Vor
25 Jahren starb der Schriftsteller und
Publizist Jörg Fauser.
Jürgen Nielsen-Sikora über
das Phänomen
Fauser und
dessen gesammelte
journalistischen Arbeiten 1959-1987,
»Strand der Städte«, die im Alexander Verlag erschienen sind.
Carl Weissner hat in einem
legendären Vorwort zu Fausers 1973 erschienenem Gedichtband »Die Harry Gelb
Story« bekannt, die »Schreibe« seines Freundes käme ihm »sehr echt vor, und
vermutlich ist Schreiben für Fauser ziemlich genau dasselbe wie wenn er morgens
um 4 aus dem Mansardenfenster wichst.« Fauser lesen – das bedeutet freilich mehr
als das übliche »Gewichse« der Literatur sich noch einmal durch die Finger
gleiten zu lassen. Denn ganz schnell hängst Du als Leser an Fausers Schreibe wie
der Junkie an der Nadel. Wenn der Buchdeckel zuklappt, beginnt der Entzug.
So sind seine zwischen
1959 und 1987 entstandenen, journalistischen Arbeiten von einer so
konzentrierten Wucht, ja von einer solchen Potenz, dass auch die Blockwarte des
Büchermarktes und die Sittenwächter der Literaturhäuser nicht einfach ihre
übliche Krittelei werden einbringen können, schließlich zeigt sich Fauser in
diesem Werk nicht nur als Genie literarischen Ergusses, sondern auch als
Seismograph deutscher Erschütterungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
– eines Jahrhunderts übrigens, das er als einen Moloch charakterisiert, »der
immer nur frißt und nichts verdaut, nur zerstört, nichts vergibt, alles
planiert, zertrampelt, zerbricht, ermordet, und den Leichenbergen des
Fortschritts noch ein höhnisches: Servus! Die Erde wird rot! hinterherruft.«
In der von Alexander
Wewerka herausgegebenen Edition erscheinen viele der hier versammelten Texte
erstmals in Buchform. Ihren Helden begegnet Fauser an den Rändern der Städte,
der Gesellschaft, »auf dem Pflaster, das den Strand bedeckt.« Die mehr als 1500
Seiten beschreiben das Leben zwischen Schaschlik-Buden und Bordellen, erzählen
von den Huren und Strichern, den Feuchtgebieten der Gesellschaft mit ihren
Hinterhöfen und Ghettos, und Fauser observiert »als Dunkelmann beim
Verfassungsschutz für Sprache und Zweifel« sowohl die Bier-Budiker als auch die
»bedrückende Fürsorge des Staates«, während der »Geist von Oggersheim« die BRD
oder das, was von ihr übrig geblieben ist, die 80er Jahre durchregiert.
Die Essays handeln von dem, was uns Menschen buchstäblich unter die Haut geht:
Drogen und Tod, die immer eingepackt sind in seine literarischen Portraits,
Krimis, in die Texte übers Kino und die Bonner Republik als das größte Kino
überhaupt. Fauser beschreibt Afghanistan, Israel und den Libanon, die
»Blutergüsse der Medien«, den autoritären Otto Schily, sein eigenes Jugendidol
Herbert Wehner und das politische Panorama einer Welt im Umbruch. Immer sind es
sehr poetische Analysen, die wir im Feuilleton von heute nicht mehr, und in der
Literatur nur selten finden.
Je betrunkener der Autor, desto nüchterner und klarer seine Texte – eine
wundervolle Nüchternheit jedoch, die süchtig macht, also keine Seichtschwätzerei
und auch ganz gewiss keine »Lektüre, die einem die Himbeeren verhagelt.« Da sind
die Krüppel und der Krankenhausgeruch, das Stardust Motel, das wir bereits aus
»Trotzki, Goethe und das Glück« kennen und schließlich die Touristen, die »Toten
in Gelee«, denen er auf seinen zahlreichen Reisen in die Seele blickt.
Sein Thema hat Fauser
schon früh gefunden. Es ist das »Pflaster und der Strand, der Strand der Städte,
auch ihr Strandgut, die Besessenen und die Berauschten, die Gäste im Café
Nirwana und die Pensionisten im Desasterhotel, die ewigen Stromer und die
verstrolchten Träumer, die Dämonen der Nacht und die Dichter in der Dämmerung
mit und ohne Damen, sie sind Landschaft und Bewohner meiner Phantasien und
meiner Erfahrungen … Zwischen Bild und Realität fällt machtvoll der Schatten,
und der Schatten ist für manchen gewiss manches, er ist für mich Literatur.«
Neben Kerouac, Ginsberg
und Bukowski, neben Gryphius und Eich ist es deshalb immer wieder Joseph Roth,
dessen Bücher er allen anderen vorzieht, weil in ihnen die Irrenden und
Leidenden, die Flüchtenden und Strauchelnden zu Wort kommen, und weil Roth weiß,
dass Rebellion und Demut siamesische Zwillinge sind.
Die meisten, und in meinen Augen die besten, Texte stammen aus den Jahren
zwischen 1973 und dem Todesjahr 1987. Angefangen von seinen Heroin- und
Koksberichten über das Bukowski-Interview für den Playboy (ein echtes
Highlight!) bis hin zum Pils- und Grappa-Artikel über den Weggefährten Joschka
Fischer, den ewig Wütenden, der seine Wut in immer wieder neue Bahnen lenken
musste, um politisch überleben zu können.
Diese letzte Phase seines Schreibens ist die Zeit, in der der Himmel zwischen
den TV-Antennen allmählich dunkler wird und die Häuser der Republik den
»Anstrich verdünnter Hühnersuppe« annehmen. Fauser schreibt unter dem Pseudonym
Caliban und versucht, in kongenialer Verbundenheit zum Antihelden aus
Shakespeares »Sturm«, den »Zipfel fremder Welten zu erhaschen.«
Es ist die Epoche der
Schnauzbartträger und der Apokalypse in spe, die sich, angefangen vom Deutschen
Herbst über das Waldsterben bis hin zur geistig-moralischen Kehre, nicht bloß in
den Köpfen der Bürger ihren Platz sucht, sondern auch zwischen die Buchdeckel
der großen Verlage gepresst wird. Und es ist – zugegeben – auch die Zeit, die
ich selber so gut nachempfinden kann, weil ich in ihr groß geworden bin und
sagen darf: Ja, diese merkwürdigen 70er und 80er Jahre, in der fast alle ihr
Mene Tekel Upharsin an die Wand pinselten, glichen letzten Endes doch nur
einer »Plastik-Apokalypse für eine Plastik-Welt mit Plastik-Menschen.« Während
die einen ihren Feierabend mit »Filzpantoffeln, Flaschenbier und Furcht«
verbrachten, versuchten andere, die Schallmauer, die allgegenwärtige Angst, zu
durchbrechen.
Zu diesen Brechern zählt
auch der Schriftsteller Jörg Fauser, der aus Tanger, Nevada, L.A. und New York
berichtet und für Achim Reichel Songs wie »Hart am Ball« schreibt, während in
Deutschland RAF-Steckbriefe in jeder Bäckerei aushängen und Schlagersängerin
Nicole für ein bisschen Frieden wirbt.
Wieder in Deutschland, zockelt Fauser früh morgens »durch die Potsdamer Straße,
vorbei an den Sex-Schuppen und Animieranstalten, vorbei an den Würstchenbuden
und Tätowiersalons, vorbei am 'Nevada', wo der schwarze Mann hinterm Tresen nach
dem fünften Bourbon auf seinem Taschenkamm den St. Louis Blues spielt.«
Fauser lebt in diesen
Tagen permanent am Limit, doch intensives Erleben ist ihm nicht nur in den
letzten Jahren seines Lebens die zentrale Voraussetzung seines Schreibens. Er
will stets neue Erfahrungen sammeln, und die hat nur, wer auf Fahrt geht, in
Fahrt kommt. Anfang 40 will er die Wunder der Zivilisation genießen und spürt
doch immer wieder, dass ihn an den Zehen bereits das Gift packt, das ihn langsam
zerfrisst. Süchtig nach dem Leben, dieser »größten Nachrichtenagentur der Erde«,
kreist sein Leben stets um die eigene Sucht. Der Mensch, sagt er einmal, sei das
wichtigste Material der Geschichte. Er sagt »der Mensch« und spricht letzten
Endes doch von sich, denn er weiß: Am Ende stirbt jeder für sich allein, auch
wenn man Angst haben muss, so Fauser, noch beim Sterben »verschaukelt und
verscheißert zu werden.«
Ich habe mich beim Lesen
des Buches oft gefragt, worüber Fauser heute schreiben würde. Wohin ginge er?
Würde das, was er schriebe, überhaupt gelesen? Und gibt es noch ein paar von
uns, die da warten unterm Mansardenfenster, dass es bald 4 Uhr wird?
Die Antwort kann man natürlich nur bei Fauser selber suchen – und finden:
»Manche Menschen auf der Erde sterben nicht. Sie dürfen nicht sterben, weil
sonst alle Hoffnung auf ein Überleben des Menschen nicht möglich sein wird.«
Ohne Zweifel gehört Fauser
zu diesen Menschen. Überleben ohne ihn gelesen zu haben ist nicht möglich.
Fauser ist der bombastischste unter den deutschen Nachkriegsschriftstellern, ein
krakeelender Irrwisch, dessen Texte … ach, lest doch einfach selbst:
»Da hockten sie also alle zusammen und lurchten und häuteten sich. Alkis und
Junkies, Drücker und Gedrückte, Wetzer und Gewetzte, Portokassenjünglinge auf
dem Gewalttrip und Stenogirls als Belles de Nuit, verkannte Folk-Sänger,
verlauste Stink-Finger, verstörte Auf-Rührer, all die Sumpfdottern mit dem 68er
Blues, die Linken, Linker, Gelinkten, und dazwischen auch einfach der
Teppichhändler Özekan und die Apfelwein-Opas aus der Flattergaß mit ihrem
endlosen Gewäsch, diesem Frankfurter Singsang, der etwas Chinesisches an sich
hat…«
Zugestanden: Ich zitiere in dieser Rezension viel zu viel und versäume es, den
Autor und das Buch in die Landschaft der Literaturdiskurse einzuordnen. Aber aus
diesem Buch kann man im Grunde nur zitieren – und immer wieder einen Blick
hinaufwerfen zum Mansardenfenster und warten, dass es 4 Uhr wird.
Es ist Mitte Juli 2012. Vor 25 Jahren ist Jörg Fauser gestorben.
Erheben wir unser Glas und lesen dieses wundersame Buch stets als letzte
Lektüre!
Dazu William Burroughs: »Wer schlau ist, lässt sich das gesagt sein.«
Jürgen Nielsen-Sikora
Trotzki, Goethe und das Glück
Jörg
Fauser, Jan Bürger, Rainer Weiss,
Die Tournee
Roman aus dem Nachlaß
Jörg-Fauser-Edition IX.
Mit Beiträgen von Jan Bürger und Rainer Weiss
272 Seiten, Abb. 17
Hardcover
ISBN 978-3-89581-121-0
19,90 € / eBook 8,49 €
Jörg Fauser Der Strand der Städte Gesammelte journalistische
Arbeiten 1959-1987.
Herausgegeben
von Alexander Wewerka
1600 Seiten
Alexander Verlag Berlin
Gebunden, mit Leseband.
Jörg-Fauser-Edition Band VIII.
Mit einem Vorwort von Matthias Penzel
49.90 €
ISBN: 978-3-89581-120-3
Jörg
Fauser Fauser
Werkausgabe
in neun Bänden detebe 23920, 3216 Seiten
ISBN 978-3-257-23920-1
€ (D) 79.00
Die Einzelbände:
Alles wird gut
Gesammelte Erzählungen und Prosa I
ISBN 978-3-257-23924-9
detebe 23924 Broschur, 448 Seiten,
€ (D) 10.90 / sFr 19.90* / € (A 11.30)
Mann und Maus
Gesammelte Erzählungen und Prosa II
ISBN 978-3-257-23925-6
Erzählung, detebe 23925 Broschur, 528 Seiten,
€ (D) 10.90 / sFr 19.90* /
€ (A) 11.30 Marlon Brando
Der versilberte Rebell
ISBN 978-3-257-23926-3
Biographie, detebe 23926 Broschur, 256 Seiten,
€ (D) 9.90 / sFr 17.90* / € (A) 10.20