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Angstobjekt oder
goldene Banane?
Von Wolfgang Bock |
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»Ich
sag', wer ich bin.« Am 8. März 2021, dem einhundertsten Weltfrauentag, zeigt der Fernsehsender 3Sat in seiner Kulturzeit exklusiv ein Interview mit der jungen Aktivistin Sophie Passmann. Sie wird als Autorin und Comedian vorgestellt und gibt ein paar Zeilen aus ihrem neuen Buch Komplett Gänsehaut zum Besten, was von der Moderatorin als Sternstunde neuer engagierter Literatur gefeiert wird.[1] Ihr Buch von 2019 dagegen heißt Weiße alte Männer. Und so erscheint es den Redakteur*innen als sinnvoll, in einem eingespielten Beitrag über die Transgender-Autorin Sasha Marianne Salzmann – »Wer sagt dir, wer du bist? Ich sag, wer ich bin, nicht mein Pass, noch nicht mal meine Eltern« – ein Interview mit Christoph Türcke zu zeigen. Der hat gerade ebenfalls ein Buch zu dem Thema verfasst. Was er sagt – »Wenn jeder Jugendliche durch den Hype, den das durch die sozialen Netzwerke erfährt, jetzt denkt, ich muss unbedingt mein Geschlecht wechseln, so ist das hochgefährlich« – wird in der allgemeinen Aufregung nicht gehört. Vielmehr wird sein Bild als eine Illustration für die Aussage: so nicht! instrumentalisiert. Dabei bestätigt ein solches Vorgehen alle seine Thesen. Nicht einmal sein Name scheint bei den Protagonist*innen im Studio hängengeblieben zu sein: »Solche Herren, wie im Beitrag eben …«, heißt es dazu. Werden nun, wo traditionell den Frauen der Name abhandenkommt, in den neu strukturierten Diskursen die Plätze getauscht? Führen nun Erregungsregime, neue Vorurteil- und Counter-Klischees Regie? Muss es wie beim Fußball immer Gewinner*innen und Verlierer*innen geben? Asymmetrische Komplementarität oder: Gender ist kein Sex
Es soll im Eifer des
Gefechts nicht naiv verkannt werden, dass der Antagonismus zwischen den
Geschlechtern eine wichtige taktische Rolle spielt. So entstand die
Frauenbewegung und so muss es auch weitergehen gegen die Versuche einer
erpressten Versöhnung eines Wolfgang Thierse, dem es um den Erhalt des Ganzen
und sei‘s nur der SPD geht, die darunter zerbricht. »Die Moden«, zitiert
Christoph Türcke Walter Benjamin aus dem Passagen-Werk, »sind die
geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge.« Und wer der Jugend die Zukunft
verstellt, soll sich nicht wundern, wenn die Signale auf eine Weise und an
Stellen herauskommen, die man sich nicht vorstellen kann oder möchte. Der Eigensinn der inneren und äußeren Natur
Da heißt es, genauer
hinzuschauen – und dass eben nicht nur beim Tunnelblick auf das Gendersternchen.
Der Leipziger Philosoph Christoph Türcke hat in den letzten Jahren eine
beeindruckende Reihe von Veröffentlichungen vorgelegt. Dazu gehören
Streitschriften über die Philosophie der Sensation, über den Traum und die
Psychoanalyse, eine kritische Theorie der Schrift, das neu organisierte
Dispositiv der Gefolgschaft in der digitalen Welt und einiges anderes. Türckes
Generalthema, auf das er immer wieder zurückkommt, ist die Angst und das
Heilige. So stehen für ihn am Anfang der Zivilisation keine Geräteherstellungen,
sondern das Opfer, das die zivilisatorischen Handlungen beschwören wollen und dessen
sie doch nicht habhaft werden können. Die Veranstaltung gleicht eher einem Tanz um eine
leere Mitte. Das gilt, zumal im Umgang mit der äußeren Natur, den Türcke im
ersten Teil seines Buches untersucht, bevor er sich der Genderfrage und
derjenigen nach der inneren Natur genauer zuwendet. Fortschritt und Rückschritt
Die entsprechende Kritik
hat auch bei Türcke vielfältige Wurzeln. Neben Immanuel Kant finden wir hier
Sigmund Freud, nach dem ein direkter Zugriff auf die Triebe selbst nicht möglich
sei; aber auch Max Horkheimer und Theodor Adorno und vor allem den Frankfurter
Sozialphilosophen Karl-Heinz Haag, der in seinem Buch Der Fortschritt in der
Philosophie die Gefahr des doppelten Rückfalls hinter die Errungenschaften
solchen philosophischen Fortschritts genau bezeichnet. Eine weitere Quelle
dieser Kritik, die Türcke zwar nicht nennt, die in seinem Ansatz aber permanent
anwesend ist, bildet der radikale dänische Protestant Søren Kierkegaard. Dessen
Konzept der Angst am Beginn jeglichen Zivilisationsprozesses hatte Anfang des
20. Jahrhunderts nicht allein zum protestantischen und philosophischen, sondern
auch zu einem jüdischen Expressionismus geführt.[3]
Damit ist Türckes Konstruktion mehr als nur verwandt. Identität ist Identitär
Regressiv ist für Türcke
dabei nicht so sehr das Ansinnen einer Neufassung der Welt, sondern vielmehr,
dass dieses unter dem Vorzeichen einer Identität passiert. Hier soll
etwas mit sich selbst identisch sein, auch wenn diese Identität dann divers
ausfällt. Identität aber ist eine Kategorie für Dreiecke und für eine Logik.
Schon Arthur Schopenhauer erläutert, dass eine Logik in einem Monolog greife,
für einen Dialog aber die Dialektik zuständig wäre – bei Schopenhauer freilich
in einer sophistischen Praxis, die ohne Wahrheit auskommt und dagegen auf
Geltung pocht. Der springende Punkt der Gender-Diskussion ist für Türcke daher
die Wahnidee eines Identitätskonzepts, das aufgestellt wird, um anschließend zu
versuchen, damit identisch zu sein. Türcke sieht hier einen Solipsismus am Werk,
das Ansinnen einer Kreation aus dem Nichts. Die hypostasierte Praxis der Selbstdefinition So geht es Türcke im Wesentlichen um die Tabus des identitären Denkens, dass in der Hypostasierung des Selbstsetzens nichts anderes mehr zulässt. Und wenn die Wirklichkeit sich sträubt, wird sie wie im Prokrustesbett ihrem idealistischen Konzept buchstäblich angepasst. Das Geschlecht ist vermeintlich vollständig sozial, aber immer noch muss dann die geschmähte biologische Sphäre herhalten, um diese Definition ganz wahrzumachen: Warum werden, fragt Türcke, Hormongaben verabreicht oder chirurgische Eingriffe auf einer Ebene der biologischen Natur als Mann oder Frau oder divers durchgeführt, die doch angeblich per se sozial konstruiert sei? Diese Tendenzen reihen sich unheilvoll in den Hang zum radikalen Konstruktivismus ein. Mit dem Verweis, dass das alles mit dem neoliberalen Kapitalismus vereinbar ist, fast Türcke seine Kritik darin zusammen, dass die Genderkritik mit ihrem Betroffenheits-Dispositiv die anderen politischen Diskurse ausblende: »Wer mit der Konstruktion, Umwandlung, Abgrenzung, Aufrechterhaltung seiner eigenen Geschlechtsidentität befasst ist, hat alle Hände voll zu tun und kaum noch einen Blick dafür, wie die umfassende Macht tickt, zu deren Konditionen alle Geschlechter sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Wenn diese Macht, der globale Kapitalismus, in ihren Hightech-Zentren gelernt hat, Geschlechtervielfalt zu propagieren, so deswegen, weil ihr alle Geschlechter egal sind. Arbeitskräfte nimmt sie vornehmlich unter dem geschlechtslosen Drang nach Kostenersparnis und wirtschaftlichem Wachstum wahr. Jede neue Maschine, die Arbeitskräfte ersetzt und den Grad von Naturbeherrschung erhöht, verheißt Wachstum, und jedes Wachstum ermöglicht wiederum technischen Fortschritt. Er macht Neues machbar. Das muß er freilich auch tun, sonst stagniert die Wachstumsschraube und mit ihr das ganze System. Je mehr aber machbar wird, desto notwendiger die Suggestion, daß über kurz oder lang alles machbar sein wird. Im Wachstumszwang steckt selbst schon die Doktrin des radikalen Konstruktivismus: Natur ist lediglich ein Konstrukt und im Prinzip unbegrenzt formbar. (S. 217)« Das ist unmittelbar nachvollziehbar. Wenn jetzt nur noch people of color über Rassismus reden dürfen, Juden über Antisemitismus und Menschen aus den Metropolen keine Holzperlenkette aus dem Senegal tragen dürfen, so ist das eine Spielart eines neuen kulturellen Rassismus, in wessen Namen auch immer. Jeder für sich und Gott gegen alle. Gegenthese: Of Gods and Monsters
Das ist die These, die
Türcke im ersten Teil seines Buches in einem luziden Diskurs zum Naturbegriff
entwickelt und im zweiten Teil dann zum Begriff Gender fortführt. Hier
zeigt er eine Herkunft des Begriffs aus dem amerikanischen Pragmatismus und
Behaviorismus und dem technischen Fortschritt der medizinischen Chirurgie und
Hormontherapie. Er stellt ihn in den Kontext seiner eigenen Arbeiten aus den
letzten 20 Jahren: Erregte Gesellschaft, Verlust der Reflexion auf die Angst als
Grundstock der Zivilisation, digitale Erregungsregime. Trouble mit dem Gender-trouble: Gender ist nicht Sexualität
Judith Butler will
aktuell mit ihrer Einladung zum Spiel der Umcodierung von Zeichen der
Männlichkeit und Weiblichkeit eine Re-Signifizierung und Re-Kontextualisierung
betreiben, eine Politik der sexuellen Diskontinuität. Das stößt bei Türcke mit
Recht auf Widerstand, der dagegen die Jahrmillionen der
Chromosomensatzentwicklung in der Evolution setzen will. Aber doch hat Judith
Butler auch recht: Bereits die Begrifflichkeit der Wissenschaft ist nicht
neutral, sondern von der Norm und ihrer Rückwärts- und Vorwärtsprojektion
getragen.
Die Naturwissenschaft
aber ist auch das Erzeugnis einer zweiten, sozialen Natur und sie unterliegt
damit gesellschaftlichen Veränderungen, die als Programm vorwärts oder rückwärts
in die Geschichte projiziert werden. Sie lässt sich so wenig von der Politik
trennen wie die Ökonomie. Das zeigt sich heute in der Pandemie umso mehr.
Historisch gewordene Natur ist – vor allen Dingen, wenn die Entwicklung weit vor
der geschichtlichen Zeit liegen soll – kein Argument, jedenfalls kein
hinreichendes. Notwendig, aber nicht hinreichend, urteilt die Aussagenlogik hier
nicht zu Unrecht. Wenn Christoph Türcke schreibt: »Die radikale Dekonstruktion
aller vorgegebenen Geschlechtsidentität mündet in eine hemmungslose (Selbst)
Schöpfungstheologie«[4]
– so provoziert das die Frage: Ja, aber was ist daran denn jetzt so schlimm? Wer
nicht aus der theologischen Welt stammt, den schreckt das weniger. In einer
säkularen Welt der Selbstbestimmung ist es sogar ein wichtiger Ausgangspunkt für
Souveränität und Autonomie als immanenter Ausdruck einer prinzipiell gebrochenen
Identität. Die erste Generation der Frankfurter Schule schreckte das auch
weniger. Die Lebensverlängerung mithilfe von Medizin oder der Lustgewinn
mithilfe von erotischen Techniken, ja der Ausdruck der Kunst gerade auf dem
höchsten Stand der Technik, lagen durchaus auch dann noch im Umkreis ihrer
Wünsche, wenn sie sich wie Adorno gegen die politische und ästhetische
Avantgarde positionierten.[5] Sympathy für the Devil
Huysmans dagegen ist
damit nicht allein. Er ist einer der Kronzeugen nicht nur von Michel
Houellebecqs Unterwerfung, sondern auch der Surrealisten. Diese zogen
sich in die Passagen zurück und rauchten, sie mieden die frische Luft und die
Sonne. Sieg über die Sonne lautet der Titel einer futuristischen
russischen Oper von 1913, die auch das Bauhaus inspirierte. Es ist diese
Art von hochambivalenter Provokation, zu der, wie Walter Benjamin genau
bemerkt, nicht nur bei dem Lyriker Baudelaire der Antisemitismus gehört. Wenn
man das Phänomen verstehen will, dann muss man unterscheiden: nicht zu
denunzieren ist daran der Impuls zur Souveränität, der freilich in einen
absoluten Voluntarismus übergeht. Dagegen ist es wichtig, das
Selbstbestimmungsrecht zu verstehen und den Impuls zur Autonomie aufzunehmen,
auch wenn er falsche Wege geht – theologisch ist das die Notwendigkeit des
Auszugs aus dem Paradies. Eine immanente Reformkritik und ein Trolltraum
Freilich gibt es daran
auch Kritik innerhalb des Diskurses. Michel Foucault beispielsweise befürwortet
eine Mikropolitik, er wehrte sich aber insgesamt sehr gegen
Reformbewegungen wie die in der Psychiatrie und des Gefängniswesens des 19.
Jahrhunderts. Die waren ihm noch verhasster als das Ancien Regime. Und in
der Tat sind Vergesellschaftungsformen wie »Gegen eine zu frühe Festlegung der
sexuellen Identität« auch hochgefährlich, wie Christoph Türcke richtig sagt:
nicht wegen der frühen Eindeutigkeit, sondern wegen des Gewichts, dass hier auf
eine vermeintliche Identität gelegt wird. Wandelbarkeit kommt in solchen
Definitionen gar nicht vor, die gesetzte Grenze bereits in der Setzung
überschritten. Darin sind die Dinge so stillgestellt, wie das Ziel fest vor
Augen ist. Darauf also weist Christoph Türcke in seiner Streitschrift richtig
hin. [1] Jahrhundert der Frauen; zuletzt aufgerufen am 7.4.2021. [2] Barbara Duden, Ivan Illich, Genus: Zu einer historischen Kritik der Gleichheit (1983), München: Beck 1995. [3] Vgl. Joanna Nowottny, »Kierkegaard ist ein Jude«. Jüdische Kierkegaard-Lektüren in Literatur und Philosophie, Göttingen: Wallstein 2018. [4] S. 215. [5] Im Gegenteil wird Ihnen das heute unter die Nase gerieben. Stewart Jeffreys Buch Grand Hotel Abgrund (Stuttgart: Klett Cotta 2018) lässt sich auf den Vorwurf reduzieren, dass Herbert Marcuse eine Art von Pornokönig gewesen sei. Im Übrigen ist das keine gute Gesellschaft für den Genderdiskurs: Bis auf wenige Frauen in der sogenannten zweiten Reihe (z.B. Gretel Adorno, Monika Plessmann, Hilde Weiß und Else Frenkel-Brunswik) und in der zweiten und dritten Generation (z.B. Silvia Bovenschen, Regina Becker-Schmidt, Barbara Sichtermann) bestand die Frankfurter Schule nur aus Männern. Das Busenattentat auf Adorno, an dessen Folgen er vermutlich gestorben ist, wurde nach einer anderen Vermutung durch seine Verführungsversuche von Angela Davis ausgelöst. Aber das ist eine andere Geschichte.
Artikel online seit 08.04.21 |
Christoph
Türcke
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