»Es ist keine Schande, glücklich zu sein ...« Albert
Camus bis heute
lebendig strahlende Textsammlung
»Hochzeit des Lichts« wiedergelesen.
Von Lothar Struck
Das vom Arche-Verlag jüngst herausgebrachte Buch "Hochzeit des Lichts" von
Albert Camus umfasst genaugenommen zwei Bücher. Zum einen vier Erzählungen, die
1938 in Frankreich unter dem Titel "Noces" ("Hochzeit"; in Deutschland erstmals
1954 unter "Hochzeit des Lichts") erschienen. Sie entstanden, wie der Verlag in
einer editorischen Notiz erklärt, in den Jahren 1936-1937. Camus war damals also
ungefähr 23 Jahre alt. Zum anderen gibt es acht Erzählungen, die 1954 in
Frankreich unter dem Titel "L'été" ("Sommer") erschienen waren und zwischen 1939
und 1953 entstanden. Der deutsche Titel lautet "Heimkehr nach Tipasa". Die
deutschen Übersetzungen der beiden Bücher von 1954 und 1957 wurden für dieses
Buch teilweise überarbeitet.
Es ist nun mehr als ein Fauxpas, wenn der Verlag sowohl im Klappentext als auch
in der Pressemitteilung schreibt, dass alle "in diesem Band versammelten Texte"
zwischen 1936 und 1938 "erstmals erschienen" seien. Die hier abgedruckten
Erzählungen, die mit der Zeit essayistischer und philosophischer werden (Camus
hätte letzteres vielleicht bestritten), sind, wie oben ausgeführt, keinesfalls
dieser eng umrissenen Zeitspanne zuzuordnen. Noch ärgerlicher ist allerdings,
dass viele Besprechungen diese zeitliche Fehleinschätzung einfach übernehmen
(exemplarisch dafür Iris Radisch, die im Februar das Buch im "Literaturclub" als
Frühwerk anpries, was tatsächlich nur für die ersten 65 Seiten - von 163 -
gilt). Wieder einmal zeigt sich, wie "genau" große Teile der Kritik mit dem
Objekt ihrer Lektüre umgehen. Dabei hätte man nur einen Blick auf die Seiten 165
und 166 dieses Buches werfen müssen.
Auch ohne in allzu detailreiche philologische Deutungen abzugleiten und den
Zauber dieser Prosa damit zu profanisieren, ist es nicht unwichtig, dass die
episch-essayistische Erzählung "Heimkehr nach Tipasa" ("Retour à Tipasa"; im
deutschen sozusagen die Titelgeschichte aus "L'été") aus dem Jahr 1952 stammt
(und damit eben nicht fünfzehn Jahre vorher). Zu diesem Zeitpunkt lagen demnach
bereits die bedeutendsten Werke (sowohl die Romane "Der Fremde" und "Die Pest"
als auch die philosophischen Schriften) von Albert Camus vor. Umso
interessanter, dass man in diesen Erzählungen bisweilen das Gefühl hat, der
Autor experimentiere hier, und zwar sowohl stilistisch, was sich im manchmal
ruckartigen Wechsel von Naturbeschreibung und (Selbst-)Reflexion zeigt, als auch
literarisch, denn natürlich möchte Camus weder einer reinen Idyllisierung der
Natur das das Wort reden (früh geißelt er die öden Traktate der
Naturschwärmer) als auch die Natur nicht als Urgrund für
metaphysisch-philosophische Betrachtungen instrumentalisieren.
Nicht Sehen, sondern Schauen
Zu erleben wie Camus dieses Spannungsfeld fast immer souverän meistert ist eine
der Qualitäten dieser Prosa. Auch in den stimmungsvoll-schwärmerischen Stellen,
die es nicht nur in den frühen Erzählungen gibt (allerdings dort häufiger), wird
die Natur niemals vermenschlicht, d. h. es existiert immer ein Erzähler (der mit
Camus weitgehend gleichgesetzt werden dürfte), der diese Wahrnehmungen mit
seinem Seelenleben verbindet, umformt und demzufolge: interpretiert. Die Natur
existiert demzufolge nie "an sich" sondern stets durch den "Wahrnehmungsapparat"
des Erzählers. Camus wird dahingehend zitiert, dass sein Herz und sein Gefühl
diese Erzählungen geschrieben hätten, nicht der Verstand (man hofft, die
Übertragung dieses Ausspruchs ist authentisch und zuverlässiger wiedergegeben
als die schlampigen Angaben zur Entstehung dieser Geschichten). Das stimmt nur
insofern, als hier aus der Ich-Perspektive geschrieben wird und eine romanhafte
Verfremdung beispielsweise durch Protagonisten unterbleibt. Dies verleiht den
Erzählungen eine sehr persönliche Aura und zeigt einen (vielleicht unbewusst
tiefen?) Einblick in die Welt von Camus, die immer auch eine Welt des Zweifels
war. Ansonsten ist das existentialistische Denkgerüst schon Ende der 1930er
Jahre präsent, wenn auch nicht immer ausgereift.
Wirklich grandios sind diese Impressionen seines algerischen Arkadiens. Es ist
seine Heimat der Seele, in der Gebirge, Himmel und Meer…wie Gesichter
[sind], deren Öde oder Pracht man nicht durch Sehen entdeckt, sondern durch
Schauen. Zu gewissen Stunden ist das Land schwarz vor lauter Sonne.
Jahrzehnte später gibt es Beschwörungen der vergangenen Augenblicke und vom
Scheitel des Himmels herniederfallend, werden die Fluten des Sonnenlichts hart
von der Landschaft um uns her zurückgeworfen. Alles schweigt vor diesem Getöse,
und der Luberon, dort drüben, ist nur noch ein ungeheurer Block des Schweigens,
dem ich unablässig zuhöre. Ich lausche, von Ferne eilt es zu mir, unsichtbare
Freunde rufen mich, meine Freude wächst, dieselbe wie vor Jahren. Und dann
wieder so ein jäher Perspektivwechsel mit der scheinbar aus dem Nichts
assoziierten Frage nach der Sinnlosigkeit der Welt.
Ein andermal dann wieder euphorisch: Ich lernte atmen, ich ordnete mich ein
und erfüllte das eigne Maß. Und alles hier lässt mich gelten, wie ich
bin; ich gebe nichts von mir auf und brauche keine Maske. Hier ist er Mensch
und kann nach hochzeitlicher Weltumarmung das Glück der Ermattung
genießen. Ja, es ist keine Schande, glücklich zu sein, sondern sogar eine
Art Menschenpflicht. Trotzig-schwärmerisch, dieser Stolz, ein Mensch
zu sein und dann das pädagogische Wie arm sind Menschen, die Mythen
brauchen von 1937. So etwas von ihm, dem späteren Sisyphos-Interpreten, der
sich reichlich an und in der griechischen Götter- und Mythenwelt bedienen sollte
und schon 1947, in der Erzählung "Prometheus in der Hölle" wird diese Haltung
leicht relativiert: Die Mythen leben nicht aus sich selbst. Sie warten
darauf, dass wir sie verkörpern.
Aber dieses Glück, jener einfache Einklang eines Geschöpfes mit seiner
Existenz ist immer ephemerer Natur. Es wird gespeist aus der Ambivalenz
dauern zu wollen und sterben zu müssen; dem Absurden, wie es bei Camus heißt
(der Begriff spielt in diesen Erzählungen keine tragende Rolle, daher kommt man
eher auf das Wort vom Paradoxon). Und in diesen (in doppelter Hinsicht) lichten
Momenten entsteht die Leidenschaft, leben zu wollen und unbeirrt wird die
Schönheit der Welt postuliert: Außer ihr gibt es kein Heil und
auch kein übermenschliches Glück [,] und keine Ewigkeit außer dem Hinfließen
der Tage. Camus ahnt, dass der Tod, dieses schmutzige Abenteuer, das
Nachdenken darüber und seine Todesangst…nur die Kehrseite einer
unbändigen Lebensgier ist.
"Steine, Leibe und Sterne"
Der algerische Sommer hat ihm gelehrt, dass eines noch tragischer als
das Leiden ist: das Leben eines glücklichen Menschen. Welcher Zwiespalt:
Glücklichsein und die Tragik des Glücklichseins! Camus nimmt nun keinesfalls
eine resignative Haltung ein, redet keiner billige[n] Zufriedenheit das
Wort. Wer diesen Weg wähle, würde mogeln; diese Menschen prahlten mit
ihrer Liebe zum Leben, um der eigentlichen Liebe auszuweichen. Man will genießen
und erleben.
Da wird die Versuchung hin zu einem hedonistischen Lebensstil zum
Gesichtspunkt des Geistes; der echte Genießer lebt sein Leben ohne
den Beistand seines Geistes, ohne sein Zurückweichen wie sein Vordringen, seine
Einsamkeit und seine Gegenwart. Dabei begibt sich Camus in einen
Widerspruch, denn dieses Geniessertum ohne Geist ist nach strenger Auslegung
letztlich nur mit entsprechender Reflexion, ergo einem "Geist", möglich. Bei den
Algeriern selber konstatiert er eine eher archaische, glühende Lebensgier,
speziell in den jungen Jahren (was, wie er mutmaßt, vielleicht mit ihrem
verhältnismäßig frühen Tod zu tun hat). Hierin erkennt er einen Lebenswillen,
der dem Leben nichts verweigert, eine Tugend, die er, Camus, am
höchsten verehrt auf dieser Welt.
Camus' streckenweise ethnologischer Ton befremdet zuweilen durchaus. Die
Rasse der Algerier, so schreibt er, sei gleichgültig gegen den Geist.
Stattdessen verehrt und bewundert sie den Leib. Er ist die Quelle ihrer Kraft
wie ihres naiven Zynismus. Er spricht von der sympathische[n] Naivität
dieses Handelsvolkes und sogar vom geistlosen Volk, meint dies
jedoch, wie oben erläutert, nicht pejorativ. Dieses ganz und gar gegenwärtige
Volk kennt keine Mythen und keinen Trost, es kennt keine trügerische
Gottheit die Zeichen der Hoffnung oder der Erlösung geschrieben hat. Zwischen
diesem Himmel und den zu ihm aufblickenden Gesichtern ist kein Platz für eine
Mythologie, eine Literatur, eine Ethik oder eine Religion, sondern nur für
Steine, Leibe und Sterne und für Wahrheiten, die sich mit Händen greifen lassen.
Die Algerier sind nicht nur Statisten in diesem Sehnsuchts- und, vor allem,
Selbstvergewisserungsort oder -land. Bei aller Sympathie und sogar Idealisierung
bleiben sie ihm gleichzeitig fremd. Camus reist auch in andere Länder, natürlich
Frankreich und auch nach Italien, diesem Land der Inzeste und
sinnlich[n] Grazie mit einer Landschaft, deren Größe einem die Kehle
zuschnürt. Aber es zeigt sich, dass hier diese Verschmelzung zwischen
Erzähler und Ort, die jene Reflexionen und Assoziationen auslöst, zumindest in
Italien nicht möglich ist. So wird er dort vielfach mit dem Katholizismus
konfrontiert, genießt zwar einen lorbeerduftenden Klostergarten, lehnt
aber gleichzeitig die christliche Tröstung vehement ab. Dabei entdeckt er
ständig Belege für diese Ablehnung, etwa diesen grimmige[n], seelenlose[n]
Blick des aus dem Grab entsteigenden Christus des
Piero della Francesca. Und man liest auch pointierte,
nicht immer schmeichelhafte Beobachtungen zu anderen europäischen Städten (Salzburg
wäre friedlich ohne Mozart).
So kommt Camus stets zurück. Es gibt wunderbare Landschaftsbeschwörungen,
kluge Bemerkungen
über Schriftsteller und Werk, Betrachtungen zum Elend
des Luxus oder über den Zusammenhang zwischen Nacktheit und Wildheit. Gebannt
verfolgt man die Erzählung eines Boxkampfes (der Boxkampf, die "Corrida" der
Existentialisten) in Oran, jenem Ort frei von Poesie, diesem Hauptsitz
der Langeweile aber auf diesen Gestaden von Oran sind alle Sommermorgen
wie die ersten der Welt und diese muss man erlebt haben. Oder eben
Algier, diese Antipodenstadt zu Oran (die Bewohner Algiers und Orans befinden
sich in einem tödlichen Streit), eine schlafwandelnde und wahnsinnige
Stadt.
Die Mandelbäume der Vallée des Consuls und "unendliche Melancholie"
Hingerissen zwischen Natur und Stadt; Schönheit und Häßlichkeit. Camus'
Zivilisations-, Geschichts- und vor allem Philosophiekritik ist insbesondere in
den späten Erzählungen überaus stark ausgeprägt. Etwa seine Ausführungen zu
Prometheus, für Camus eine Art Urvater. Wir (die Menschheit) haben, so die
These, Prometheus verraten, der dem Menschen nicht nur das Feuer brachte,
sondern ihn auch aus der Knechtschaft der Geschichte befreien wollte,
denn die Geschichte ist unfruchtbarer Boden, wo kein Heidekraut wächst.
Und wir haben das Feuer neu zu erfinden, die Wirkstätten neu zu erbauen, um
den Hunger des Körpers zu beschwichtigen.
Die zeitgenössische Philosophie kommt bei ihm ebenfalls nicht gut weg: Wo
Platon noch alles umfasste, den Widersinn, die Vernunft und den Mythos, besitzen
unsre Philosophen nur noch den Widersinn oder die Vernunft, weil sie die Augen
vor dem Übrigen schließen. Der Maulwurf meditiert. Das Christentum begann damit,
die Betrachtung der Welt durch die Tragödie der Seele zu ersetzen. Doch wandte
es sich zumindest an eine vergeistigte Natur und bewahrte so ein gewisses
Gleichmaß (so Camus 1947).
Auch der Glauben an die Vernunft ist gescheitert, selbst Nietzsche ist
überholt. Gott ist tot und so bleiben nur noch Geschichte und Macht.
Aber das ist durchaus menschengewollt. Das Gegenmodell ist dann tatsächlich die
Natur, freilich nicht in einem naiv-totalitären Rousseauismus. Camus erkennt in
der Natur, in der Beschaulichkeit der Abende, die Dauer, welche
die Menschheit der Welt im Laufe der Jahrhunderte amputiert habe. Natur
setzt dem Irrsinn der Menschen ihre ruhigen Himmel und ihren Sinn entgegen.
Und wie ist es mit der Moral? Ein bisschen schaurig wird es einem schon, wenn es
heißt wir leben für etwas Höheres als die Moral.
Und immer wieder ist der Leser entzückt ob dieser Mischung zwischen Essay und
diesen wunderbaren Bildern, etwa das geduldige, fast buddhistische Warten auf
das Erblühen eines Mandelbaums mitten in der Stadt: Als ich in Algier lebte,
geduldete ich mich den ganzen Winter hindurch, weil ich wusste, dass in einer
Nacht, in einer einzigen kalten und reinen Februarnacht, die Mandelbäume der
Vallée des Consuls sich mit weißen Blüten bedecken würden. (Camus beeilt
sich darauf hinzuweisen, dass dies kein Symbol sei.) Und immer wieder
spielt natürlich auch das Wasser, das Meer (dessen Kußgeräusche an den
Felsklippen schlürfen und saugen) eine Rolle. Und im Frühjahr, wenn an den
Stränden die Ahnung von Sommer und eine neue Ernte blühender Mädchen zu
sehen ist. Die letzte Geschichte ist ein (fiktive?) Umrundung des
südamerikanischen Kontinents mit – für diesen Autor ungewöhnlich – durchaus auch
phantastischen Elementen.
Wunderbar das Erzählen über und mit Düften. Der Sommergeruch der algerischen
Erde, der herbe Geruch der Kräuter oder dieser Duftäther der
Wermutbüsche, der zur Sonne steigt und den Himmel schwanken macht. Sogar
die unendliche Melancholie des Autors duftet nach Meer und Regen.
Und dann, ein wenig versteckt in diesem schwelgerischen, sinnlichen gelegentlich
grüblerischen, aber niemals schweren Buch entdeckt der Leser den einsamen
Erzähler Albert Camus, den liebebedürftigen - und den Liebenden. Das erinnert
dann von Ferne ein wenig an die Kindheitsimpressionen aus "Der erste Mensch",
dieser über dreißig Jahre später nach seinem Tod 1994 in Frankreich (1995 in
Deutschland) veröffentlichte, ein wenig autophile Roman, diese Vatersuche und
Lehrerhommage, der die heftige Kindheit, die hier nur einmal zart
angedeutet wird, auffächert und insbesondere die Selbsterziehung des stark
autobiografische Züge tragenden Helden Jacques mit einer Mischung von Trotz,
Demut und Stolz erzählt.
Und da ist dann noch so eine Sentenz, scheinbar beiläufig eingeworfen, die einem
nicht mehr loslässt und lange Zeit mit sich trägt: Nicht geliebt zu werden
ist nur misslicher Zufall, nicht zu lieben jedoch ist Unglück. Wir alle sterben
heute an diesem Unglück. Da Camus keine Lebensratgeber geschrieben hat,
verrät er nicht, wie man dieses Unglück abwenden kann. Man ahnt allerdings –
nicht zuletzt aufgrund des Geschriebenen - dass es möglich sein muss. Das alles
ist kein billiger Trost. Eher Arbeit.
Albert Camus
Chroniques algériennes Albert Camus Hochzeit des Lichts
Aus dem Französischen von Peter Gan / Monique Lang
Arche Verlag
176 Seiten · mit Schutzumschlag
EUR 16,00 · SFR 27,90 · EUA 16,50 3-7160-2634-4
ISBN-13: 978-3-7160-2634-2