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»Die Ursache bin ich«

Thomas Bernhard zum 90. Geburtstag

Von Lars Hartmann

 

Heute hat Thomas Bernhard seinen 90. Geburtstag. Er gehört für mich zu den Autoren, die mich und mein Lesen maßgeblich prägten – zusammen mit Flaubert, Kafka, Thomas Mann, Beckett, Benn, Celan, Jünger, Sartres »Der Ekel« und »Die Wörter« (auf keinen Fall seine Dramen!) und Brecht (nur manche seiner Dramen). Dieser aufsteigernde und zugleich retardierende, um sich kreisende, in sich kreisende, musikalische und verstörende Thomas-Bernhard-Sound, diese Art von Schreiben – man lese nur den Anfang der Erzählung »Gehen«, dann begreift man – hat mich bereits in den jungen Lesejahren ergriffen und fasziniert. Der Daseinsirrsinn, die Vergeblichkeit, die ungeheure Komik, die zugleich darin lag und auch die Kälte, bereits in manchem Titel: »Frost«, »Auslöschung«, »Die Kälte«; »Der Untergeher«. die Spät-Moderne als Gefrierschrank, darin auch die klassische Moderne irgendwie ein- und festgefroren ablagert.

Und vielleicht, weil ich dachte, man darf und kann es auch noch aufsteigern und im Ton noch irrer machen, haben mich dann Anfang und Mitte der 1980er Jahre auch die Prosa von Rainald Goetz fasziniert – von dem man leider inzwischen ebensowenig liest und hört: Sterne steigen und fallen. Da stand im Ton und im Gestus, wenn auch in anderer Weise, ein legitimer Nachfolger, der diese Art der alten Literatur, die Großkopfeten, der Schriftsteller als Zuständigkeitsbeamter für die gesamte Epoche, das Land und darüber hinaus den Erdkreis. Leitzordnerliteratur nannte Bernhard in einer Figurenrede in der »Auslöschung« einmal Thomas Mann.

Es gibt Bücher, die haben ihre Zeit. Das ist sicherlich auch bei Bernhard so – der große Kult der 1980er und auch 1990er Jahre ist vorüber. Keine deutsche Bühne, die Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre bis in die Mitte hinein nicht pro Saison  mindestens ein Bernhard-Stück gab. Die herrliche »Beton«-Lesung im Deutschen Schauspielhaus 1992 mit dem starken Peter Fitz, ein zweiter Bernhard Minetti. Oder »Der Theatermacher«, mit dem ebenso wunderbaren Ulrich Wildgruber in der Hauptrolle oder ebenfalls mit Peter Fitz dort »Die Macht der Gewohnheit«: »Morgen Augsburg«.

In einer seltsamen Analogie und als Beobachtung würde ich sagen: Mit dem Tod von Heiner Müller im Dezember 1995 verlosch auch die Bernhard-Euphorie zunehmend, der Betriebe switchte auf Goetz, auf Techno, auf den Kult des Augenblicks im Tanz-Club. Rave, Darkroom, Stroboskopblitze, Celebration, Celebrities, Abfall für alle: Die Musik der Sprache, von Bernhard zu Goetz, wandelte sich, wurde kruder, härter, schneller, gewann diesen Pop-Ton. Manchmal nervte es. Am meisten jedoch nervten jene Bernhard- und Götz-Jünger, die ihre imitatio christi taten. »Könnt ihr nicht einfach die Fresse halten!«, dachte ich oft. Aber es gehört eben diese ostentativ zur Schau gestellte Bewunderung zugleich zu dieser Jugend dazu, und mir sind jene Leute damals immer noch lieber als diese Gesellen heute vom Hohen Spatz der Identären, die Kunstwerke identitätspolitisch abklopfen.

Von Bernhard zumindest konnte man, wenn man wollte, das Verachten lernen und die Freude an der Bosheit gegenüber der sich einstellenden Borniertheit. Jede Literatur hat jedoch ihre Zeit und jene Bernhard-Feuer enthusiasmieren nicht mehr wirklich. Es war schön damals, nun ist es anders. Wir werden damit leben müssen – das eben ist die einzige Haltung, die man im Sinne Bernhards dazu einnehmen kann. Es gibt Literatur, die hat ihre Zeit und wirkt punktgenau in dieser bestimmten Phase und sie tut es vielleicht Jahrzehnte später wieder. Und ich denke, daß die Zeit Bernhards lange noch nicht vorüber ist. Es finden sich bei ihm Tendenzen, die auch heute wieder en vogue sind: vom autobiographischen Schreiben angefangen – man denke an seine Tetralogie (siehe sogleich unten) -, aber auch die politisch-unpolitische Kritik Bernhards an den politischen Verhältnissen. »Heldenplatz« Bernhards letztes Drama – ist ein Theaterstück, das in seinen Übertreibungsexzessen teils auch heute noch gut und passend ist.

»In diesem fürchterlichsten aller Staaten haben Sie ja nur die Wahl zwischen schwarzen und roten Schweinen
ein unerträglicher Gestank breitet sich aus von der Hofburg und vom Ballhausplatz und vom Parlament über dieses ganze verluderte und verkommene Land
ruft aus
Dieser kleine Staat ist ein großer Misthaufen« 

Es ist traurig und man muß doch lachen dabei. Nichts ist komischer als das Unglück, wie einmal ein anderer großer Dramatiker schrieb. Aber nicht nur das ist es. Ebenso, die große Melancholie des Rückkehrers, jenes Gelehrten, der eine Parodie auf einen Gelehrten zugleich ist:

»er wollte die Kindheit wiederhaben
Aber die Wiener waren nicht mehr so wie er sie in Erinnerung gehabt hat
die Österreicher waren nicht mehr so nichts war mehr so
Aber die Erinnerung täuscht immer
die Erinnerung ist immer ein total falsches Bild«

Was bleibt, ist vielmehr nichts. Und da muß man vorher das beste daraus machen. Dieses Bernhardsche Lachen dazu, etwa in seinen Mallorca-Monologen, wenn Bernhard von der Weltverfinsterung sprach und da in diesem herrlichen Café saß, das es in dieser Form nicht mehr gibt und das renoviert wurde und als Bernhard das erfuhr setzte er nie wieder einen Fuß in dieses Café in den Jahren, die ihm noch verblieben.

Ansonsten hier noch einmal mein Text, den ich bereits vor einem Jahr im Blog brachte, in Ermangelung an Zeit, keinen neuen schreiben zu können. Eine kleine Würdigung

                                     ***

Bernhard kam am 9. Februar 1931 in Heerlen (Holland) zur Welt. Von diesen frühen Jahre schreibt er in fünf, freilich schmalen Büchern. Fünf Romane, die zwischen 1975 und 1982 nicht bei Suhrkamp, sondern im Residenz Verlag erschienen, was Siegfried Unseld ärgerte: »Die Ursache. Eine Andeutung«, »Der Keller. Eine Entziehung«, »Der Atem. Eine Entscheidung«, »Die Kälte. Eine Isolation« und »Ein Kind«. Der letzte Text dieser autobiographisch geprägten Romane beschriebt von der Chronologie her den Anfang dieses Lebens, nämlich die Jahre der frühen Kindheit bis zum Eintritt ins Salzburger Internat, der dann in »Die Ursache« den Auftakt bildet. Eine Kreisbewegung vollzieht und vollendet sich.

»Mein Großvater griff sich an den Kopf und sagte: wie gut, daß es nicht Passau ist, daß ich Salzburg für Dich bestimmt habe.«

So der Schlußsatz von »Ein Kind«. Zum Ende des letzten, eigentlich harmonisch ausklingenden Teils wird der Leser jedoch wieder in die Verstörung geworfen, weil er nach der Lektüre des ersten Bandes »Die Ursache« inzwischen weiß, was in Salzburg geschah. Und insofern ist diese vermeintliche Harmonie umso perfider, weil wir an diesem Punkt der ausgehenden Kindheit und wo es dann ins Internat geht, schon genau wissen, was dann geschehen wird. Das Verstörende einer Existenz, die das Ende der Kindheit bedeutete, ist zum Beginn des Romans »Die Ursache« an eine Stadt gekoppelt und wird eins mit ihr: Salzburg. Salzburg bildet den Auftakt des Textes. Das fängt mit einer Zeitungsmeldung über das Bundesland Salzburg vom 6. Mai 1975 an, die – ganz vom Allgemeinen, dem Gesellschaftlichen herkommend – als Zitat voranstellt ist. Darin heißt es, daß Salzburg gegenüber allen übrigen österreichischen Bundesländern die höchste Selbstmordrate aufweise. Man dachte, es wäre Kärnten, aber tatsächlich ist es Salzburg. Das ist traurig und durch den konstruierten Kontrast witzig zugleich.

»Die Ursache« beginnt sodann mit furiosem Einsatz. Es prescht die Prosa durch, von der Konstruktion her taumelnd und atemlos gebaut – beim bekanntermaßen schlechten Wetter Salzburgs anfangend –, eine Kaskade, eine Tirade des begründeten Hasses auf diese Stadt und seine Menschen, ein Sprachstrom der Verzweiflung und der Aufwallung, welcher auf die Umstände und vor allem auf diese, so Bernhard, durch und durch katholische und nationalsozialistische Menschenvernichtung, die mit Salzburg, der Mozartstadt, und mit den Erinnerungen des Protagonisten verkoppelt ist, reflektiert: Die nationalsozialistische Erziehungsanstalt, in welche der Protagonist wie aus dem Nichts und für ihn völlig unbegreiflich 1943 hineingeworfen wurde, die dann nach 1945 mühelos zum katholischen Internat sich wendete. In diesem Sinne ist die Prosa Bernhards immer auch politisch.

Sieben Sätze über zwei Seiten! Es treibt sich in dieser Sprache vermittels des Stils eine Subjektivität als Furor voran und immer weiter und übers Weiter hinaus, und das eben meint etymologisch genommen das Wort »extrem«, wenn nicht extremistisch gar: die Art nämlich, wie sich diese Sprache geriert, ist das Äußerste, und sie weist auf dieses. Aber sie bleibt darin nicht stehen und pocht nicht auf ihre Unmittelbarkeit in Wahrnehmungs- und Wut-Exzessen. In ihrem Extrem bringt die Sprache Bernhards es ebenso gesellschaftlich auf den Punkt, zeichnet das politische Milieu dieser Zeit. In der maßlosen Übertreibung dieser ungehemmten Subjektivität liegt die Wahrheit, denn die Begebenheiten sind maßlos – die Wahrheit jenes durch und durch verlogenen, katholischen, nationalsozialistischen Österreich, das durch diesen in den Augen des Erzählers faschistischen Mechanismus eben die Menschen bricht. Der nahtlose Übergang vom Nationalsozialistischen zum Katholischen. Dieses Zerbrechen geht soweit, daß die, welche nicht mitkommen, sich in den Tod stürzen, auf die asphaltierte Müllner Hauptstraße, die vom Protagonisten Selbstmörderstraße genannt wird.

Bernhards Literatur ist über die Jahrzehnte hinweg immer auch eine politische Prosa gewesen, – nur eben in der Weise, daß sie dies nicht im Engagement, sondern in einer kalkulierten Wut der Österreichbeschimpfung herausstieß – die schwarzen, wie auch die roten Schweine, die Korruption, die Cliquenwirtschaft, der Klüngel. Eine Wut, die aufs Politische unter dem Neigungswinkel der eigenen Existenz und damit von einem subjektiven Standpunkt her blickte. Oder aber als Gesellschaftsminiatur in »Der Stimmenimmitator«, wo im Stile von Zeitungsmeldungen absurde, klägliche wie auch entsetzliche oder einfach nur traurige Schicksale als Prosa-Miniatur erzählt werden.

Zum Anfang von »Die Ursache« ist da ein »Er«, auf das der Erzähler blickt, das beschrieben wird inmitten dieser Welt der Verzweiflung, eine Kindsverzweiflung, in die Welt des Internats hineingeschleudert,  wo eine Geistes- und Gemütszersetzung des Kindes, das sich gerade in dieser Phase in seiner Reifezeit bewegt, stattfindet. Diese Stadt ist in allen ihren Aspekten und Ausprägungen ein Todesort, in den der Heranwachsende, der 13-Jährige mit einem Male und unvermittelt gestoßen wird. Und im Fluß der Sprache gerät dieses Er, das da rückblickend in der Außenperspektive der abgelebten und doch fortwirkenden Vergangenheit gesehen wird, zum Ich; es reflektiert in sich hinein und zieht das Geschehene im Akt des Erinnerns hervor. Es sind diese Sätze samt der anfänglichen Distanzierung, die nicht »Ich« schreiben kann, zugleich eine furchtbare, aber notwendige Vergewisserung des Selbst, der eigenen Existenz, der Künstlerexistenz, welche am Ende und im Gang der Reflexionen und Spiegelungen die einzig mögliche ist. Annäherung durch Abspaltung der subjekteigenen Teile. Intuitiv ahnte der 13-Jährige dies bereits. Kunst ist Entfremdung, sich fremd werden, um sich näher zu kommen oder auch, um Schreckliches zu schauen. Kunst ist ein Integral. In diesem Sinne ist die Autobiographie ein für den Schriftsteller wesentliches Genre.

Schon dem Jugendlichen bot diese Kunst den einzigen Ort des Rückzugs. Exemplarisch wird dies an der widerwärtigen Schuhkammer des Internats vorgeführt, die der Zögling zum Geigespielen und -üben zugewiesen bekommt. Diese Kammer ist – ganz objektiv – ein Selbstmord-Ort, ein Verzweiflungsort und zugleich das Gegenteil davon und eben auch eine Metapher, in ihr durchdringen sich reale Zustände und ins Übertragene gewendete Bilder. Diese Kammer ist der Ort, wo in der äußersten physischen Enge sich das Vergessen des Daseins in der Musik einstellt, dieses Schopenhauersche Motiv seiner Kunstmetaphysik: wenn das Subjekt (realiter in extremer Enge) aus sich heraustritt, sich aus der Welt der Vorstellungen entläßt – und es hat insofern seine Gründe, weshalb Schopenhauer, neben Novalis, einer der für Bernhard so bedeutsamen Philosophen ist. Wobei diese Philosophen und Philosophien bei Bernhard eher als Denkbewegungen stehen, die eine bestimmte Art des Bernhardschen Schreibens und Denkens illustrieren sollen, und so stehen diese Namen zugleich als Stellvertreter. Sie sind Metaphern.

In jener Kammer zumindest geschieht solch eine Art von Transsubstantiation. Kunst ist Entfremdung, Verfremdung und Rettungsort in einem. Im Erzählen distanzieren wir und werden frei. Aber Kunst ist nicht einfach nur solche Ich-Therapie, denn dann wäre jede Autobiographie auf ihre Weise irgendwie gleichgut. Das ist aber nicht der Fall.

»Die Schuhkammer ist mit hunderten von schweißausschwitzenden Zöglingsschuhen in morschen Holzregalen angefüllt und hat nur eine knapp unter der Decke durch die Mauer geschlagene Fensteröffnung, durch welche aber nur die schlechte Küchenluft hereinkommt. In der Schuhkammer ist er allein mit sich selbst und allein mit seinem Selbstmorddenken, das gleichzeitig mit dem Geigenüben einsetzt. So ist ihm der Eintritt in diese Schuhkammer, die zweifellos der fürchterlichste Raum im ganzen Internat ist, Zuflucht zu sich selbst, unter dem Vorwand, Geige zu üben, und er übt so laut Geige in der Schuhkammer, daß er selbst während des Geigenübens ununterbrochen fürchtete, die Schuhkammer müsse in jedem Augenblick explodieren, unter dem ihm leicht und auf das virtuoseste, wenn auch nicht exaktesten kommende Geigenspiel geht er gänzlich in seinem Selbstmorddenken auf, in welchem er schon vor dem Eintritt in das Internat geschult gewesen war, denn er war in dem Zusammenleben mit seinem Großvater die ganze Kindheit vorher durch die Schule der Spekulation mit dem Selbstmord gegangen.« (Bernhard, Die Ursache)

Spekulatives Denken als Form der Phantasie gerät – fast antiidealistisch – zur Verzweiflungstat, weil die Augenblicke der Wirklichkeit entstellt und deformiert sind. Die Musik wird dem Zögling zum Mittel des Rückzugs, frühreifer ästhetischer Eskapismus, der noch nicht weiß, was er ist und wohin es ihn treibt. Durch die Musik gelingt es diesem Ich, sich abzusondern – von den Mitschülern, von der Welt. Diese Kammer dient ihm zur einzigen Fluchtmöglichkeit, wie es einige Zeilen später heißt. Diese Kammer ist nicht einfach nur Kammer, sondern sie transformiert sich zum Ort der Verdichtung, der Auflösung, des Seinsgewinns. Was im ausströmenden Klavierspielen des Hanno Buddenbrook an jener berühmten Stelle des Buches noch den Orgasmus evozierte, so daß sich Musik(-Spiel) und Sexualität verbanden, wird hier zum Spiel mit und zugleich gegen den Tod. Aber es heißt im Französischen die Umschreibung für den Orgasmus schließlich La petite mort, und das erotische Moment ist diesen musikalischen Todesmomenten der Entrücktheit nicht fern. Das Todesmotiv wird dann qua einer schrecklichen Erkrankung bei Protagonisten auch im weiteren Lauf der Zeit eine wesentliche Rolle spielen. Doch zunächst ist diese Schuhkammer ein Raum der Engführung, einer Verklammerung von Selbstreflexion, Todesmotiv und Musik:

»Sein Eintritt in die Schuhkammer bedeutete gleichzeitiges Einsetzten seiner Selbstmordmeditation und das intensivere und immer noch intensivere Geigenspiel eine immer intensivere und immer noch intensivere Beschäftigung mit dem Selbstmord.«

Hier aber gerät die Kammer schließlich zur Rettung, weil sich eine Möglichkeit für den Zögling offenbarte, die stärker als jede Regung des beschädigten Lebens sich erweist: nämlich die Kunst. Diesen Weg zur Kunst und zum Subjekt, das seine Versehrtheit, die es erfuhr, jedoch niemals mehr verlieren kann, durchschreiten diese fünf Romane. Sie sind, um es ganz emphatisch zu schreiben, große Literatur und mehr als eine Autobiographie – die freilich, weil sie am Ende eben doch Literatur und als Literatur gewirkt ist, zugleich immer Fiktion bleiben muß. Und insofern gelten auch für solche Textformen der in den 1970er Jahren sich etablierenden Neuen Subjektivität, die einst antrat, um die gescheiterten Hoffnungen kämpferischer 68er ins Ich zu verlagern, die Kriterien für literarische Form und die Maßgaben für die ästhetisch gelungene Gestaltung des Inhalts. Die Autonomie der Kunst macht auch vorm Subjekt keinen Halt.

Der Literaturwissenschaftler Ralf Schnell schreibt in »Die Literatur der Bundesrepublik«:

»Salzburg bildet den Hintergrund dieses desaströsen Lebensberichtes aus der Feder, aus dem Denken, aus dem Empfinden eines Österreichers, der erst im letzten Band seiner Autobiographie Distanz zum eigenen Weg zu finden beginnt, einfacher, sachlicher, unprätentiöser schreibt, gleichsam im Grade einer versöhnlichen Besinnung auf die früheste Kindheit die späteren Obsessionen und Manierismen preisgebend. Denn dies ist zumal für die ersten drei Bände festzuhalten: Thomas Bernhards Besessenheit durch die einmal und grundlegend erfahrenen Erschütterungen reißt in seinem Werk wie ein Strudel das Treib- und Sperrgut österreichischer Ungleichzeitigkeit unablässig und in immer neuen Facetten in sich hinein, um es wieder herauszuschleudern und abzustoßen, um es abermals, verändert und verstört, aufzugreifen und umzuwälzen, ein Prozeß der gleichzeitigen Hervorbringung und Vernichtung von Erfahrung durch Sprache, ebenso obsessiv wie unabschließbar.«

Den ersten Satz kann ich so nicht teilen, sofern der Satz nicht nur deskriptiv, sondern als Wertung gedacht ist. Denn gerade in diesem Zorn, einer Thymos-Energie, deren Aufsteigerung als Haß Karl Heinz Bohrer kürzlich in einer Studie untersuchte (siehe meine Rezension hier), gerade in den Wucherungen und dem Wüten inmitten der Welt, in der Sprache sowie in der Gesellschaft liegt die Stärke insbesondere des ersten Bandes. Durch die hypotaktische Struktur der Bernhardschen Sätze mit diesen Kaskaden, den Aufsteigerungen und Wiederholungen, in denen Motive angespielt, abgebrochen, wieder neu durchgespielt werden, entsteht einerseits dieser Klang, jene Musikalität der Sprache, die dann in der späteren Prosa Bernhards sich erst zur Meisterschaft entfaltet (und leider eben auch einen oft imitierten Bernhard-Sound schuf, so daß sich die Prosa dann teils selbst persiflierte), und zugleich erzeugen diese Hypotaxen das Atemlose und Furiose. Es entsteht eine monologische und monadologische Struktur, ein innerer Monolog, wie ihn die ästhetische Moderne bisher nicht kannte, und zwar in bezug auf die Krankheit als konkretes Phänomen, das nicht bloß Thomas-Mannsche Metapher fürs Künstlertum bildet, sondern ganz real eine Krankheit als Lebensvernichtungsmöglichkeit zeigt. Todesform, Rausch, Musikalität, Emphase, Haß, Hinabziehen und Herausstoßen des Erfahrenen bilden eine Melange von ganz eigener Art und erzeugen so den typischen Stil Bernhards, nämlich eine reflektierte Wutprosa in Form eines Sich-frei-Schreibens im Thymos, die diesem ersten Band bereits zum Beginn seine Struktur gibt – eben das, was zuweilen jener grandiose Bernhard-Sound genannt wird.

Zorn und Verzweiflung des Protagonisten treiben sich in dieser Sprachaufwerfung ins Unermeßliche. Was einmal romantische Unendlichkeit war, wandelt sich zur unendlichen Wut am Immanenzzusammenhang. Ein Entrinnen gibt es nur in der künstlerischen Form, in der Formung und Durcharbeitung jener beschissenen Faktizität – indem es zur Schrift gerinnt, zur Literatur wird. Hier, im Schreiben findet sich der Rettungsort, die einzige Möglichkeit des Daseins, ja zuweilen erreicht der Protagonist dabei sogar eine Form von Ruhe, wenn man die späteren Bände dieser Autobiographie liest, darin ist Schnell rechtzugeben, um sie in späterer Prosa freilich in kunstvollere Bilder und Sätze der Unruhe zu treiben. Hyperbolische Texte: »Übertreibung« heißt das rhetorische Stilmittel. Die »Auslöschung«, Bernhards letzter Roman, entfaltet das in seiner vollendeten Weise. Ein Höhe- und leider auch Endpunkt, denn drei Jahre später verstarb Bernhard. Künstlerische Urszene aber bleibt diese Schuhkammer mitsamt dem, was sich darin abspielte – als Ort von Erfahrung. Und so bildet sich eine Korrespondenz von Sprache, Musik, Todesbewußtsein und Kunst. Samt dem Denken, sein eigenes Ich wegzuwerfen: »Die Ursache bin ich.« Tathandlung in jedem Falle.

Unbedingt muß man Bernhards fünf Romane zugleich als eine Reaktion auf die Literaturproduktion und die Tendenz dieser 70er Jahre lesen, welche für gewöhnlich unter dem Begriff der »Neuen Subjektivität« eingeordnet wird; jene oben beschriebene Literatur der Innerlichkeit, des Inwendigen, teils auch der Fluchten ins Private, der Selbstvergewisserung. Das reichte von der Knast- über die Arbeiter- bis hin zur Frauenliteratur. Im schlechtesten Falle entstanden grausliche Befindlichkeitstexte, für die einzig das Wort Empfindungskitsch zutrifft. Kulminierend in »Der Tod des Märchenprinzen«. Im besten Falle gelangen genaue Beobachtungen der Innenwelt, die zugleich eine Außenwelt darstellen – wie im Falle Bernhards.

Charakteristisch für die Literatur dieser Jahre ist – grosso modo – das autobiographische Schreiben: sei dies, um die besten des Faches zu nennen, Max Frisch mit seinen Tagebüchern und der Novelle »Montauk«, Walter Kempowskis »Tadellöser & Wolff« samt den daran anschließenden Romanen über die DDR und die Zeit im DDR-Knast, Günter Grass mit »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, vor allem aber Peter Handkes »Der kurze Brief zum langen Abschied« und »Wunschloses Unglück«.

Doch Bernhards Autobiographie weisen übers Faktuale hinaus. Innerhalb seines Werkes nehmen diese Texte eine Zwischenstellung ein. Die bereits in seinen früheren Romanen wie »Frost« und »Verstörung«  angespielten Motive wie das Spazierengehen, die grenzenlose Welt, die Kälte und die Daseinsverachtung, die (scheiternden, absurden) Geistesmenschen wie in »Beton«, die nie abschließbare, nie abgeschlossene Geistesarbeit, diese Menschen der Kunst und der Philosophie treten in der Autobiographie verdichtet und verändert wieder auf, und es stellt sich damit zugleich durch diese Neujustierung in der Autobiographie für die in den 80er folgenden späte Dichtung Bernhards ein Wandel in der Durchführung dieser Motive ein. Es wird heiterer, es wird entspannter. Eine Art Lust am Untergang. So wie Bernhard in seinen Mallorca-Interviews (zu sehen auf der Suhrkamp-DVD »Die Ursache bin ich«) mit einem Lächeln und dem Schalk im Auge Untergang, Unglück und Verzweiflung des Menschenlebens beschreibt.

Der Klang und der Rhythmus änderten sich in dieser späteren Prosa gegenüber dem Ton, der das Frühwerk durchzog, die Sprache fuhr eine neue Richtung. Die hypotaktische Struktur verband sich mit dem Iterativen und Ausufernden. Bernhards Prosa lebt von der spielerischen, durchgespielten Wiederholung, die als Inszenierung auftritt. Deshalb eben ist Bernhard zugleich ein großartiger Dialog- und Theaterschriftsteller. Zu mutmaßen freilich, es ginge in seinen Romanen und Theaterstücken nun heiterer zu als vormals, wäre sicherlich übertrieben, aber das ironischem witzige Moment, die Gebrochenheit auch der Tragik sowie eine Form von zynisch bis ironischer Gelassenheit gewinnt mehr Raum, seine Figuren sind tragische Komödianten bzw. komödiantische Tragiker. Ich schrieb es an anderer Stelle schon einmal: Auch für Bernhards Figuren, insbesondere die seiner Theaterstücke, trifft der Satz Becketts aus dem Endspiel zu, daß nichts komischer als das Unglück sei.

Die monadologisch-monologische Verfaßtheit des Subjekts tritt in diesem Spiel der Bernhardschen Protagonisten jedoch nicht zurück, sondern sie verstärkt sich, und zwar gerade durch das Moment der Komik. Herrschte im »Endspiel« zwischen Ham und Clov bzw. Nell und Nagg noch das Moment von Kommunikation und – wenn auch nicht gelingender, aber doch versuchter – Intersubjektivität, so ist das bei Bernhard ausgeschaltet. Der Theatermacher betreibt sein ganz privates ureigenes Endspiel in jenem Gasthof in Utzbach mit dem Hitlerbild an der Wand, wo jenes Welttheaterstück – Theatrum mundi – aufgeführt werden soll: »Das Rad der Geschichte«, welches eine Menschheitskomödie ist und wohl nicht zufällig auch an das Rad des Ixion erinnert. Was bleibt, ist der Moment, wo auf der Bühne das Licht ausgeht, jegliches Licht, sogar das Notlicht im Theater, was seinerzeit einen kleinen Theaterskandal am Wiener Burgtheater auslöste, denn ein Notlicht muß im Theater nun einmal vorhanden sein und dem Zuschauer in der Katastrophe den Ausweg weisen. In den ach so geordnet-unordentlichen Verhältnissen muß es wenigstens das Notlicht noch geben.

Bernhard starb am 12. Februar 1989, drei Tage nach seinem 58. Geburtstag. Alt ist er also nicht geworden und er hatte in seinem Kampf gegen jene »Krankheit zum Tode« mit den Mitteln der Kunst recht. Lebte Bernhard länger, man könnte sich kaum vorstellen, was noch an Theaterstücken, Erzählungen oder Romanen käme. Andererseits will ich sein Frühwerk nicht geringschätzen – »Frost« und »Verstörung« etwa. Eine Freundin und ich hatten vor mehr als 25 Jahren darin die Strukturen einer »Dialektik der Aufklärung« ausgemacht.

Das zu rekonstruieren, bekomme ich leider nicht mehr hin. Und sowieso ist es nun an der Zeit den Text zu beenden. Es sind diese Gedanken bereits zu lange her und geschahen in einer Zeit, welche ich die wunderbaren Jahre nenne – eine Zeit, in der die Daseinsverfinsterung eigentlich ein Spiel war, während wir beim Rauchen unserer Zigaretten und beim Trinken des vielen Weines dachten, es wäre der große Ernst. Heute ist es anders herum.

Artikel online seit 09.02.21
 

Thomas Bernhard
Der Tod und die Maden

 


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