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Die Elefanten werden dankbar sein
Über Wahrheit in Zeiten der Lüge |
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I
II Die Wissenschaftler haben zwar Gewissheit, denn sie sind – rein subjektiv – zweifellos von einer Sache überzeugt, und dies ganz unabhängig davon, wie diese Überzeugung zustande kam: Sie halten ihre Deutung für wahr. Verschiedene Erfahrungshorizonte und soziokulturelle Einflüsse mögen dieses Fürwahrhalten bestärkt haben. Doch erst wenn subjektive Gewissheit Gründe für das eigene Überzeugtsein angeben kann und diese Gründe auch von anderen nachvollzogen und akzeptiert werden können, wird Gewissheit zu einem objektiv teilbaren Sachverhalt und als solcher zu einem wesentlichen Merkmal von Wissen. (Aber selbst dann ist nicht sicher, dass diese Gründe nicht auch blinde Flecken haben, die noch nicht erkannt sind.) Seit Niklas Luhmann wissen wir, dass wir alles, was wir wissen, aus den Medien wissen, die uns – heute mehr denn je – zugleich dieses Wissen vernebeln, weil sie uns ein Zuviel an Wissen präsentieren. Deshalb kommt es darauf an, subjektive Gewissheit am Anderen zu prüfen – durch sprachliche Mitteilung, Kommunikation, Argumentation. Dies bleibt bei den Wissenschaftlern im obigen Beispiel leider aus. Sie führen keinen wissenschaftlichen Diskurs, sondern sonnen sich selbstgerecht im eigenen Fürwahrhalten, ohne ihre Behauptungen, dass x = y sei, in irgendeiner Form zu verteidigen.
III Schauen wir nochmals auf die Gruppe der Wissenschaftler: Auch das Verhältnis der Wissenschaft zum Wissen ist durchaus ambivalent. Denn Wissenschaft braucht grundsätzlich das Nichtwissen und Ungewissheiten, um überhaupt die Arbeit aufnehmen zu können. Andererseits soll genau dieses Nichtwissen durch wissenschaftliche Forschung überwunden werden, wobei jede mühsam errungene Gewissheit wiederum neues Nichtwissen bzw. neue Ungewissheiten freisetzt und die Suche nach Antworten auf ungeklärte Sachverhalte von vorn beginnen lässt. Allerdings bedarf es immer auch bestimmter Gewissheiten, mit Hilfe derer die Suche nach Antworten begonnen werden kann: Wer absolut keine Gewissheiten besitzt, weiß nicht einmal mehr, wonach er eigentlich sucht. Wissen, das wir suchen, findet sich zwischen diesen beiden radikalen Positionen: Jener, die unreflektiert von der eigenen Meinung überzeugt ist und keine Begründung benötigt („Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“), und jener, die dauernd alles in Zweifel zieht („Lügenpresse“) ohne zu irgendeinem Ergebnis zu gelangen.
IV
Eine Folge ist
das, was Bernhard Pörksen die »große Gereiztheit« nennt: Das Denken im
Fettdruck, die Kommentare in Majuskeln, versetzt mit einer Unmenge
Ausrufezeichen und teils skurrilen Wahrheitsansprüchen. Frei erfundene Behauptungen werden als Nachrichten, als Wahrheiten, als neue Gewissheit präsentiert und erregen virtuelle Fieberschübe, die eine Sehnsucht nach verlorengegangener Gewissheit zum Ausdruck bringen. Wenn offenkundig falsche Behauptungen für wahr gehalten werden, hat das weitreichende Konsequenzen: politische Blasenbildungen und kollektiver Realitätsverlust: Die Aufmerksamkeit (getriggert durch Klickköder) übersteigt die Substanz der Angelegenheit. Der Elefant der Realität bläht sich zu einem riesigen Ballon auf und ein einziger Nadelstich bringt ihn zum Platzen. Übrig bleiben unzählige, simultan präsente Parallelöffentlichkeiten: Fernsehbilder, Nachrichtenticker, Mails, Facebook-News, Twitter- und Eilmeldungen. Es ist ein einziges diffuses Geraune ohne seriöse Belege.
V
Es geht
schließlich auch darum, ein Gespür für Relevanz und Nuancen zu entwickeln,
Informationen wieder zu gewichten, aufmerksam und konzentriert zu sein. Ein Sinn
für Angemessenheit, gepaart mit Reflexionsvermögen und Problembewusstsein sind
in diesem Zusammenhang entscheidende Aspekte der (Medien-)Bildung. Ergehen wir
uns aber nicht in Wahrheitsobsessionen. Man muss Ambivalenzen aushalten können!
VI Was also nottut ist eine Reflexion der eigenen Geltungsansprüche. Wir müssen Begründungen für unser Fürwahrhalten liefern können und zur Rechtfertigung bereit sein. Es gilt, Verantwortung für subjektive Urteile zu übernehmen, und zwar gegenüber den Anderen, die möglicherweise anderer Auffassung sind. Es geht also darum, Rede und Antwort zu stehen und sich zu rechtfertigen. Meinungen, Behauptungen sind wichtig, aber sie sind nicht hinreichend. Denn sie bilden noch kein Urteil und sind für Erkenntnisprozesse insofern nur von untergeordneter Bedeutung. Sie sind eine Vorstufe des Wissens. Erst Urteilsfähigkeit als der ureigene Sinn der Verantwortung, der autonomes, über den eigenen Tellerrand hinausschauendes menschliches Handeln impliziert, ist ein ernstzunehmender Kandidat sinngetränkter Wahrheitsansprüche. Diese Fähigkeit setzt voraus, dass jemand für sein Handeln (dies impliziert auch die Rede) sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber allen denkbaren Anderen Rechenschaft ablegen und Gründe seines Handelns angeben kann. Wer hierzu nicht bereit ist, verspielt die Chance, als Dialogpartner ernst genommen zu werden.
Und was ist am
Ende mit der Verantwortung des Publikums, der User, der Öffentlichkeit? Sie
besteht in kritischer Recherche, wohldosierter Skepsis, der Infragestellung des
Selbstverständlichen, der Diskursorientierung und der Fähigkeit, abzuwägen:
Konstruktive Kritik und Dialogbereitschaft – und die Elefanten werden dankbar
sein. |
Literaturhinweise |
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