedeihen heute Verschwörungsglauben, Hasskommentare, Lügen, Fake News, Propaganda, Pseudonachrichten, Desinformation und Manipulation. Eine fehlende Wertschätzung und die Abwertung anderer Standpunkt greifen mehr und mehr um sich, eine erschreckende Diskursunfähigkeit in verschiedenen Selbstbestätigungsmilieus macht sich breit.

8 Erlöse uns von dem Bösen, Öl/Lwd. 80x120cm (2019)

Dezember 2019. Ich steige sehr früh aus dem Bett, weil ich keine Spucke mehr im Mund habe und meine Nase komplett verstopft ist, auf dem Ohr ein Rauschen als käme ich gerade vom Tiefseetauchen. Es ist Viertel nach fünf. Ich mache Kaffee, blättere in der Zeitung und gucke Fatih Akins „Honka“. Purer Zufall, weil der Film aufgrund unerklärlicher Algorithmen im Streaming-Portal als „interessant“ aufploppt und ich doch erst gestern Fitz Honka auf Platz 7 meines persönlichen Serienkiller-Rankings gesetzt habe. Der Hauptdarsteller ist der absolute Wahnsinn, der Film allerdings etwas langatmig.

Dann überkommt mich plötzlich die wohl völlig unbegründete Angst, ich könnte (aus welchen Gründen auch immer) genau so einer werden – so versoffen, asozial, kriminell, ein Irrer, vor dem man sich fürchten muss, unberechenbar, ekelhaft, abstoßend. Was hat den Honka dazu gemacht? Wieviel Honka steckt in mir selbst? Erlöse mich von dem Bösen, denn ich tauge nicht zu einer Heldin wie Carola Rackete …

II Portraits

9 Selbst I/17, Öl/Lwd. 60x40cm (2017)

Frühjahr 2017: In Duisburg, auf dem Gelände der Zeche Zollverein, zwischen

Kokereien, Büroräumen, Werkflächen, Werkstatt-, Präsentations- und Atelierräumen mit großen Fenstern, meterhohen Decken, einer Fliesenmanufaktur, der Kunstschule und einem Trockenseifehersteller steht da dieser Ohrensessel und lässt mich nicht mehr los. Ich werde zum Astronauten meiner eigenen Gedanken und entschwebe dieser Welt.

 10 „S.“, Öl/Lwd. 80x120cm (2020)

Korsika 2018, der schönste Fleck Europas. Wir fahren nach Propriano und wollen dann weiter mit dem Boot nach Campomoro, um Delfine zu beobachten. Doch das Wetter macht uns einen Strich durch die Rechnung. Die Tour kann erst am nächsten Tag stattfinden, jedoch lassen sich die Delfine an diesem Tag nicht blicken. Auf dem Boot entsteht ein Schnappschuss von S., braungebrannt und unrasiert, recht verwegen. Knapp zwei Jahre später fällt mir das Foto wieder in die Hände. Es gefällt mir so gut, dass ich es als Vorlage für ein neues Bild nehme und auf eine große Leinwand banne. Erinnerungen an den Boots-Trip werden wieder wach …

11 Drei Frauen am Strand, Öl/Lwd. 40x60cm (2020)

 Holland, die Tage am Strand, wenn die Sonne sich mühselig durch den zugeknöpften Himmel kämpft und alles in dieser Dunstglocke hängt. Die Zeit wird zäh, die Wahrnehmung schaltet in den Dämmerschlaf, Stimmen und Wellengeräusche dringen nur verzerrt herüber, als säße man unter einer Käseglocke. Die Luft ist schwer, doch irgendwie gelingt es, noch ein Erinnerungsfoto inmitten all des Krams, der mitgeschleppt wurde, zu schießen. Ein Bild der Erinnerung an die Zeit, in der das Reisen noch unbeschwert war, jetzt, inmitten des Corona-Sommers.

12 Selbstbildnis als Kind, Öl/Lwd. 40x30cm (2018)

 Der Einjährige mit dem roten Ball und dem etwas verwirrten Blick, in eine Stofflatzhose gesteckt, den Blick ins Irgendwo gerichtet. Ein Termin beim Fotografen im Jahr 1974. Die Kladde mit den alten Bildern steckt in einer Schreibtischschublade, die ich im Sommer 2018 nach Jahren wieder öffne.

Die leichte Schatten werfenden Händchen faszinieren mich. Sie umgreifen das Spielzeug als wäre hier die ganze Welt festzuhalten. Mitten auf der Kugel spiegelt sich das Licht des Fotografen. Was geht wohl im Kopf dieses Kleinen vor?

13 J., Öl/Lwd. 40x60cm (2018)

Ein Bild, das sich fast von selbst gemalt hat. J., irgendwo am Strand in Holland. Ein beinahe impressionistischer Duktus, ein Gemälde wie aus einer anderen Zeit. Eines meiner Lieblingsbilder – und das Portrait eines meiner Lieblingsmenschen.

14 Fortuna Ehrenfeld, Öl/Lwd. 90x110 cm (2019)

 Im Jahr 2016 habe ich das erste Mal ein Stück von Fortuna Ehrenfeld gehört (als Ehrenfelder kommt man ohnehin nicht an der Band vorbei). Seitdem hat mich die Musik von Martin Bechler nicht mehr losgelassen. „Tetris mit Worten“, Poesie pur. Und eine phantastische Live-Band. Acht Konzerte habe ich bislang gesehen. Und wäre dieses verdammte Virus nicht dazwischengekommen, wären es noch ein paar mehr. Ich vermisse die Performance und die Leute, die diese Art Musik genauso mögen wie ich.

Von der Homepage der Band stibitze ich mir ein Gruppenfoto, hier noch mit dem alten Schlagzeuger Paul Weißert, und arrangiere das Setting neu. Jenny Thiele ganz cool mit Sonnenbrille. Martins Pyjama treibt mich allerdings in den Wahnsinn. Zu viele Details, mal wieder.

Einer meiner Lieblingssongs heißt „Salzblusenkreuz“:

„… Die Welt steht still und darf nicht lügen
Gibt Dinge, die vergisst man nie
Erst read access dann memory
Auf ewigen Parabelflügen …“

Weitere Infos unter: http://www.ghvc.de/?id=341

15 Mädchen am Strand, Öl/Lwd. 40x40cm (2019)

Sonne, Strand, ein Eis in der Hand: Zustand vollkommenen Glücks, versunken im Hier und Jetzt wie die beiden dreijährigen Zwillinge auf diesem Bild. Schon der „Braune Bär“ (vorne im Bild) löst unweigerlich Kindheitserinnerungen wach …

16 Navid Kermani, Öl/Lwd. 40x60 cm (2019)

Zu Navid Kermani will ich hier gar nicht viel sagen. Das Bild ist die Adaption eines Fotos von seiner Homepage, das ich neu kontextualisiert habe. Einer meiner Lieblingsschriftsteller – und ein angenehmer Zeitgenosse dazu. Weiteres hierzu unter:

https://www.glanzundelend.de/wettbewerb/kermani.htm
http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/k/navid_kermani.htm
http://www.glanzundelend.de/Red15/k15/navid-kermani-friedenspreis-nielsen-sikora.htm
https://www.glanzundelend.de/Red17/k17/navid-kermani-entlang-den-graeben-nielsen-sikora.htm
http://www.glanzundelend.de/Red15/k15/navid-kermani-sozusagen-paris.htm
https://www.glanzundelend.de/Red20/j-l-20/navid_kermani_morgen_ist_da.htm
https://www.navidkermani.de

17 Gipfeltreffen, Öl/Lwd. 80x120cm (2019), nach einer Vorlage von Jesco Denzel

Ein Foto von Jesco Denzel dient als Vorlage für dieses Bild. Es geht mir leicht von der Hand, weil die Anzugträger durch große, dunkle Farbflächen und der trumpfarbene Hintergrund das Setting dominieren. Faltenwürfe mag ich ohnehin, Merkels Anzug, der herausstrahlt, zu malen, hat zudem großen Spaß gemacht. Nur der Tisch mit dem Glas und seinen Spiegelungen ist eine Herausforderung.

Denzels Foto ist, kaum verwunderlich, rasch zur Bildikone geworden.

Der Deutschlandfunk schrieb hierzu: „Es ist ein Bild, das die Mächtigen dieser Welt zeigt: ein Foto, das während des G7-Gipfels entstanden ist. Darauf sei nicht erkennbar, wer Gewinner oder Verlierer sei, dennoch werde es sowohl von Trump-Fans als auch Trump-Gegnern geteilt, sagte der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich im Dlf. Und genau das mache es so interessant.“

Das Original findet sich unter: https://www.jescodenzel.com/de

18 You´ll never walk alone. Die Mannschaft, Öl/Lwd., 60x80 cm (2019)

 Am Mittwochabend stehe ich in der Regel auf einem der letzten verbliebenen Ascheplätze der Stadt an der viel befahrenen Inneren Kanalstraße, wo ich mit ein paar Verrückten – Fans des SV Werder, der Arminia aus Bielefeld, Anhängern von Hajduk Split und Bayer Leverkusen – Woche für Woche abwechselnd Staub und Schlamm fresse. Am Freitagabend dann auf Platz 7 der „Soccer-World“ im Kölner Westen, ein mit Granulat aus geschredderten Autoreifen durchsetzter, 512 qm2 großer, durch Banden und Netze umzäunter Kunstrasen. Ohne die ebenso fußballverrückten Jungs wäre das Leben nur halb so schön. Momentan muss das Spiel leider ruhen, aber es geht irgendwann weiter, immer weiter!

III Abstraktionen

19 Abschied von den Eltern, Öl/Lwd. 60x80cm (2018)

Spät habe ich zu Peter Weiss gefunden, dafür umso intensiver. Sein 1960/1 geschriebener kleiner Roman „Abschied von den Eltern“ ist eines der atemberaubendsten Texte, die ich kenne. Ich habe in dieses Bild den letzten Satz des Romans eingearbeitet. Er lautet: „Die Räder der Eisenbahn dröhnten unter mir mit unaufhörlichen Kesselschlägen, und die Gewalten des Vorwärtsfliegens schrien und sangen in beschwörerischem Chor. Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben.“ Auch das Wort „Abschied“ ist gut zu lesen. Zwei weiße Hände symbolisieren die von Weiss so eindringlich beschriebene Loslösung.

20 Das Liebesleben der Schmetterlinge, Öl/Lwd. 50x40cm (2019)

Ursprünglich eine kleine Leinwand, die ich als Palette genutzt habe. Über die Zeit haben sich so viele Farbschichten angesammelt, dass daraus fast wie von selbst ein eigenes Bild entstand. Ich musste gar nicht mehr so viel nachhelfen und war erstaunt, wie sich die Dinge manchmal von selbst ergeben.

21 Abstraktes Bild (zusammen mit Matti Nielsen), Öl/Lwd. 80x60cm (2020)

Mein Sohn kann, gemessen an seinem Alter, viel besser mit Farben und Stiften umgehen als ich. Sein Wunsch, mit mir gemeinsam an einem Bild zu arbeiten, habe ich deshalb als Ehre empfunden. Das Ergebnis ist dieses abstrakte, bislang namenlose Werk, das ebenfalls im Corona-Frühjahr 2020 entstanden ist, als alle schauen mussten, wie sie die Tage abseits des Home-Office zuhause am besten gestalten. Danke, Matti!

22 Das Licht, in dem Bill Gates Corona erfand, Öl/Lwd. 80x100cm (2020)

9. Mai 2020: Landesweite Demonstrationen aufgrund der weiterhin gültigen Kontaktbeschränkungen. Unter den Demonstranten vor allem Linksradikale, Rechtsradikale, Wutbürger, Esoteriker, Impfgegner und ein paar C-Promis. Sie eint der Irrglaube, Bill Gates habe irgendetwas mit dem Virus zu tun. Eine Ansammlung von Verschwörungsgläubigen, die sich nicht weiter um die Gesundheit anderer scheren. Sie alle sind Künstler der Verdrängung, die das Tabu, dass der Tod nicht öffentlich erscheinen darf, bis aufs Äußerste verteidigen. Zu Hunderten stehen sie beisammen und fordern Unbeteiligte auf, ihre Schutzmasken abzulegen, bis einige der Demonstranten, darunter Attila Hildmann, von der Polizei abgeführt werden.

Es ist ja verrückt: Früher hießen Epidemien Pest, Cholera oder Spanische Grippe. Heute SARS-COV2. Ist es da ein Wunder, dass Elon Musk seinen sechsten Sohn X Æ A-12 nennen will? Man spricht das wohl Ex-Äisch, Äi-Twelve aus. Genehmigt wird es wohl nicht, aber allein der Wille verrät ja viel über den Vater – und über die Zeit, in der wir leben.

Ich gehe in den Keller und krame eine alte Leinwand hervor, auf die ich in den 1990er Jahren ein Bild gezeichnet hatte. In diesen Tagen habe ich wieder etwas mehr Zeit, zu malen. Ich beginne, das alte Werk mit Ölfarben zu übermalen, ritze anschließend bereits bestehende Flächen wieder frei. Es dauert ein paar Tage, bis „Das Licht, in dem Bill Gates Corona erfand“ fertig ist.

23 Step by step (zusammen mit Matti Nielsen), Öl/Lwd. 50x75 cm (2020)

Nochmals eine Collage, in Auflösung begriffen, zur Abstraktion neigend. Der Entwurf zu diesem Bild stammt ebenfalls aus der Ideenkiste meines Sohnes, der sich im Sommerurlaub 2020, in den wenigen Wochen, in denen Reisen möglich war, in unserem Feriendomizil in Aarhus an eine Collage aus Zeitungsschnipseln gesetzt hat, bestaunt von den beiden Hauskatzen, die wir zu versorgen hatten. Ich habe diese Collage immer als eine Art Selbstportrait verstanden, da sich so viele Hinweise auf seine eigene Person in dem Bild wiederfinden. Mein Versprechen, die Collage 1:1 in ein Ölbild zu übertragen scheiterte an den vielen Details, die ich mit Pinsel und Farbe einfach nicht wiedergeben konnte. Es ist nun viel abstrakter als das Original. Aber der Urheber ist gnädig mit mir und findet es trotzdem gut.

IV Landschaft

24 Tanke, Öl/Lwd. 40x80cm (2019)

Blaulackierte Taubenkacke auf dem Fenstersims, der Himmel wie durch einen Fleischwolf gedreht. Und der Mond? Ein hartgekochtes Ei. Ich gehe zur Tanke und kaufe Stoff.

Alles funkelt und schillert und glänzt. Alles blüht und ist bunt und wieder bunt. Aber wer weiß schon zu sagen, ob die Welt nicht exakt so aussieht?

25 Altes 4711-Haus, 60x60cm (2017)

Ein Ausschnitt des alten Mülhens-Baus (4711-Haus) mit Vorhangfassaden in den Firmenfarben gold und türkisblau, daneben eine Häuserzeile vor dem offenen Horizont, Venloer Straße in Köln. Im Hintergrund der Colonius. Heimatgefühl, auch wenn das nicht die schönste Ecke Ehrenfelds ist. Alles ein bisschen dreckig hier, heruntergekommen, überfüllt. Aber schön, dass es das Nicht-ganz-Perfekte auch gibt.

V Gastbeitrag

26 Sie kommen (Acryl-Gemälde von Matti Nielsen), 60x80cm (2020)

Ein eigenes Bild des Nachwuchskünstlers Matti darf in dieser virtuellen Ausstellung natürlich nicht fehlen. Zweifellos hat er mehr Talent als ich. Eines meiner Favoriten ist diese Gruppe gespenstisch aussehender Personen. Ich habe dem Bild den Titel „Sie kommen“ gegeben (der Künstler wollte sich hierzu nicht äußern): Ein bisschen Halloween, ein bisschen Walking Dead. Was einem 13-Jährigen vermutlich so durch den Kopf geht im Lockdown …

Epilog. Ich durchwühle meine Hosentaschen: Kaugummis mit Zitronengeschmack, abgelaufene Bahntickets, flüchtig benutzte Taschentücher mit getrocknetem Rotz. Wie ich die Dinge so in der Hand hin und her wiege, wandere ich in Gedanken zugleich durch die Zelte meiner Kindheit, die Schubladen der Erinnerung, durch all die ungelesenen Bibliotheken und die Gassen, die längst zu Schnellstraßen herangewachsen sind. Blind wie ein Maulwurf grabe ich mich durch den Tag. Mein Körper zittert. Geht es nicht immer darum, zitternd das zu suchen, was die offensichtliche Grundlage umstürzt?

Online seit 12.12.20
 


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