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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik

 










»Mit diesem Buch will ich die Welt erklären...«

In seinem imposanten Panorama
welthistorischer Herrschaftsdiskurse
analysiert Ulrich Menzel
»Die Ordnung der Welt«.

Von Jürgen Nielsen-Sikora
 

Aletheia, idea matheseos universae, Gottesteilchen oder einfach nur die Zahl 42: Seit Jahrhunderten sind Physiker, Philosophen und britische Schriftsteller auf der Suche nach der Weltformel. Mal wissenschaftlich bemüht, mal mit einem Augenzwinkern. In die lange Liste der Weltdeuter hat sich nun auch der Braunschweiger Sozialwissenschaftler Ulrich Menzel eingetragen. Sein über 1200 Seiten langer Diskurs über die Ordnung der Welt hebt an mit dem bescheidenen Satz: »Mit diesem Buch will ich die Welt erklären...«

Was seinen Vorgängern (die Vorsokratiker, Erhard Weigel, Peter Higgs oder Douglas Adams) noch verwehrt blieb, nämlich zu zeigen, was die Welt im Innersten zusammenhält, geht Menzel nun aus historischer Perspektive mit Blick auf die Hierarchie der Staatenwelt an. Ist das verwegen? Schon möglich, aber auf Grund des enzyklopädischen Blicks auf eintausend Jahre internationale Beziehungen allemal lesenswert. Man darf sich vom ersten Satz nur nicht gleich abschrecken lassen.

Die Idee des Buches

»Die Welt ... wird seit gut 1000 Jahren von aufeinander folgenden großen Mächten (Ranke) imperialen oder hegemonialen Zuschnitts regiert«, so die Eingangsthese, die im Folgenden in ein imposantes Panorama welthistorischer Herrschaftsdiskurse eingerückt wird. Den Ausgangspunkt der Modernisierung, die Menzel nachzeichnet, erblickt er vor allem in den Hafenstädten mit kosmopolitischer Bevölkerung. Von hier aus werden Fernhandel, internationale Dienstleistungen und militärische Absicherung, die Felder der Ordnung der Welt, gesteuert.

Menzel fragt sich, welche Umstände dazu geführt haben, dass Staaten zu großen Weltmächten aufstiegen und, so das chinesische Losungswort, ein »Mandat des Himmels« erhielten. Ihn interessieren aber ebenso die Ursachen des Niedergangs sowie die Frage, wie es zu einem Wechsel in den Machtverhältnissen kam. So entfaltet sich vor den Augen des Lesers eine große komparative Meistererzählung, gespickt mit zahlreichen Fallstudien.

Einen zentralen Aspekt bilden in diesem Zusammenhang die Fragen, ob Staaten und Herrschaftsgebiete auf imperiale oder hegemoniale Weise die Welt regiert haben und ob die jeweiligen Herrscher eher eine militärische oder doch mehr eine wirtschaftliche Macht verkörperten. Das Imperium versteht Menzel als eine Form der internationalen Herrschaft, in der eine klare Ordnung, eine klar definierte Mitgliedschaft und eindeutige Grenzen bestehen. Ganz im Gegensatz zur Hegemonialmacht, die einen freien Strom von Waren, Finanzen, Menschen, Nachrichten und Ideen nicht nur kontrolliert, sondern diese Freiheit ganz bewusst auch allererst ermöglicht. Die Grenze zwischen beiden Herrschaftsformen ist gleichwohl fließend und nicht immer eindeutig zu bestimmen. So entwickelt sich die Geschichte des Globus nicht zuletzt zu einer Suche nach dem politischen Willen der verschiedenen Mächte.

Menzels Blick konzentriert sich hierbei auf die Transport- und Kommunikationstechnologien, auf verschiedene Räume, in denen sich Macht entfaltet hat, und auf die politischen Umstände, die eine Machtausdehnung forciert haben. Welchen Zuschnitt hatte das Imperium, welchen der Hegemon? War es eine Landmacht, eine Seemacht, eine Luftmacht, oder später eher eine Weltraum- oder Internetmacht? Menzel beantwortet diese Fragen durch eine Rekonstruktion der internationalen Beziehungen seit dem chinesischen Kaiserreich zur Zeit der Song-Dynastie (10.-13- Jahrhundert). Der Blick auf die USA der Gegenwart und Zukunft beschließt die voluminöse Darstellung eines noch nicht ganz beendeten Jahrtausends. Das Buch ist nicht zuletzt gedacht als Antwort auf Schillers berühmte Frage: »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?«

Die Fallstudien

Menzels Universalgeschichte nimmt seinen Ausgang in der vormongolischen Zeit, kurz vor der Jahrtausendwende. Um 960 werden durch die Song-Dynastie in China als Zentrum die Weichen für eine globalisierte Welt gestellt. Es entsteht mithin erstmals so etwas wie eine Weltgesellschaft samt internationaler Ordnung. Der Ausbruch der Pest mit ihren weitreichenden Folgen zeigt sodann, wie stark die Welt inzwischen über die Erdteile hinweg miteinander verbunden ist. Nachdem sich Menzel dem Mongolenreich im 13. und 14. Jahrhundert gewidmet hat, kommt er auf die erste europäische Großmacht im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit zu sprechen: Genua.
Es ist Europas wirtschaftliche und gesellschaftliche Blütezeit, die neue Handelsrouten und Bündniskonstellationen, begünstigt durch die Kreuzzüge, nach sich zieht.
Abgelöst wird die europäische Metropole durch die Ming-Dynastie, die eine Restauration des Tributsystems vorantreibt, eine Reform der Verwaltung durchführt und die Rüstungsindustrie (Werften) stärkt. Ihr Niedergang sei selbst verschuldet, so Menzel, denn die Ming hätten unter anderem die Schiffsindustrie ohne Not abgewrackt.

Fast parallel hierzu steigt in Europa Venedig empor, eine Seemacht mit imperialen Zügen. Der frühmoderne Staatskapitalismus, die oligarchische Herrschaftsform und die Emanzipation von Byzanz haben zum Aufstieg Venedigs beigetragen. Ein Problem war lange Zeit die Dauerrivalität zu Genua. Doch über eine territoriale Expansion sowie diplomatischen und militärischen Druck konnte sich Venedig bis etwa 1500 als europäische Weltmacht etablieren.
Der Beginn der Neuzeit geht einher mit Portugals Schiffsbaukunst und Nautik, den Entdeckungsfahrten und der Etablierung des Seewegs nach Indien. Portugals Ende der Souveränität wird sodann durch die Personalunion mit Spanien 1580 eingeleitet.
Die portugiesische Herrschaft wird lange Zeit flankiert vom osmanischen Reich, das als Land- und Seemacht einen Gegenpol zu Portugal und Spanien bildet. Das Mittelmeer wird damals zwangsläufig nicht nur zur Handels-, sondern gleichwohl zur Kriegszone.
Spanien ist in dieser Zeit als Land-, See- und Militärmacht auf der ganzen Welt präsent, doch Spanien ist keine Handelsmacht, was langfristig zu einem Problem wird: Die Kostenexplosion im 17. Jahrhundert, aber auch die militärische Revolution durch Frankreich und die Niederlande, sowie die ineffiziente Verwaltung des spanischen Reiches tragen zum Niedergang der Weltmacht bei.

So gehört das 17. Jahrhundert der Niederlande, einer See-, Militär- und Handelsmacht: »Die Niederlande sind der paradoxe und welthistorisch einzigartige Fall, wie ein Land bereits ein Führungsrolle im internationalen System spielen konnte, obwohl es im völkerrechtlichen Sinne noch gar nicht souverän war. Die wirtschaftliche Blüte ... begann in den 1580er Jahren, die koloniale Expansion und der Aufstieg zur Welthandelsmacht etwa 20 Jahre später. De facto waren die Niederlande mit dem Waffenstillstand des Jahres 1609 souverän, de jure erst 1648.« Die Niederlande profitieren nicht zuletzt von einer einzigartigen verkehrsgeografischen Gunstlage und von einem dichten Netz natürlicher Wasserstraßen.

Im Schatten der Niederländer steigt Frankreich, der »gezügelte Hegemon« zur Weltmacht auf. Es scheitert jedoch daran, dass es letztlich zu viele Widersacher an zu vielen Fronten besaß. Zudem hat Ludwig XIV. die diplomatischen Strategien seiner Vorgänger verspielt. Die Kriege und Bürgerkriege seiner Regierungszeit erledigten das Übrige. Deshalb erstrahlt im 18. und 19. Jahrhundert schließlich Englands bzw. Großbritanniens Stern. Der Aufstieg beginnt durch die Glorious Revolution 1688/89. Im 18. Jahrhundert wird die Insel dann insbesondere durch die Schafhaltung zu einer wirtschaftlichen Macht. Die koloniale Expansion nach Nordamerika festigt Großbritanniens Stellung in der Welt. Doch ab 1781 ist zugleich der Niedergang des Ersten Empire spürbar. Es kommt in der Folge zum Aufbau des Zweiten Empire, das letztlich in den 1930er Jahren durch die Weltwirtschaftskrise ebenfalls zusammenbricht.

Das »Mandat des Himmels« geht an die USA über. Die Montanindustrie, Chemie und Elektrotechnik der Vereinigten Staaten, aber auch die Kriegserfolge im 20. Jahrhundert tragen zum Aufstieg der Vereinigten Staaten bei. Der Erfolg war jedoch schon im Zeitalter des Fordismus vorgezeichnet. Darüber hinaus haben sich der Ressourcenreichtum und die Größe des Landes am Ende des 19. Jahrhunderts positiv auf die Entwicklung dieser kleinen Welt in sich ausgewirkt. Die USA werden vom Nachzügler zum Vorreiter. Erste Kratzer bekommt die neue Weltmacht allerdings durch die Aufhebung des Bretton-Wood-Systems in den frühen 1970er Jahren.
Über den weiteren Verlauf dieser Weltgeschichte, die Zukunft Amerikas, die Konkurrenten aus China und Indien, kann letztlich nur spekuliert werden.

Eine Weltformel?

Bei allen Differenzen im Detail: Es waren stets imperiale und hegemoniale Strukturen, die der Welt ihren Stempel aufdrückten. Liest man Ulrich Menzels Buch, kann man nur erahnen, welch wissenschaftliche Mühen er für seine akribische Ausarbeitung von eintausend Jahren internationale Beziehungen auf sich genommen hat. Das Ergebnis ist zweifellos beeindruckend. Nicht nur, weil die einzelnen Kapitel, die auf so unterschiedliche Mächte und Zeiten rekurrieren, aus einem Guss geschrieben sind; nicht nur, weil dieses Buch trotz des zunächst abschreckenden Umfangs und seines wissenschaftlichen Anspruchs wunderbar leicht zu lesen ist; und nicht nur, weil man viel über die internationalen Verflechtungen in Handel, Gesellschaft und Militär in Erfahrung bringt, sondern vor allem, weil Menzel seine Leser stets mitnimmt auf dieser höchst spannenden und unterhaltsamen Reise durch die Weltgeschichte.

Die Weltformel hat Menzel dennoch ebenso wenig gefunden wie zuvor Weigel, Higgs & Co. Aber er wollte schließlich auch nur die Welt erklären... Und das hat er bravourös gemacht – mit den Mitteln des historisch geschulten Sozialwissenschaftlers.

Artikel online seit 09.02.24

 

Ulrich Menzel
Die Ordnung der Welt
suhrkamp
taschenbuch 5384
Klappenbroschur, 1228 Seiten
38,00 €
978-3-518-47384-9

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