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Glanz&Elend
Literatur und Zeitkritik


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Artikel online seit 29.12.12

Ede aus Stuttgart

Die Street Art von
»Harry & Gelb«. Eine Spurensuche in memoriam Jörg Fauser

Von Joe Bauer

Es war kalt, und es regnete, als ich mich auf die Suche machte nach Spuren von Harry Gelb. Achtundzwanzig Jahre war es her, dass ich ihm zum letzten Mal begegnet war. Damals lebte er in Istanbul und hing an der Nadel. Man kann sagen, ich hatte Glück bei der Fahndung nach Harry Gelb. Innerhalb einer Stunde fand ich in einer langen Straße im Stuttgarter Westen drei Zeichen, die Harry Gelb an Hauswänden hinterlassen hatte. Freundlicherweise bringt er seine Botschaften in Augenhöhe an, das erleichtert die Schnüffelei ungemein.

Der Name Harry Gelb ist nicht unbekannt in der Stadt, nicht bei Menschen mit offenen Augen. Ich weiß nicht, wer sich dahinter verbirgt, und will es auch nicht wissen. Nicht jedes Geheimnis muss gelüftet werden. Eine Stadt braucht Geheimnisse. Rätsel, die den Menschen Freude machen.

Der Unsichtbare, der sich Harry Gelb nennt, hinterlässt an Hauswänden und anderen Mauern kleine Kunstwerke. Er arbeitet in der Stadtmitte, im Westen, im Osten. Bilder mit seinem Namen findet man aber auch in Frankreich, Singapur, auf der ganzen Welt. Die Kunstwerke in Stuttgart lassen darauf schließen, dass er mehrere handwerkliche Disziplinen beherrscht. Er ist kein üblicher Graffiti-Artist. HG befestigt steinerne Kacheln mit laminierten Fotos und signiert sie in einer feinen Handschrift. Manchmal liest man auch in Blockbuchstaben »Harry & Gelb«. HG ist Keramiker, Fotograf, Zeichner, Poet. Vielleicht ist Harry Gelb eine Frau. Vielleicht auch ein global vernetzter Stadtverschönerungs-Trupp.

Die Bilder, Kreationen der Street Art, der Straßenkunst, sind rechteckig, etwa zehn, zwölf Zentimeter breit, manchmal quadratisch. Ich habe am Tag nach meiner Entdeckungstour einen Ladenbesitzer in der Schwabstraße gefragt, ob er das schöne Relief an seiner Hauswand schon bemerkt habe. Auf dem steinern gerahmten Foto sind winzige Menschenfiguren in einer weiten, backsteinroten Steppe zu sehen, am Horizont blau-weiße Wolkengebilde. Nein, sagte der Ladenbesitzer und ging hinaus, um die Sache zu prüfen. Das Werk müsse brandneu sein. Vor zwei Wochen erst habe er Girlanden aufgehängt, da habe er nichts gesehen. Er versprach mir, Harry Gelbs Botschaft auf keinen Fall zu entfernen, jedenfalls solange kein Schnüffler vom Denkmalamt Einspruch erhebe. Ich fragte auch eine Geschäftsfrau, ob sie Harrys Hausschmuck neben ihrer Tür gesehen habe. Nein.

Ich weiß nicht, wie lange Harry Gelb schon auf Tour ist in der Stadt. In diesem Jahr hat man immer wieder von ihm gehört. Es musste allerdings Weihnachten werden, bis ich meine Regale durchsuchte, weil ich mir sicher war, Harry Gelb irgendwo zwischen zwei Buchdeckeln zu finden.

Harry Gelb, daran erinnerte ich mich, ist das Alter Ego von Jörg Fauser, einem großartigen Erzähler, Reportagenschreiber, Essayisten, Lyriker, Songtexter. Nach langer Suche fand ich im Regal Jörg Fausers Roman »Rohstoff«, 1984 erstmals bei Ullstein erschienen. Der Umschlag fehlte, der Rest ist gut erhalten. Die Geschichte beginnt 1968 in Istanbul. Harry Gelb, süchtig nach Rohopium, nach jedem Stoff, der sich auftreiben und in die Venen pumpen lässt, haust in der Dachbude eines heruntergekommenen Hotels. Er will einen Roman schreiben. Sein Zimmerpartner ist Ede. Im ersten Kapitel des Buchs erfährt man: »Ede war ein kräftiger Bursche aus Stuttgart, den seine Sucht allmählich von innen ausbrannte – der Knochenbau war immer noch stabil, aber alles Gewebe, Fett, Muskeln reduzierten sich auf das Notwendigste.«

Wie es der Teufel will, ist Stuttgart-Ede Maler. Künstler. »Das meiste Geld von dem, was wir gelegentlich machten, ging für Leinwand und Farben drauf. Ede hatte das, was man einen unverbrauchten Stil nennen könnte, er knallte seine Valeurs nur so auf die Leinwand, und nachdem er die abstrakte Anfangsphase hinter sich hatte, ging er zu Figuren und Landschaften über.«

Ede aus Stuttgart, heißt es weiter, malte umso farbenfroher, je düsterer seine Aussichten wurden. Und anscheinend kannte er seine alte Heimat. Als in Istanbul die Nachricht eintrifft, in den Straßen von Europa breche die Revolution aus, sagt Ede: »Glaub mir, ich kenn die, die jetzt Revolution machen. Das sind die Großschwätzer aus dem Club Voltaire. Bevor die in Stuttgart eine Revolution machen, hängen meine Bilder im Museum of Modern Art.«

Keine Ahnung, was aus Ede geworden ist. Er könnte noch leben und in den Straßen von Stuttgart Bilder mit Figuren und Landschaften und der Signatur Harry Gelbs hinterlassen. Egal. Ich bin dem unbekannten Künstler Harry Gelb sehr dankbar. Nicht nur, weil ich heute beim Herumgehen jede Hauswand absuche und mich über jeden Treffer diebisch freue. ­ Harry Gelb hat mich an Weihnachten dazu gebracht, zu Jörg Fausers Büchern zurückzukehren, zu diesen leidenschaftlichen, liebevollen, ironischen, wortschatzreichen, präzisen Texten. Vor drei Jahren ist sein Gesamtwerk bei Diogenes neu aufgelegt worden, und zum Glück habe ich was davon im Haus.

Ede aus Stuttgart hielt übrigens nicht viel vom Schreiben. »Ach, Schreiber«, sagt er in »Rohstoff«. Bei denen laufe alles nur übers Hirn. »Dagegen die Malerei – so direkt ist nicht mal die Musik.«

Der Schriftsteller Jörg Fauser wurde am 27. Juli 1987, in der Nacht nach seinem 43. Geburtstag, auf der A 94 bei München von einem Lastwagen erfasst. Er war sofort tot. Was er auf der Überholspur der Autobahn gesucht hatte, wurde nie geklärt. Näheres weiß vielleicht Ede aus Stuttgart.  

 
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