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Das unbekannte Meisterwerk

Der magische Realismus des Fritz Lehner & seine Schubert-Phantasmagorie »Mit meinen heißen Tränen« / Eine Anzeige

Von Wolfram Schütte
 

»Mit meinen heißen Tränen« heißt ein dreiteiliger, 285 Minuten (!) langer Film, in dem Udo Samel kongenial Franz Schubert in seiner familiären Umgebung & seinem Freundeskreis zu drei Zeiten (1823, 1827 & 1828) darstellt. Der pathetische Titel stammt aus einem Gedicht der «Winterreise«. Eine Strophe des Gedichts »Erstarrung« lautet: »Ich will den Boden küssen/Durchdringen Eis und Schnee/Mit meinen heißen Tränen,/Bis ich die Erde seh’«.   

Der österreichische Regisseur Fritz Lehner hat das von ihm & Thomas Puchelt verfasste Drehbuch mit dem Kameramann Gernot Roll 1986 verfilmt. Die österreichisch-deutsche Koproduktion lief als »Kleines Fernsehspiel« im ZDF & erhielt 1987 den Adolf Grimme-Preis in Gold für Lehner, Roll & Samel. Da die drei Teile jeweils nur nach 22 Uhr ausgestrahlt wurden & obwohl der Film mit den höchsten deutschsprachigen TV-Auszeichnungen geehrt worden war, ist »Mit meinen heißen Tränen« unter der Wahrnehmungsschwelle der deutschsprachigen Filmkritik geblieben.

D.h. die Produktionsbedingung & der Vertriebsweg samt den TV-Auszeichnungen haben ihn derart kaserniert, dass sein ästhetischer Charakter als großer Historischer Film nicht wahrgenommen wurde. Meines Wissens ist er ja nie auf einem Filmfestival gelaufen, obwohl der Regisseur unter dem Titel »Notturno« eine von ihm gekürzte Fassung für das Kino zusammengeschnitten hatte & zeitweilig als DVD vertreiben ließ.

Das Faktum des Fernsehfilms spiegelt sich auch im sehr bescheidenen Beiheft der nun vorliegenden dreiteiligen Originalfassung auf DVD. Dort werden positive Stimmen nur aus zwei Kritiken von Provinzzeitungen in Österreich & Deutschland zitiert. Der Wikipedia-Eintrag wird noch von einer abfälligen Bemerkung aus dem Internationalen Lexikon des Films verunziert.
Diese Dokumente einer öffentlichen Ignoranz sind für die 3 Grimme-Preisträger mehr als bloß bedauerlich; im Hinblick auf die künstlerische Qualität ihrer gemeinsamen Arbeit ist das Faktum nahezu beleidigend.

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Weder kenne ich Fritz Lehner, noch sein Oeuvre vor oder nach »Mit meinen heißen Tränen«. Ich bin auch kein Kenner von Schuberts Biographie, wenngleich mir die biographisch-zeitgeschichtlichen Fakten des Films mehr oder weniger detailliert bekannt waren. Dadurch war es mir intuitiv (?) möglich, die biographischen Konzentrate aus den »Signalements« des Films aufzulösen & ihn gewissermaßen zu entschlüsseln. Womöglich wäre es hilfreicher, den 3 Teilen Summeries ihrer jeweiligen Handlungslinien mit ihren biographisch –zeitgeschichtlichen Beziehungen voranzustellen. Erkennbar ist aber aus diesen erzählerischen Verdichtungen, dass Lehner in den drei gewählten historischen Momenten Leben & Tod des Komponisten darstellen wollte: als Porträt eines unglücklich Liebenden, der immer wieder in seine existenzielle Einsamkeit verstoßen wird.

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Im 1. Teil (»Der Wanderer«) sucht die Kamera in einem Gewölbe mit vielen Betten & zerlumpten männlichen Kranken den dort liegenden Franz Schubert auf. Bald sieht man, dass er eine Perücke trägt, unter der sein Kopf weitgehend haarlos ist. Einmal fegt durch die Gewölberäume ein Geistlicher, der den Kranken eine Art Kapuzinerpredigt wegen ihres sündhaft-wollüstigen Lebenswandels hält, der sie nun zu Syphilitikern gemacht habe.

Ich glaube mich zu erinnern, dass die Krankheit im Film aber nicht beim Namen genannt wurde, jedoch bekannt ist heute, dass sie in jener Zeit mit Quecksilber behandelt wurde, woher der Haarausfall stammte. Auch wird sie später im Film nicht ausgesprochen, als Schubert von seinem Freund Franz von Schober in dessen offene Kutsche gebeten wird. Dort blickt Schubert verlegen auf die ausschweifenden Knutschereien seines offenbar reichen Freundes mit einer Geliebten, aus deren Schuhen Franz von Schober (Daniel Olbrychski) Sekt trinkt.

Ab & an reiten Militärs durch die engen, belebten Straßen des Wohnviertels, in dem Schubert wohnt. Auf der Straße fixiert er eine Wohnung im zweiten Stock des Hauses schräg gegenüber. Die dort lebende Frau bemerkt den zu ihr aufblickenden Schubert, der sie wie ein Stalker verfolgt, als sie das Haus verlässt. (Sie erkennt offenbar den Kunden, den sie mit der Lustseuche angesteckt hatte.)

Schubert wiederum wird auf der Straße von einem Krüppel aus dem Krankenhaus verfolgt. Schubert versucht den unheimlichen Verfolger abzuschütteln, indem er über steile Treppen eilt & beobachtet dann sadistisch, wie der gehbehinderte Krüppel sich mithilfe eines Fahrrad ähnlichem Gefährts mühsam über die Treppenstufen schleppt. (Der Krüppel wird in dem 2.Teil wieder auftauchen.)

Eine weitere Episode zeigt Schuberts Verhältnis zu seinem Vater, einem Schullehrer. Im Nebenzimmer hört er wie der nachhause gekommene Vater sich quasi viehisch an seiner zweiten Frau vergeht. Später setzt er sich den verbalen Quälereien seines Vaters aus, der den Sohn vor der Klasse demütigt, die eines seiner populären Lieder singt.

Im 2.Teil (»Im Reich des Gartens«) fahren Schubert & seine Freunde zusammen mit jungen Frauen zum Picknicken in die ländliche Umgebung Wiens. Wieder ist Franz von Schober der wildeste beim Wettrennen der Kutschen im Wald. Einmal begegnen die übermütigen, trinkfreudigen Ausflügler einem Zigeuner-Wagen & sehen kurz danach schweigend zu, wie berittene Militärs die Rechtlosen drangsalieren, ihre Wagenplane mutwillig zerstören & einen Flüchtenden hinter einem Busch erschießen.

Während der Fahrt verliebt sich Schubert in Magdalena (Therese Affolter), die ihm auf dem offenen Wagen gegenübersitzt. Sein Blickkontakt wird ganz offensichtlich erwidert. Als plötzlich der hohe Wasserfall – die Sehenswürdigkeit, zu der die Ausflügler gelangt waren – aussetzt & eine unter ihm verborgene Höhle sichtbar wird, ist es der eher von allen belächelte ungelenke Schubert, der den Mut hat, deren geheimnisvolles Dunkel zu betreten. Nur Magdalena folgt ihm zum Besuch in die Höhle.

Nachdem das Wasser wiedergekommen ist, setzen die Ausflügler ihre Reise mit einem Kahn auf dem Fluss fort. Als einer der Freunde, der Schuberts & Magdalenas verliebten Augenkontakt & die aufgekeimte Liebschaft zwischen den beiden bemerkt, besitzergreifend eine Hand auf Schuberts Oberschenkel legt, weist dieser diese schwule Andeutung empört & brüsk zurück.

Die kleine Bootsgesellschaft erreicht ein ländliches Palais, in dessen weitläufigem Garten eine adlige Gesellschaft ein Fest feiert. Der elegante Schönling Franz von Schober wird von der jungen Gräfin für Schubert gehalten. Die Hinzugekommenen wurden erwartet, sie essen & trinken an den fürstlich eingedeckten Tischen, äußern sich dabei despektierlich über die Regierung. Eine uralte blinde Adlige warnt in einem langen Monolog die jungen Gegner der Metternichschen Restauration vor Spitzeln, die sie an die Polizei verraten könnten. Das Biedermeier ist das Produkt eines Polizeistaates.

Franz Schubert spielt am Klavier Tänze, bevor der erwartete Johann Strauß & sein kleines Ensemble die tanzfreudige Gesellschaft mit seiner neuartigen Walzermusik begeistert. Ein wenig zu demonstrativ wird die musikalische Konkurrenz unter den beiden Musikern dargestellt – samt dem ehrfürchtigen Schweigen & den anerkennenden Blicken von Strauß auf Schubert, als der am Klavier phantasiert & jeder Anwesende das musikalische Genie in dem pummligen Körper bewundernd zu erkennen scheint.

Währenddessen versucht der schwule Freund, der beim allgemeinen Aufbruch allein im Nachen sitzen geblieben war, sich mit einem von ihm angezündeten &, auf seinen Kopf gerichteten Feuerwerkskörper umzubringen, wendet die Rakete aber im letzten Augenblick ab. Sie wird Teil eines Tages-Feuerwerks sein, in dessen Verlauf ein Hammelbock an einem Heißluftballon über den Feiernden schwebt, der verliebte Schubert erfährt, dass Magdalena von seinem engsten Freund gekauft worden war, um dem Syphilitiker Liebe vorzutäuschen. Seine menschliche Enttäuschung über den Liebesbetrug ist so irreparabel, dass Magdalenas ernste Versicherung, aus der erst vorgetäuschten sei eine wirkliche Liebe geworden, den gedemütigten Schubert nicht umstimmt.
Das ländliche Fest endet in einem gewaltigen Gewitter. Während verköstigt sich der plötzlich erschienene Krüppel mit den hinterlassenen Speisen- & Getränkeresten der von allen fluchtartig verlassenen Festtafeln.

Der dritte Teil (»Winterreise«) spielt fast nur im Wohn-& Schlafzimmer des bei einem verheirateten Bruder lebenden armseligen Komponisten. Im Haus gegenüber beobachtet er eine allein lebende junge Frau. Sie bemerkt den Voyeur & steht eines Tages plötzlich in seinem Zimmer, wo sie Schuberts Zeichnung entdeckt, die sie als Nackte imaginiert. Während der zum Alkoholiker gewordene Musiker am Klavier arbeitet & komponiert, spielt seine kindliche Halbschwester Josepha am Boden des selben Zimmers mit ihrem primitiven Schaukelpferd. Ist sie debil oder als Kind auch so liebeverlassen von ihrer Familie wie der Komponist? Zwischen beiden entsteht eine bizarre erotische Intimität, bei der ein Beischlaf angedeutet wird.

Einmal wird in dem dunklen Zimmer zusammen mit der Familie & den uns aus Teil 2 bekannten Freunden eine Soirée gefeiert, auf der der Komponist Klavier spielt & ein Lied aus der »Winterreise« singt - bevor das Leben des 31 Jährigen elend & langwierig zu Ende geht. Dabei rekurriert der Film sowohl auf Schuberts bekannten Brief, in dem er um weitere Cooper-Übersetzungen zur Lektüre bittet, als auch auf seinen Antikatholizismus. Der Todkranke wird wegen seiner vehementen Ablehnung des zur letzten Ölung gerufenen, im Nebenzimmer wartenden Priesters von seinen Familienangehörigen buchstäblich niedergerungen & der religiösen Zwangsbehandlung ausgesetzt. Nach seinem Tod wird der Streit um die von ihm zu Lebzeiten an Freunde & Bekannte freigiebig verschenkten Kompositionen angedeutet.

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Das Porträt Franz Schuberts, das der 3teilige Film zeichnet, kreist um den unglücklich liebenden, unter erbärmlichen persönlichen Umständen in Wien lebenden & komponierenden Musiker im übermächtigen Schatten des allseits berühmten Ludwig van Beethoven. Unverkennbar geht es bei dieser biographistischen Beschwörung Schuberts um  (unterdrückte) Erotik & Sexualität als Seismographen des menschlichen Glücksverlangens im Leben des Musikers, in dessen Oeuvre Liebe, Liebesverlust & existentielle Einsamkeit eine große Rolle spielen – vor allem dort, wo er solitär war: als Komponist von über 600 Liedern & besonders der späten »Winterreise«.

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Was ist das Spezifische von Fritz Lehners dreiteiliger Evokation von Franz Schubert, seinen Lebens- & Sterbeumständen im Wien des Biedermeier – einer Zeit, die geistige & politische   Unterdrückung, bittere Armut & Libertinage hinter gesellschaftlicher Biederkeit verbarg?

Fritz Lehner gelingt es nahezu vollständig, die zwei prekären Klippen des Historischen Films zu umschiffen: weder ist »Mit meinen heißen Tränen« ein Kostümfilmspektakel, noch ein »Bio-picture«, das penibel die historisch-biographischen Fakten aus Schuberts Leben referiert & illustriert. Da Lehner (bis auf eine Stelle) sowohl den (auktorialen) Erzähler als auch den monologisierend-memorierenden Erzähler verschmäht (den z.B. Truffaut so sehr liebt), wählt der Österreicher gewissermaßen Flauberts personale Erzählweise.

D.h. hauptsächlich fokussiert sich der Film auf die Person Schubert & deren Sicht-& Erfahrungsweise, wenn auch, vor allem im 2.Teil es erzählerische Abschweifungen gibt, bei denen der sonst durchgängige Fokus auf Schubert vergessen scheint – dafür aber die soziale Breite, Vielfalt & Tiefe in der Darstellung der Biedermeierlichen österreichischen Gesellschaft. Wie überhaupt »Im Reich des Gartens« der ereignis-, personen- & ortwechselreichste Teil des davor & danach im Wesentlichen kammerspielhaften Films ist. Für Udo Samel ist das eine darstellerische tour-de-force-Leistung, vergleichbar Günther Lamprechts Biberkopf in Fassbinders »Berlin Alexanderplatz« oder Robert de Niros in Martin Scorses »Raging Bull«.

Lehner hat die narrativ-diskursive Seite der historischen Erzählung äußerst reduziert – die ja oft vornehmlich zur »Information« des Publikums ge- & vor allem missbraucht wird. Gespräche, Dialoge werden reduziert aufs unmittelbar & momentweise Notwendigste der alltäglichen Situationen. »Mit meinen heißen Tränen« ist derart weitgehend ein »Stummfilm«, was nicht heißt, dass er geräuscharm wäre. Ganz im Gegenteil. Die atmosphärische Dichte der filmischen Beschwörung entsteht aus einer Vielzahl von Alltagsgeräuschen. Sie »instrumentieren« die Bilder stärker als die bei einem Musiker nahe liegenden musikalischen Zitate.

Aber glücklicherweise verwendet Lehner, abgesehen von der »Unvollendeten«, zumeist weniger bekannte Musikzitate, die nicht als »typischer Schubert« sofort (wieder) erkennbar sind & sich vor Lehners naturalistisch intensiv entfaltete Schubert-Imagination schieben würden – wie das z.B. etwa beim »Forellenquintett«, dem »Lindenbaum« oder den »Impromptus« der Fall wäre.

Wenn (Udo Samels) Schubert am Klavier eines der traurigsten Lieder der »Winterreise« singt, wird allein dadurch die »poetische Schönheit der Kunst« auf die verzweifelte Prosa des elenden Lebens heruntergebrochen. Diese Engführung des gesangsfernen Schauspielers mit dem Kunstlied Schuberts, das hier gewissermaßen im literarischen Rohzustand erscheint, bringt die existenzielle Wucht zum Glühen, mit der Lehner von der herzzerreißenden Verlassenheit des sterbenden Komponisten erzählt.

Augen, Blicke & Gesten & das ganze Arsenal körpersprachlichen Ausdrucks erzählen weitgehend stumm von den geheimen Wünschen, Sehnsüchten  & den unterdrückten Leidenschaften der Menschen. Was die Kamera Gernot Rolls als versteckte, intime Zeichen registriert hatte, wird erst durch ein wahres Fest der Montagekunst zur Erzählung verdichtet. Die Montage enthüllt uns Zuschauern z.B. emotionale Korrespondenzen zwischen zwei Menschen, ohne dass die Personen um sie herum diese zarte Verbindung bemerken.

In einer anderen virtuos inszenierten Sequenz, bemerkt Schubert von einem Zimmer mit geschlossenem Fenster aus eine heftige Auseinandersetzung im Garten. Er hört kein Wort, sieht nur Gesten zwischen seinem gönnerhaften Freund von Schober & seiner eben erst gewonnenen Geliebten Magdalena, in deren Verlauf die junge Frau dem besten Freund Geld zurückgibt, das ihr von Schober zugesteckt worden war.. Bis zu diesem Augenblick hatten wir ebenso wenig wie Schubert einen Grund, an der Unschuld von Magdalenas Zuneigung zu zweifeln. Jetzt aber sind wir mit ihm misstrauisch geworden.

Die Kameraarbeit – ebenso wie Rolls pointierende Lichtsetzungen & sein Chiaroscuro in den Innenräumen – ist von elementarer Bedeutung für die permanente Atmosphäre der Enge, Unsicherheit & Unterdrückung, in der die Menschen auf engstem Raum leben. Als Zuschauer privilegiert einen die Flexibilität der Kamerapositionen, den Erlebnisraum des Komponisten nicht nur an seiner Seite emotional zu durchqueren, sondern auch Schubert als Person im Raum »erkennungsdienstlich« zu beobachten. Diese Gleichzeitigkeit von Nähe & Ferne, von menschlicher Kreatürlichkeit & künstlerischem Mysteriosum, von Darstellungskunst & emphatischer Identifikation Udo Samels mit Franz Schubert macht »Mit meinen heißen Tränen« zum filmischen Meisterwerk des Fritz Lehner.

Artikel online seit 08.04.21
 

 

 


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