Glanz@Elend |
Blutige Ernte
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Seelenreinigende
Grundnahrungsmittel Die mit dieser Anormalität einhergehende Tristesse hält solange an, bis in das Haus der Kiesels ein Jungenamens Rudi Rettich zieht. Rettich ist von einer ähnlich seltsamen Unpässlichkeit geschlagen, denn er niest ohne jeden Anlass. Ob bei Auftritten mit seiner Violine, beim Versteckspiel oder im Schlaf – Rudi niest ununterbrochen. Wie sollte es anders sein, als das die beiden, von ihrem eigentlich kaum erwähnenswerten Schicksal geplagten Jungen eine Freundschaft gründen, wie sie reicher und intensiver nicht ausgestattet sein könnte und die aller Unwegbarkeiten des Lebens zum Trotz bis ins Erwachsenenalter anhält. Sempéphilosophiert in seiner Bildgeschichte „Benjamin Kiesel. Die Geschichte einer Freundschaft“ über die Tiefe wahrer Freundschaft und über die absurde Anormalität des Alltags angesichts einer kindlichen Normabweichung. Sempé ist eine feste Größe in der internationalen Cartoon-Szene. Der 1932 in Bordeaux geborene Zeichner versteht es nicht nur, amüsante Strips und Einzelbilder zu verfassen, sondern besitzt die außergewöhnliche Gabe, die komplexen Geschichten einfühlsamer und sensibler Charaktere aufs Papier zu bringen. Er öffnet mit den Schicksalen seiner Helden die Herzen und Seelen seiner Leser. Mit der Geschichte um Benjamin Kiesel legt der Diogenes-Verlag eine Text-Bild-Erzählung neu auf, die bereits 1971 unter dem Titel „Carlino Caramell“ erschien und seitdem Alt und Jung erfreut. In der Neuauflage hat der Herausgeber nun den Titel auf Wunsch Sempés an das französische Original angepasst, in dem der errötende Dreikäsehoch Marcellin Caillou heißt. Warum die Anpassung nur am Nachnamen (frz. Caillou – dt. kleines Steinchen, Kiesel) vollzogen wurde und Carlino statt zu Benjamin nicht zu Marcel wurde, weiß man wohl nur bei Diogenes. Letztlich scheint die Neubetitelung nur eine vermarktungspolitische Petitesse des Verlags zu sein, die dem Leser allerdings die Möglichkeit eröffnet, einen weiteren Schatz des französischen Melancholikers erneut zu lesen. Wie schon in den Abenteuern des kleinen Nick (in Zusammenarbeit mit dem Asterix-Texter René Goscinny), in der Erzählung des Herrn Sommer (gemeinsam mit „Das Parfüm“-Autor Patrick Süsskind), in der Geschichte des Fahrradhändlers Paul Tamburin oder in dem Rätsel um die Veränderung des Monsieur Lambert – die Texte in Sempé’s Werken sind kurz und knapp gehalten und auf das Notwendigste reduziert. Der besondere Zauber der Geschichten entsteigt den Zeichnungen des Franzosen. „Ich glaube, man erfaßt die Dinge erst, wenn man sie zeichnet“, so Sempé, der die Welt in Bilderordnet, um sie so besser zu verstehen. Dem Leser ermöglicht er das Verständnis dieser wohlbehüteten Welt der Nostalgie und Melancholie durch den Detailreichtumseiner liebevollen Zeichnungen. Wohlbehütet heißt an dieser Stelle keineswegs frei von Traurigkeit, doch ist die Traurigkeit in Sempé’s Bildgeschichten von einer Anmut, dass es fast schon wieder Freude macht, diese reine und unschuldige Empfindung derart neu zu entdecken. Sempé’s Neigung zum Melancholischen im harten und oft rücksichtslosen Alltag beweist die Cartoonsammlung „Für Romantiker“. In der kleinen, in der Rubrik „Diogenes Cartoon Classics“ erschienenen Auslese sind amüsante und nachdenkliche Zeichnungen des Franzosen versammelt, die die Erfolge, Hoffnungen und verzweifelten Momente des Romantikers in dem rauen und allzu oft rücksichtslosen Alltag unserer Gegenwart widerspiegeln. Sempé’s Romantik beschränkt sich dabei keineswegs auf die zweisamen Momente bei Kerzenschein. Es geht um die Erlösung von der inneren Einsamkeit, den Einklang mit sich selbst, um eine alles umspannende Zufriedenheit. Jeder Romantiker wird sich in einigen Zeichnungen Sempé’s wiedererkennen und so mancher angeblicher Nicht-Romantiker wird feststellen, dass in ihm ein größerer Träumer steckt, als er bisher dachte. Romantik, das macht Sempé deutlich, ist in jeder noch so absurden Situation möglich – man muss sie nur wollen.
Sempé’s Helden des Alltags haben es selten leicht, so dass ihnen die Sympathie
des Lesers geradewegs zufliegt. Sie haben mit dem Leben zu kämpfen und spiegeln
damit den Alltag des gemeinen Bürgers, dem es oft nicht anders geht und der
dabei den Blick auf die menschliche Komödie zuweilen verliert. Daher stellen die
Text-Bild-Erzählungen von Jean Jacques Sempé literarisch-bildliche
Grundnahrungsmittel dar, die den Einzelnen davor bewahren, an der Tragikomödie
des Lebens unterzugehen. Sempé ist ein Genuss und eine Wohltat für alle vom
Alltag geplagten Seelen.
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Jean Jacques Sempé
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